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Die Stille vor dem Sterben - Unheimliche Geschichten - Exklusive Leseprobe

LeseprobeDie Stille vor dem Sterben
Unheimliche Geschichten - Exklusive Leseprobe

Die Kinder im Keller
Du eilst einfach davon, an langen Gräberreihen entlang. Auch von Herrn Lohrs fünfzigjährigen Zwillingssöhnen hast du dich nicht verabschiedet, von überhaupt niemandem. Soll ein jeder nur vor seiner Tür kehren!, heißt es im Schwäbischen. Es interessiert dich nicht, was die anderen Trauergäste sagen oder denken könnten. Du gehörst ihnen, glauben sie, aber die Freiheit, kommentarlos zu gehen, die können sie dir nicht nehmen.


Die Stille vor dem SterbenDu bekreuzigst dich nur an der Gedenktafel zu Ehren der Zwangsarbeiter im Tausendjährigen Nazireich, das es tatsächlich auch hier im Filstal gab, zwölf Jahre lang; auch hier galt der widerwärtige Spruch Arbeit macht frei, möglicherweise jedoch mit einem zusätzlichen Wort versehen: gell.

Du warst kurz abgelenkt, aber auch, als du auf dem Parkplatz in deinen Wagen steigst, fühlst du dich noch beobachtet.

Und jetzt begehst du den letzten, den entscheidenden Fehler.

Du verlierst die Nerven, zum ersten Mal in deinem Leben, du willst nur noch weg von hier, du vergisst, wachsam zu sein, vorsichtig. Du vergewisserst dich nicht, wer dich jetzt noch anstarren könnte, aus dem Unsichtbaren heraus. Warum auch? Niemand ist dir gefolgt, menschenleer brütet der große, geteerte Parkplatz unter der Sonne.

Viel zu schnell fährst du davon.

Nicht nach Geislingen hinab und auf der B 10 nach Eisertingen zurück. Es ist 17 Uhr, dort unten staut sich jetzt der Feierabendverkehr. Die alte Landstraße rast du entlang, in engen Windungen durch tiefgrünes Zwielicht zwischen hohen Tannen Richtung Oberböhringen hinauf.

Atemlos lässt du das Seitenfenster auf der Beifahrerseite heruntersurren. Deine Haut juckt. Überall spürst du nun Blut. Es hört niemals auf, denkst du, das ist ihre Rache.

Zu viele Erinnerungen, Bilder des Bunkers und Herr Lohrs Geschwätz bringen deinen Kopf schier zum Platzen.

„Gell, Junge, du hast`s geahnt, immer“, hat er dir zugeraunt, gerade, als du ihm zum Abschied die Hand reichen wolltest. „Dass meine Lore dich gesehen hat. Damals, weißt schon. Wie du durch`s Klofenster reinschlüpfst ins Haus, und wie später dann dieser Bendler ums Haus geschlichen ist. Aber gell, das geht niemand was an, nur dich. Soll ein jeder nur vor seiner eigenen Haustür kehren, das hab ich meiner Lore klargestellt damals, an diesem Tag, ein für allemal – und gedankt hat sie`s mir mit zwei wohlgeratenen Söhnen, Gott hab sie selig. Keine Angst, Junge, und es gilt, solange ich lebe. Nur keine Angst, jeder vor seiner Haustür.“

Wieder hörst du dein Kind schreien, dann stöhnen, und redest dir ein, das ist nur der Fahrtwind, der ins Wageninnere schlägt.

Bestimmt, es muss der Wind sein, sagst du dir, tagsüber habe ich es doch noch nie gehört, tagsüber doch nicht.

Und mit den Windstößen breitet sich der Duft des Spätsommers aus, der Duft von abgeernteten mattgelben Feldern und matschigen Brombeeren. Das scheinbar endlos weite 18-Loch-Golfparadies in der Heidelandschaft bei Oberböhringen verrät sich dir nur durch das hoch umzäunte Clubhaus.

Hühner weichen gackernd vom Straßenrand zurück. Die wenigen Häuser, die an der Altenstädter Straße entlang gebaut sind, die Gärten, in einem liegt eine von Brennesseln überwucherte blaurote Kinderrutsche – seltsam zeitlos wirkt alles. Zweihundertfünfzig Menschen nur wohnen in diesem Ort, und plötzlich wärst du gern einer von ihnen. Fernab von allem, auf diesem Hochplateau, auf dem Tag und Nacht ein Wind bläst und alle Albträume davonträgt.

