Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Brauchts das? - Eine Fahrt ins Blaue

Brauchts das?Eine Fahrt ins Blaue
 
Die Kamerafahrt als solche unterzog sich eigentlich nie einer evolutionären Entwicklung. Ihr erging es wie vielen anderen Techniken im Filmgeschäft auch, sie wurde nur verfeinert und verbessert.

Als der Pionier David Wark Griffith die Kamera ‚entfesselte‘ und Filmgeschichte mit seinen Werken schuf, da hatten andere schon lange vor ihm ihr Stativ auf die Ladefläche eines Trucks gestellt und waren neben einer Gruppe reitender Cowboys hergefahren.

Nein, erfunden hatte der gute Griffith sehr, sehr wenig. Aber dafür wusste er das Werkzeug richtig zu nutzen. Moralisch war seine GEBURT EINER NATION nicht vertretbar, aber was bei ihm die Kamera alles machte, muss man ihm noch heute neiden, weil es 1915 den Grundstein für die kommenden hundert Jahre Kino legte.

Damals, weit zurück, hatte man keine Zoom-Objektive, sondern nur Festbrennweiten vor dem Bildfenster. Allein deswegen musste man schon die gesamte Kamera bewegen, wollte man sich einem Objekt nähern oder davon entfernen. Als man dann viele Jahre nach Griffith das Vario-Objektiv (klingt viel intelligenter und wichtiger als Zoom) einführte, begeisterte man damit gerade mal den Hobby-Filmer. Der Profi hingegen konnte zwar schneller arbeiten, doch eine Fahrt oder Bewegung war damit lange nicht hinfällig geworden. Halt, der verständige Leser weiß natürlich, dass Zoom (mit Vario-Objektiv) und Fahrt vollkommen unterschiedliche Mechanismen sind. Der Zoom verändert nur die Einstellungsgröße, die Fahrt allerdings verändert die Perspektive.

Ganz kurzer, schneller Sprung nach 1959. Da bejubelt man Kameramann Irmin Roberts für die Erfindung des KONTRA-ZOOM, der Filmwelt auch bekannt als VERTIGO-EFFEKT. Die Kamera fährt auf das Gesicht von James Stewart zu, während der Zoom das Bild öffnet. Das bedeutet, dass Jimmys Gesicht unverändert in der Größe bleibt, während sich der gesamte Hintergrund verzerrt. Ohne das Andenken an Irmin Roberts demontieren zu wollen, gibt es denoch etwas zu bedenken: Doch es könnte sein, dass Ellis W. Carter diese Technik schon ein Jahr früher für seine Trickeffekte in DAS STEINERNE MONSTER verwendete. Carter wollte seinerzeit nicht ausplaudern, wie er die wachsenden Steine so beeindruckend abgelichtet hatte, und hielt auch Jahre später dicht. Am Enträtseln interessierte Kameraleute äußerten immer wieder die Vermutung, dass diese Trickeffekte mit dem CONTRA-ZOOM gemacht worden sein müssen. Bewiesen ist aber nichts, um das mal klar zu stellen.

Gone with the WindSprung zurück zu der Zeit, als die Dreharbeiten zu GONE WITH THE WIND im Januar 1939 begannen. Man hatte die Kamera längst auf einen Dolly gestellt, einen auf Schienen oder wahlweise auf Gummireifen fahrbaren Unterbau mit Stativaufsatz und zwei Sitzplätzen. Zwei Sitzplätze, weil der Regisseur immer gerne die Aktion von der Kamerachse aus sehen will und so neben dem Kameramann oder Kamera-Bediener Platz nehmen kann. Entfesselt, ganz im Sinne D. W. Griffiths‘, bot sich standardmäßig mittlerweile auch ein Kran an. Auch auf dem Kamerakran, der am hinteren Ende mit etlichen Gegengewichten die Waage hält, können zwei Personen inklusive Kamera nach oben befördert werden – oder von oben nach unten. Der Kamerakran ist zudem auf der Mittelsäule schwenkbar, was zum vertikalen Schwenk auch in der jeweiligen Höhe horizontale oder diagonale Bewegungen zulässt. Der besondere Clou bestand dann natürlich darin, den Kran auf einem Dolly fahrbar zu machen und somit sämtliche Bewegungsrichtungen möglich zu machen.