„An klaren Tagen muss man von hier oben doch bestimmt die Alpen sehen können“, sagt eine Männerstimme direkt an deinem Ohr.

Blanker Terror durchrast dich.

Im ersten Schock verreißt du das Lenkrad nach rechts, und aus purem Instinkt sofort wieder nach links. Bauminseln fliegen draußen vorbei, Waldstücke, in Dunst gehüllt, der Abend und die Nacht kommen früher hier oben.

Die Stimme, sie war keine Täuschung, oh nein.

Jetzt fühlst du dich nicht mehr nur beobachtet. Jetzt spürst du die Anwesenheit eines anderen Menschen, nein, zweier anderer Menschen, mit jeder Faser spürst du sie.

Hinter dir. Im Wagen.

Im Innenspiegel, verwackelt, ein blasses Kindergesicht. Kein Spuk. Das Gesicht eines Mädchens, tatsächlich. Lange zerzauste braune Haare, ein dunkles Brillengestell. Deshalb sieht sie älter aus, trotzdem kann sie höchstens sechzehn sein. In Mundhöhe ist ihr Kopf mit Klebeband umwickelt. Ihren Mund selbst kannst du nur erahnen, eine klaffende Mulde im Klebeband.

Ihr Stöhnen hörst du schon die ganze Zeit, nicht das deines Kindes.

Auch ihre Augen schreien.

Du kennst solche Augen, du hast sie schon gesehen, im Bunker. Unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, niemand könnte das in diesem Moment, in dieser ungeheuerlichen Situation. Dein Fuß rammt noch immer das Gaspedal ins Bodenblech, das Lenkrad reißt deine Hände hierhin und dorthin, wie Reisig kommen dir die Finger vor, sie könnten brechen, sollten sie das Lenkrad noch fester umkrampfen. Und ringsum, unaufhörlich, das Wimmern. Das Rattern, Schlagen, Holpern der Reifen.

Die Welt außerhalb der Wagenfenster explodiert in einer Farbe, die es unmöglich geben kann.

Dann ist die erste Schrecksekunde um, du schleuderst in deinem bockenden Wagen in einen Feldweg, gleich darauf dreht es dich auf einem weiten, steinigen Platz, ringsum kreisen hohe Bäume und Hecken. Faustgroße Schottersteine knallen wie Geschosse ans Bodenblech, Staubwolken und Laub wirbeln himmelhoch.

Stille. Seitwärts, Fahrertür voran, schwebt dein Wagen auf den gewaltigen Felsblock zu, der den bewaldeten Abhang sichert. Noch mehr Staub verschleiert alles.

„Sei still! Gottverdammt, halt`s Maul!“, hörst du dich das Mädchen anschreien.

Das Mädchen, sie trägt ein dunkles T-Shirt, sie versucht, sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz nach vorn zu drücken, aber sie findet keinen Halt, auch ihre Handgelenke sind mit Klebeband umwickelt. Gefesselt. Trotzdem will sie zu dir nach vorn. Ihr Wimmern verstummt nicht, im Gegenteil, es wird hysterischer. Mit gefesselten Händen schlägt sie auf dich ein.

Du kannst ihr nicht helfen, du kannst nicht denken, nicht planen, aber vor allem verstehst du nicht, was hier passiert.

Nur flüchtig siehst du den Mann im Innenspiegel. Oder ist es eine Frau? Beides ist möglich.

Ein verwackeltes, geschlechtsneutrales Gesicht, totenweiß geschminkt, selbst die Lippen und die Augenbrauen.

Ein Gesicht, wie vom Mehltau befallen.

Du vergisst es trotzdem im gleichen Moment, in dem du es siehst; nur ein bizarres graues Negativabbild glüht noch in dir nach.

Nicht ihr Gesicht, nicht das Gesicht der Frau, das Gesicht der Schmerzensgöttin, die du Mam nennen musstest.

Fast hättest du erleichtert aufgelacht. Aber noch immer nimmst du nur wahr, denkst du nur Belanglosigkeiten. Dass du bei dem Aufprall, gleich, wahrscheinlich stirbst, hilflos eingequetscht langsam verblutest, denkst du. Dass im Sommer dieser jetzt so entsetzlich menschenleere Parkplatz Oberböhringer Heide voller Leben ist; überall Autos und Menschen, Wanderer und lachende und lärmende Familien mit Grillkohle und Tiefkühltaschen unterwegs zu den gemauerten Feuerstellen oder zum Sportplatz auf der Lichtung im Wald; dazwischen übermutige Jugendliche, die irgendwo am westlichen Waldrand zelten, an der Wachholderheide, und höchstens mal schnell zu ihren Mofas laufen, um etwas Vergessenes zu holen, oder in den Wald, um sich zu küssen oder zu befummeln.

Aber jetzt ist niemand hier. Keine Zeugen. Niemand, der helfen könnte.

Vielleicht schreist du deshalb umso hysterischer.

„Was soll das? Wer sind Sie? Was wollen Sie? Und dieses Mädchen, warum -“

Noch mehr Belanglosigkeiten.

Eine Urgewalt drischt deinen Wagen meterweit von dem Felsblock zurück, der Airbag löst nicht aus, brausend kehren Geräusche in die Welt zurück, dein Schädel kracht gegen das Seitenfenster, gegen den Wagenhimmel. Wie eine Lumpenpuppe wirft es dich im Sicherheitsgurt umher. Neben deinem linken Oberschenkel bläht sich quietschend die Türverkleidung nach innen. Du spürst eine Berührung, allerdings noch ferner als deine Gedanken.

„Bring uns nur nicht um den ganzen Spaß“, raunt die Männer- oder Frauenstimme hinter dir, immer noch tödlich ruhig. Seelenlos.

„Was?“, schreist du hustend und ruckst in deinem Sitz herum; Staub wogt durch das geöffnete Seitenfenster in den Wagen, deine weit aufgerissenen Augen, deinen Mund. 

„Du hast mich schon verstanden.“

Grob wird das Mädchen von dir weg und zurückgerissen. Der Mann, es muss ein Mann sein, er schleudert sie gegen die hintere rechte Wagentür, will ihren Widerstand brechen, beugt sich hinüber, öffnet, stößt sie hinaus.

Wie ein Käfer landet sie im Freien auf den Schottersteinen, auf Händen und Knien, benommen vor Schmerz. Modisch elegante Hose, elegante schwarze Schuhe. Fassungslos starrst du. Das Mädchen versucht wegzukommen. Ihre Brille schlägt auf dem Boden auf und bleibt heil. Überdeutlich siehst du alles.

Der Schatten des Mannes geistert darüber hinweg. Er ist ebenfalls draußen, er ist hinter ihr, über ihr.

Er hat ein Messer. Lang, breite Klinge.

Und jetzt schreist du nur noch ohne Worte, aber es bricht den Bann, mit der Schulter wirfst du dich gegen die Fahrertür, willst sie aufstoßen, willst - 

Ein blechernes Knarren. Keinen Millimeter bewegt sich die Tür.

Verkantet. Durch den Aufprall.

Keuchend ziehst du dich bereits auf den Beifahrersitz hinüber.

Keine Chance, du wirst nicht mehr rechtzeitig kommen, die Zeit läuft wieder gegen dich, sie läuft schon dein ganzes Leben gegen dich. Draußen beugt sich der Mann, ist es wirklich ein Mann?, über das Mädchen. Wie von Sinnen zerrst du an deinem Sicherheitsgurt, aber deine Finger, deine schweißnassen Finger, sie rutschen am Gurtverschluss ab.

Kein Klicken. Der Gurt surrt nicht nach oben, stattdessen reißt es dich von der Tür zurück.

Draußen zerrt das Etwas das Mädchen hoch, dreht sich mit ihr zu dir herum. Ihn kannst und willst du nicht sehen, er ist nicht wichtig, nur das Mädchen; wie sie sich vor ihm in seinem Griff windet, wie ihr T-Shirt zerreißt. Darunter gebräunte Haut, ein paar Sommersprossen.

Nein, du kannst nicht denken, nicht planen, du verstehst nicht, was hier geschieht, oder warum. Um dich her – nur dein eigenes Keuchen. Aber deine Finger haben endlich den Verschluss des Sicherheitsgurts gefunden, mit der geballten Faust schlägst du darauf ein. Ein Surren, jetzt bist du frei. Später weißt du nicht mehr, wie du über die Mittelkonsole auf den Beifahrersitz hinüber gelangt bist, die Beifahrertür aufgestoßen hast.