Da Produzent Selznick GONE WITH THE WIND zur Superlative erhoben hatte, scheute man nicht den größten Aufwand. Entnervt soll die gestresste Scarlett O’Hara aus dem improvisierten Lazarett ins Freie treten und die Zuschauer sollen Scarletts Entsetzen direkt vermittelt bekommen, die des unermesslichen Leids des Krieges gewahr wird. Die Kamera fährt zurück, zieht dabei langsam nach oben und gibt den Blick auf verletzte Soldaten frei, die am Boden liegen, weil im Inneren kein Platz mehr ist. Die Szenerie soll an Dramatik gewinnen, indem die Kamera immer höher steigt und immer mehr Verletzte preisgibt. Am Ende schiebt sich die zerschlissene Südstaatenflagge ins Bild, im Hintergrund hunderte am Boden liegende Statisten und eine umherirrende Scarlett.

Seinerzeit konnte ein Kamerakran eine Objektivhöhe von zirka acht Metern erreichen. Das Kamera-Team war sich aber einig, dass für den perfekten Bildausschnitt am Ende der Fahrt die Kamera ungefähr siebenundzwanzig Meter hoch sein müsste. Man wurde bei einer Baufirma fündig, deren Kran einen Ausleger von siebenundreißig Metern hatte. Dumm nur, dass die Vibrationen des Motors die extra dafür gebaute Kameraplattform so zum Wackeln brachte, dass das Bild unbrauchbar sein würde. Es wurde eine Betonrampe gebaut, die eine so geringe Neigung hatte, dass der Kran von selbst diese Rampe hinunterrollen konnte, ohne zu viel Schwung zu bekommen. Der Schuss funktionierte ganz im Sinne des Produzenten, was verwundert, denn derselbige gab seinem Team kurzentschlossen nur 18 Stunden Zeit für die Vorbereitungen. Und man muss sich mal vor Augen halten, was wohl so ein Baukran mit 37 Meter Ausleger für ein Gewicht hat.

Langer Tracking Shot für HBOs The WireDer Kameradolly wurde dank seiner zügigen Verbesserungen sehr schnell zum Stativ-Ersatz. Auch wenn keine Fahrt notwendig ist, kann man das Equipment sehr schnell ohne Anstrengung an seine nächste Position bewegen. Möglich wurden dadurch auch spontane Kamerabewegungen ohne größere Umbaumaßnahmen. Vorausgesetzt, der Boden war eben genug, eine holperfreie Fahrt zu gewähren. In unebenem Gelände darf der Bühnenbauer durchaus auch mal ordentlich schuften, weil für eine saubere Bildführung der Schienenunterbau absolut in der Waage sein muss. In der Regel haben einzelne Kameraschienen vier Querstreben und eine Länge von zwei Meter zwanzig. Wegen der hohen Gewichtsbelastung muss an acht Punkten pro Schiene sauber unterlegt werden.

Weg von den technischen Zahlen, hin zu den Jahreszahlen. Zum Beispiel als Orson Welles TOUCH OF EVIL drehte, im Jahr 1958. In die Geschichtsbücher ging TOUCH OF EVIL hauptsächlich wegen seiner 3,5-minütigen Eröffnungssequenz ein, die ohne Schnitt gedreht wurde und durch ein ganzes Grenzstädtchen führt. Am Boden entlang folgt die Kamera einem Bösen eine kleine Gasse entlang, wo er schließlich eine Bombe in einem Kofferraum deponiert und dann flüchtet, als das Besitzerpärchen kommt, welches mit dem Wagen wegfährt. Die Kamera steigt plötzlich in die Höhe, schwenkt mit und verfolgt den Wagen. Als der Wagen die Hauptstraße erreicht, beginnt die erhöhte Kamera vor dem Zielobjekt herzufahren, bewegt sich sogar schneller voraus und zeigt sehr viel von der nächtlichen Atmosphäre in dem kleinen Ort. An einer Kreuzung kommt neben dem Wagen der Held Vargas mit seiner weiblichen Begleitung hinzugelaufen. Durch die vielen Fußgänger kommt auch unser Wagen nicht schneller voran und beide Objekte unserer Begierde bewegen sich nebeneinander her. Die Kamera schwenkt wieder nach unten, als Vargas sowie der Fahrer des Bombentransporters an der Grenzstation ihre Pässe zeigen. Der Wagen fährt schließlich aus dem Bild, die Kamera folgt in Gesichtshöhe dem vertrauten Pärchen. Hier endet erstmal die bisher eindrucksvollste Kamerafahrt der Geschichte, bei der Philip H. Lathrop sehr geschickt die Kamera bediente. Und was nach dem ersten Schnitt passiert, sollte schleunigst im Kino nachgeholt werden. Viele Programmkinos haben immer wieder die restaurierte Fassung von 1998 auf dem Plan.

In der Neuzeit angekommen, tut sich heute alles etwas leichter. Der Kamerakran verfügt über einen sogenannten Remote-Kopf samt Videoausspielung. Der Kameramann muss also nicht mehr auf einer Plattform mit nach oben fahren, sondern schwenkt und bedient die Kamera per Fernsteuerung. Durch diese Gewichtseinsparung kann die Länge des Kranauslegers natürlich noch länger werden, weil vorher die Gesetze der Hebelwirkung immer einen Strich durch die Belastbarkeit des Materials machten. Zudem ermöglicht es die Technik heute auch, dass der Kranausleger wie ein Teleskop-Arm während der Bewegung mit ein- oder ausgefahren werden kann. Die Seite mit den Gegengewichten wird dabei automatisch in der Länge angepasst, weil der Kran stets die Waage halten muss.

Kurz noch mal zurück zu TOUCH OF EVIL, aber ins Jahr 1960. Alfred Hitchcock war von Welles Kamerafahrt so begeistert, dass er beschloss, für seinen nächsten Film PSYCHO einen noch längeren, spektakuläreren TRACKING SHOT zu inszenieren. Tracking Shot nennt man in der Branche nämlich das Begleiten eines aufzunehmenden Objekts durch die Kamera. Psycho sollte mit einem vierminütigen Flug über die Dächer von Phoenix/Arizona beginnen, der durch ein Hotelfenster geht und auf dem von Janet Leigh beräkelten Bett endet. Die Kameraaufhängung am Helikopter übertrug allerdings zu viel Flugvibration auf die Kamera, sodass das meiste Material zu verwackelt, also unbrauchbar wurde. Gus Van Sant vollbrachte in seinem PSYCHO-Remake den von Hitchcock angedachten Schuss. Aber für Helikopter gibt es ja auch mittlerweile Aufhängungen, die nach dem Prinzip einer Steadicam funktionieren.

Shing - Steadicam-TestDas bringt uns doch schon zu Garrett Brown, dem Kameramann, der Anfang der Siebziger die STEADICAM erfunden hat. Mit I geschrieben ist dieses Stativ als Marke geschützt. Nachahmer schreiben ihre Steadicam also mit Y. Die STEADYCAM ist eine dreißig Kilo schwere Apparatur aus Brust- und Rückenharnisch sowie einem mit Federn verspannten, mehrgliedrigen Arm, auf dem die Kamera auf einem sehr leichtläufigen Gelenk deponiert ist. Von der Spannplatte der Kamera führt eine mit Ausgleichsgewichten ausgestattete Säule nach unten. Als Ausgleichsgewicht dienen in den meisten Fällen der Kameraakku und der Monitor für den Kameramann. Ein Blick durch den Sucher der Kamera ist schließlich bei vielen und vor allem bei weitläufigen Bewegungen nicht möglich.