Der Mann stößt dem Mädchen das Messer in den Bauch und reißt die Klinge nach oben, du hörst es, du siehst es. Er sticht  beiläufig zu, so, wie die Schmerzensgöttin früher deine Hasen geschlachtet hat. Genauso beiläufig stößt er sie von sich, gegen die offene hintere Wagentür, er ist noch nicht fertig mit ihr, er spielt mit ihr.

Die Fingernägel des Mädchens kratzen über das Wagendach.

Den Kopf nach hinten gedreht, verrenkt, die Hand an der auffliegenden Tür, erstarrst du, siehst nur den Oberkörper des Mädchens, diesen heftig pumpenden Brustkorb, die herausquellenden Eingeweide. Das T-Shirt ist voller Blut. So viel Blut. Deine Haut juckt wieder.

„Was?!“, brüllst du. Immer wieder nur „Was?“

Das Radio läuft, du musst es eingeschaltet haben, vorhin, als du blindlings hinübergekrabbelt bist. Deine Stimme überschlägt sich, wie die eines Tollwütigen. Kopfüber fällst du aus dem Wagen, endlich, und wieder zurück in die Realität.

Das Etwas, es bewegt sich so unfassbar schnell, etwas Verwischtes, Irreales, mehr ist es nicht in deinen Augen. Mit einer herrischen Geste befiehlt es dir, zu Stein zu werden.

Du stöhnst nur auf.

„Es ist notwendig, und du warst endlich unvorsichtig.“ Seine Stimme klingt ernst, traurig, feierlich, hochzufrieden, alles gleichzeitig. Hoch über dir schwebt es. „Dein Wagen war nicht abgeschlossen, verstehst du? Deine Schuld, deine große Schuld.“

Du versuchst dich an der Tür hochzuziehen, schüttelst die ganze Zeit den Kopf, du musst hochkommen, dein Atem ist nur noch ein Zischen, du willst dem Mädchen helfen, immer noch, egal wie, irgendwie muss es gehen. Dabei fällt dein Blick auf die Schuhe des Mörders.

Frauenschuhe, Stöckelschuhe, spitz zulaufend.

Wie soll man darin laufen können, als Mann?, durchzuckt es dich. Und dann noch in dieser Gegend, nur Wiesen, Felder, Wald, steile Wanderwege zurück ins Filstal hinab. Außerdem, bald ist es dunkel.

„Ich weiß, was du denkst“, sagt das Etwas, nein, der Mörder. „Warum passiert das ausgerechnet mir? Nach allem, was ich schon durchleiden musste?“ Er ahmt eine wehleidig jammernde, winselnde Kinderstimme nach – er fühlt sich dir überlegen, in diesem Moment ist er alles, was du nicht mehr bist. „Jetzt gehört sie dir. Für`s erste soll sie die Einzige sein“, sagt er, rätselhaft. Er ist vor dir in die Hocke gegangen, beugt sich vor, forscht in deinem Gesicht, wie ein Raubvogel aus Licht und Windstößen. „Ich kenne dich“, haucht er. „Ich weiß, wer du bist, ich weiß, was du nicht getan hast und wo du wohnst.“

Du willst auf ihn einschlagen, dich auf ihn werfen, ihm mit bloßen Zähnen die Kehle zerfleischen, aber du kannst es nicht, gar nichts mehr kannst du, du bist gelähmt vor Angst, wie damals, als Kind.

„Deine Schuld, deine große, große Schuld.“

Diesmal singt der Mörder es, mit einer hohen, schrillen Hexenstimme, und du schaust schluchzend weg; niemals könntest du seinem Blick standhalten – nicht jetzt, in dieser Verfassung.

Ersticktes Atmen, rasend schnell und gepresst. Neben dir, du kannst das Mädchen spüren. In sich zusammengesackt kauert sie dort am Boden, nur die offenstehende hintere Wagentür trennt euch voneinander. Diesmal schaffst du es, auf die Füße zu kommen. Plötzlich ist der Mörder kein mysthisches Wesen mehr, sondern nur noch ein Mensch, ein Wahnsinniger, allerdings weiterhin schnell.

Vielleicht tötet er nun auch dich. Er bewegt sich so geschmeidig, wie sich in solchen Schuhen eigentlich nur eine Frau bewegen kann.

Du willst das Geräusch des Zustechens nicht noch einmal hören, aber natürlich hörst du es.

Kein Eiszapfen. Wieder ist es scharf geschliffener Stahl, der in Fleisch fährt, tief hinein.

Keuchende Laute. Endlich bist du unterwegs, taumelnd. „Hör auf, hör auf, du!“, brüllst du und musst dich dabei an der Tür festhalten, so schwach bist du.

Aber da ist niemand mehr.

Kein Mann in Frauenschuhen, der vor deinen Augen ein junges  Mädchen abschlachtet. Keine weiße Fratze, die auf dich herabstarrt und dich allein mit ihrem Blick lähmt.

Nur das Mädchen, sie ist noch da. Ihre weit aufgerissenen Augen.

Kein Spuk, denkst du, zum zweiten Mal in wenigen Minuten.

Verzweifelt versucht sie, wieder in deinen Wagen hinein zu kommen. Die gefesselten Arme, Kopf, Oberkörper voran, hat sie sich bereits in den Fußraum vor dem Rücksitz gewunden, ihre Füße scharren mühselig über den Boden, stoßen Steine weg. Ihre Bewegungen sind schwach, aber noch immer kämpft sie.

Du stolperst zu ihr und bist froh, dass du ihre Augen nicht sehen musst, ständig hörst du dich „Das wollte ich nicht, damit habe ich nichts zu tun!“ keuchen.

Ohne nachzudenken schiebst und drückst du sie vollends in den Wagen.

Wir müssen weg von hier, hämmert es in deinem Schädel, wie in einer ungeheuerlichen Apparatur.

Wenigstens das ist dir klar, wenigstens so weit funktionierst du wieder. Du schlägst die Tür hinter ihr zu. Rechnest immer noch ständig mit einem Angriff. Der nicht erfolgt.

Der Mörder ist verschwunden, und du willst auch weg von hier, nur weg. Hilfe holen, redest du dir ein. Zitternd kletterst du zurück auf den Fahrersitz, klammerst dich am Lenkrad fest, horchst auf die Musik, auf das Atmen des Mädchens, hinter dir. Erbrichst dich in einem heißen Schwall gegen die staubige Windschutzscheibe, statt zu beobachten, wie und in welche Richtung der Mörder sich davonmacht.

Der Motor läuft noch, du kannst es kaum fassen.

Du gibst Gas, mit einem Satz rast der Wagen los. Nein, das stimmt nicht; der Wagen ruckelt nur. Einen der Reifen muss es zerrissen haben. Mit beiden Händen schlägst du auf das Lenkrad ein. Dann krabbelst, stößst, windest du dich zum zweiten Mal zur Beifahrertür hinüber; in letzter Sekunde denkst du an die Wagenschlüssel, reißt sie aus dem Zündschloss, taumelst hinaus in die Abenddämmerung und nach hinten. Als du das Ersatzrad aus dem Kofferraum wuchtest, fällt dir das Mädchen wieder ein, das verdammte Klebeband über ihrem klaffenden Mund.

„Sie bekommt keine Luft mehr, keine Luft“, plapperst du vor dich hin, mit deiner Kinderstimme; mit der Stimme, die die Schmerzensgöttin im Keller von dir hören wollte.

Alles verschwimmt, der Wald ringsum, Felsen, Gebüsch, Farben und Formen zerfließen und schlagen wie eine vernichtende Welle über dir zusammen. Aber du zerrst das Klebeband vom Mund des Mädchens und bis zum Kinn hinab, sie soll nicht ersticken, bitte nicht. Es tut ihr weh, wie ein Tier im Fangeisen stiert sie, und sie hechelt und weint. Laut, viel zu laut. Du lässt sie allein, es muss sein, du musst das Rad wechseln, auch du hechelst, du hörst deinen Herzschlag, schnell, aber er wird immer langsamer, weil du dich immer schneller bewegst.

Weil du wieder du selber wirst.

Du arbeitest wie von Sinnen, aber du bist kein Automensch, außerdem zitterst du, allein die Radschrauben festzuziehen dauert eine Ewigkeit. Nur ein einziges Mal in deinem Leben hast du eigenhändig das Reserverad montiert. Dein Verstand ist Achterbahn gefahren, seit Jahren schon, immer schneller. Irgendwann war der Abgrund nicht mehr dort draußen, sondern in dir, etwas Schreckliches, Zähnefletschendes. Und ausgerechnet heute, nach einer Beerdigung, nach Frau Lohrs Beerrdigung, wird dein Leben aus der Kurve geschleudert. Weit hinaus. In eine noch viel schrecklichere Leere.