Garrett Browns Erfindung hat nicht alles, aber vieles verändert. Die Steadycam fängt mit ihrem Federmechanismus durch das Trägheitssystem selbst die schnellsten und holprigsten Gehversuche des Bedieners auf. Drei Filme entstanden 1976 zur selben Zeit, von denen jeder behauptet, der erste gewesen zu sein, der die STEADYCAM für einen Kinofilm einsetzte. Haskell Wexler hat jedenfalls für BOUND FOR GLORY – DIESES LAND IST MEIN LAND in der Kategorie der besten Kameraarbeit einen Oscar gewonnen. Auch Conrad L. Hall leistete im Umgang mit der Steadycam sehr gute Arbeit bei MARATHON MAN, allerdings nicht prämiert. Am auffallendsten war allerdings das, was James Crabe mit der Boxer-Ikone ROCKY anstellte. Auch ROCKY wurde nicht in der Kategorie des Bildes mit Preisen gewürdigt, aber allein die Trainingssequenz gilt als Paradebeispiel für den perfekten Umgang mit dieser neuesten Technik. Sie gipfelt in einer der meist zitierten Filmszenen überhaupt, als der Boxer die Stufen zum Philadelphia Museum of Art hinaufläuft und in seinem persönlichen Triumph von der Kamera umkreist wird. Man beachte bitte, dass Sylvester Stallone in dieser Sequenz nur sich selbst die Stufen hinaufschleppen musste, während der Kameramann dreißig Kilo Steadycam plus Kamera am Körper geschnallt hatte. Zeigt etwas Respekt, Leute!

Titanic - Stan Winston - Motion ControlDer Name John Whitney ist auch kein besonders bekannter. Doch John Whitney hat während der Dreharbeiten zu 2001: A SPACE ODYSSEY ein wenig mit alten Computern gebastelt und den Vorläufer von Motion-Control erfunden. MOTION-CONTROL kann über ein vollautomatisiertes Konstrukt aus Dolly und Stativ festgelegte Kamerabewegungen beliebig oft wiederholen. Das war für die Spezial-Effekte von SPACE ODYSSEY sehr hilfreich und als ausgereiftes System bei STAR WARS EPISODE IV nicht wegzudenken. Durch die immer wieder exakt gleichen Kamerabewegungen können verschiedene Objekte und Hintergründe getrennt voneinander gefilmt und in der Nachbearbeitung zusammengefügt werden.

John Dykstra konstruierte in engster Zusammenarbeit mit vielen anderen Experten der Effekte-Front ein perfekt funktionierendes Motion-Control-System. Dazu kam Dykstras extra für STAR WARS umgebaute VISTA-VISION Kamera, die sogenannte Dykstraflex, die wegen ihrer höheren Auflösung schärfere und kontrastreichere Bilder aufnahm. Ob Jerry Jeffress, Don Trumbull oder auch Dick Alexander, alles Namen, die bei INDUSTRIAL LIGHT & MAGIC später auftauchten. Doch John Dykstra selbst meinte dazu, dass sie mit Motion-Control damals keine Firma aufbauten, sondern eine Lösung für ihre Probleme schufen. Hand aufs Herz, ein poetischer Satz. Aber allen Gerüchten zum Trotz verwendeten die Problemlöser bei der ersten wirklichen Nutzung von MOTION-CONTROL bei STAR WARS EPISODE IV noch keine Computer. Der kam erst zwei Jahre danach.

Schließen wir heute einfach mal mit einem Gedicht. James Mason, der weltberühmte Schauspieler, dichtete es für seinen Regisseur Max Ophüls während der Dreharbeiten zu RECKLESS MOMENT – SCHWEIGEGELD FÜR LIEBESBRIEFE im Jahr 1949. Ophüls war ein Verehrer von langen und bewegten Kameraeinstellungen. Doch die Bosse von COLUMBIA drängten den Regisseur immer wieder zu kürzeren und feststehenden Takes.

James Mason:

 

I think I know the reason why
Producers tend to make him cry.
Inevitably they demand
Some stationary set-ups, and
A shot that does not call for tracks
Is agony for poor dear Max
Who, separated from his dolly,
Is wrapped in deepest melancholy.
Once, when they took away his crane,
I thought he'd never smile again.



Bildquelle: wordpress.com, HBO, Heyne, Digital Domain

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.