Nein, das kannst du nicht zulassen.

Deshalb bewältigst du die ungewohnte Aufgabe. Du bist älter geworden, aber jetzt kämpfst du wieder.

Es wird dunkel, die Nacht kommt früh hier oben. Ein kühler Windstoß schreckt dich auf. Du bist fertig mit deiner Arbeit, das Rad ist ordentlich montiert. Du starrst auf das Messer mit der blutverschmierten Klinge, direkt vor dir liegt es, und du hebst es auf, wirfst es in den Fußraum vor dem Beifahrersitz. Dann die Brille des Mädchens, den Wagenheber, die Werkzeuge. Dann kletterst du wieder auf den Fahrersitz hinüber. Bisher hat die Brille des Mädchens keinen Kratzer abbekommen, nun zersplittern beide Gläser unter deinen Sohlen. Mit dem linken Unterarm wischst du die Scheibe sauber, verschmierst Gallenflüssigkeit; ignorierst den Gestank.

Dein Verstand rast. Hinter dir atmet stoßweise das Mädchen, nur das ist wichtig, nur das.

Du wirst den Mörder aufspüren, du wirst ihn aufspüren und bestrafen. Nicht jetzt, später. Wie Elektrizitiät spürst du das Leben wieder in dir summen. Du fährst los, du hörst das Mädchen atmen, noch ist es nicht zu spät. Du kuppelst, gibst Gas, die Reifen schleudern Steine davon, du rast zurück nach Geislingen.

Helfensteinklinik, denkst du und kannst die Krankenhausflure schon riechen. Fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten und du bist dort, mit dem Mädchen.

Und du denkst an den Mörder, unablässig.

Wo hat er das Mädchen entführt?, überlegst du. Wie hat er sie zum Friedhof Heiligenäcker geschafft? In seinem Wagen? Natürlich! Wenn, dann muss dieser Wagen noch dort stehen, nicht wahr?

Wenn, dann muss der Mörder in genau diesem Moment genau wie du unterwegs sein nach Geislingen hinunter, unterwegs zu diesem Friedhofsparkplatz.

Im Dunkeln.

Zu Fuß.

In Stöckelschuhen.

Sechs, acht Kilometer, bestimmt, quer durch den Wald bergab. Du begreifst, dass er unmöglich vor dir dort sein kann, nein, so schnell ist er nicht, kein menschliches Wesen könnte so schnell sein. Du lachst laut auf.

„Wir kriegen ihn“, schreist du zu dem Mädchen nach hinten, das immer noch atmet. Nur dieses Atmen, eine andere Antwort bekommst du nicht.

Ein einziges Mal kommt dir ein anderes Fahrzeug entgegen, ein Traktor, kurz bevor sich die Landstraße in engen Serpentinen wieder zur Fünftälerstadt Geislingen hinab windet. Die Schatten unter den Tannen haben sich tiefschwarz verfärbt, hier im Bergwald kriecht bereits die Kälte der Nacht aus moosigem Boden und grauen Felsspalten hervor. Du lässt das Fenster auf der Beifahrerseite hoch, noch immer atmest du nicht tief durch, kannst es nicht.

„Ich habe keine Angst vor dir“, schreist du, immer wieder.

Natürlich hast du keine Angst, alles wäre sinnlos, wenn du Angst hättest, das weißt du, natürlich weißt du das. Du redest dir ein, dass du dieses Mal auf alles gefasst sein wirst, auf alles. Wie früher, in der Zeit mit der Schmerzensgöttin; mit der Frau, die du Mam nennen musstest.

Ohne Licht fährst du, immer noch, und viel zu schnell. Es tut dir gut, Teil der Finsternis zu sein, selbst als du kurz an das mehltauweiße Gesicht des Mörders denken musst. Gleich darauf bleibt der Wald schon hinter dir zurück, ein dunkler Streifen im Außenspiegel, mehr ist er jetzt nicht mehr, und hier draußen glüht der Himmel wie nach einem blutroten Blitzschlag.

 Alles muss schnell gehen, jetzt. Du wirst den Mörder erwischen, diesmal wirst du ihn überrumpeln. Mitnehmen. In den Bunker, ins Haus deiner Eltern, es steht leer, es fault vor sich hin, es ist der einzig passende Ort.

Diesem Mörder wirst du die Augen ausstechen, ihm wirst du die Lippen zusammentackern. Ihn wirst du nicht so billig davonkommen lassen wie die Schmerzensgöttin.

Weit unter dir – Geislingen, hinter manchen Fenstern schimmert schon Licht. Du biegst nach links ab, dann bremst du, ganz behutsam, trotz des Schocks, der dich längst durchfährt. Obwohl die Welt vor deinen Augen flimmert, pechschwarz flimmert, wie alte Blutflecken, die man vor Scheu nur blinzelnd anstarrt. 

Kein Wagen.

Nirgends. Der Parkplatz vor dem Friedhof Heiligenäcker ist leer. Aber das Mädchen hinter dir, sie atmet noch, sie stöhnt „Mutti“, ganz leise, und du weißt, sie hat Schmerzen, du musst sie ins Krankenhaus fahren, unbedingt, du willst es, willst es wirklich.

Aber stattdessen denkt die Schmerzensgöttin in dir und für dich: Nur nicht wieder auffallen, nicht mit deiner Geschichte.

„Er kommt, bestimmt“, schreist du nach hinten und lässt den Motor laufen, damit das Atmen des Mädchens nicht immer noch lauter in deinen Ohren dröhnen kann. Du wagst es nicht, dich zu ihr umzudrehen. Im Radio wird I muaß die Stroßabah no kriaga gespielt - ein furchtbar hektisches Lied von Wolle Kriwanek, der schon vor Jahren verstorben ist. Und jetzt, endlich, schaltest du den Motor aus, das Radio aus, beruhigst du dich. Die Radiostimmen, die Lieder waren ohnehin nur eine Art Rauschen in deinem Kopf.

So endlos lange Jahre warst du so verbisssen darum bemüht, weit unter den Möglichkeiten deiner Intelligenz ein kleines Leben zu leben, einer unter vielen wolltest du sein, nur noch ein Gesicht in der Menge, unbedingt. Nie wieder auffallen. Nie wieder angestarrt werden. Und so viele Jahre hat es dich zermürbt, so zu vegetieren. Nach der schrecklichen Leere, ganz am Anfang, nach dem Sterbezimmer, schien es noch so einfach zu sein. Schule, Abitur, Studium, Beruf, Karriere, Geld – du hast viele Leben gelebt. Alles fiel dir leicht, und etwas Wichtiges fehlte dennoch ständig. Du hast es gespürt, da war diese ewige Sehnsucht - wonach allerdings, das hast du nie herausgefunden.

Rotgeränderte stahlblaue Wolken sind hinter dem fernen, im Nordwesten kaum zu erkennenden düsteren Hohenstaufen hervorgekrochen, verfärben sich dunkel und füllen gleich darauf den ganzen Himmel. Wie ein ungeheuerliches Gewicht drücken sie malmend auf deinen Wagen herab, den einzigen Wagen auf diesem weiten Parkplatz vor dem Friedhof, der bei Tag seinen Toten einen so herrlichen, weiten Blick über wunderschönes Land gestattet.

Dunst legt sich von draußen auf die Windschutzscheibe, erste Tröpfchen huschen wie kleine Lebewesen über die Scheibe nach unten, und du erzählst dem Mädchen davon, ganz sanft redest du jetzt mit ihr. Sie atmet viel zu schnell, ein immer hastiger werdendes schleimiges Röcheln. Du willst sie beruhigen. Du versprichst, sie nie wieder anzuschreien und lächelst dabei. Aber du drehst dich nicht zu ihr um. Natürlich nicht.

Es wird kalt im Wagen, merkst du es?

Du solltest den Motor wieder starten, die Standheizung hochdrehen. Du solltest das Mädchen in die Helfensteinklinik fahren.

Du kannst die Krankenhauskorridore doch schon riechen …
Die Stille vor dem Sterben
Die Stille vor dem Sterben
Unheimliche Geschichten

Exklusive Leseprobe für Zauberspiegel-Leser
Auszug aus der Geschichte „DIE KINDER IM KELLER“

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DIE STILLE VOR DEM STERBEN ist Bareschs erste Collection unheimlich-phantastischer Geschichten – unheimlich, phantastisch, verstörend, eiskalt – aber immer wahnsinnig spannend und packend geschrieben.

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