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Zwielicht 16 - Kurz und schmerzhaft

ZwielichtKurz und schmerzhaft
Zwielicht 16 - Ein Fest der Kurzgeschichte

Die neue Zwielichtausgabe ist für mich jedes Mal ein Höhepunkt im literarischen Jahr. Die Herausgeber Achim Hildebrand und Michael Schmidt legen immer einen interessanten Mix aus aktuellen deutschsprachigen Geschichten und Stories aus dem angloamerikanischen Bereich vor.

Dazu kommen noch Perlen aus der Vergangenheit.

Zwielicht 16Die Stories
Max P. Becker "Was auf seinem Date geschah"
Peter, ein Fan des Horrorfilms, freut sich auf sein nächstes Date. Das besondere daran ist, dass er Linda nicht im Internet, sondern im wahren Leben vor einem Café kennengelernt hat. Der Abend im Restaurant lässt sich gut an und er hat "Kribbeln im Bauch". Dann kommt sie auf die Idee noch etwas wirklich Verrücktes zu unternehmen und geht mit ihm auf den Friedhof.
Eine Geschichte, die vor allem sprachlich überzeugt.

John Lentsch "Abendmutter"
Lenchen und ihr kleiner Bruder Paul gehen am Fluß angeln. Dazu müssen sie durch ein kleines Waldstück. Am Fluß treffen sie auf eine alte Frau, die sie eindringlich warnt rechtzeitig vor Sonnenuntergang nach Hause zu gehen. Auch Tante Lene hat die Kinder davor gewarnt, dass nachts die Abendmutter umgeht und es auf Kinder abgesehen hat. Doch Lene ist trotzig und will nicht aufhören zu angeln.
Eine Geschichte wie eine Fabel mit viel altertümlicher Farbe.

David H. Keller "Es kommt"
Ein älterer Junggeselle lebt allein mit seinem Hund in der alten Mühle. Das Mühlwerk ist längst nicht mehr in Betrieb, weil alle Farmen im Tal aufgegeben worden sind. Eines Tages hört der Mann seltsame Geräusche, die aus dem Boden zu kommen scheinen.
Eine von Matthias Kaether übersetzte Storie aus dem Jahre 1929, die erstmals in Amazing erschienen ist. Man muss Kaether nicht folgen, wenn er im Vorwort Keller als "das größte Genie im Genre Horror zwischen H.P. Lovecraft und Stephen King" bezeichnet, aber diese Geschichte hat etwas.

Karin Reddemann "Achtzehn Augen"
Der einsame Engler lebt fürs Würfelspiel. Er spielt dabei quasi gegen sich selbst. Er stellt Aufgaben in den Raum und macht es vom Ausgang des nächsten Wurfes abhängig, ob er sie erfüllt. Eine Frau aus einer Illustrierten hat es ihm angetan und eines nachts würfelt er um ihr Leben. Die Würfel wollen ihren Tod.
Ein erschreckend realistisch wirkender Plot.

J.J. Connington "Abwehrmechanismus"
Es beginnt mit einer Begegnung im Zug. Zu seinem Missfallen bekommt ein Biologe einen Mitreisenden ins Abteil. Und dann stellt sich heraus, dass es sich um einen ehemaligen Kommilitonen handelt, der eine abstruse Geschichte über seinen Professor erzählt. Dieser ist vor einiger Zeit verschwunden, angeblich bei einem Bootsunglück. Tatsächlich hat der reiche Akademiker an einer intelligenten Maschine gearbeitet.
Eine von Matthias Kaether übersetzte Geschichte, die erstmals 1938 in England erschienen ist. Ein frühes Beispiel für die Beschäftigung mit künstlicher Intelligenz. Irgendwie merkt man, dass der Autor hauptsächlich als Kriminalschriftsteller gearbeitet hat.

Erik Hauser "Frau Strulle"
Eine Gruppe Jugendlicher feiert in einem zum Abriss vorgesehenen Haus. Sie nennen es das Hexenhaus. Leider muss einer der Jungen auf seine kleine Schwester aufpassen und hat sie deshalb einfach mitgenommen. Diese Nele findet vor dem Haus eine reichlich demolierte Puppe, die sie Frau Strulle nennt.
Eine nette Homage an "Chucky - die Mörderpuppe".

Dominik Grittner "Der kletternde Heinrich"
Die kleine Ellen ist nach dem Tod der Mutter oft allein in ihrem großen Haus. Der Vater ist häufig unterwegs bei anderen Frauen. Da trifft es sich gut, dass sie seit sie acht Jahre alt ist einen Geist, den Heinrich, als Freund gewonnen hat, den nur sie sehen kann. Alles kein Problem bis sie sich dann ein wenig in Rico aus dem Judoverein verguckt.
Stimmungsvoll mit unvorhersehbaren Wendungen, wenn auch nicht ganz logisch.

Arthur Machen "Der Rosengarten"
Eine Frau erfährt eine schwärmerische Liebe. Oder ist es mehr?
Eine Fragment aus dem Jahr 1924. Übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Frank Duwald.

Julia Annina Jorges "Im Bus"
Eine an Borderline leidende junge Frau betritt morgens den Bus, der sie zum Bahnhof bringen soll. Doch der Fahrer hält sich weder an Fahrplan noch Route. Die Frau beochbachtet die Handvoll Mitfahrer, die alle irgendwie merkwürdig sind und sich unangemessen verhalten. Mit der Zeit kommt sie sich vor wie auf einem Drogentrip und die Wirklichkeit verschwimmt.
Toll wie eine anfangs stinknormale Busfahrt langsam aber sicher zum Horrortrip gerät.

Maurice Level "Wer"
Ein Arzt begegnet einem Mann, den er zu kennen glaubt, der aber seinerseits kein Anzeichen für ein Wiedererkennen zeigt. Zufall oder steckt doch mehr dahinter?
Eine Geschichte aus Jahr 1913. Übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Jo Piccol.

Tobias Lagemann "Und Smyril sei dein Name"
Der Fischer Sigurd lebt auf den Orkneys. Seit der Ausweitung der isländischen und norwegischen Fischfangquoten muss er sich mit Transportaufträgen durchschlagen. Mit zusammengebissenen Zähnen geht er geht deshalb auch darauf ein, einen englischen Professor auf eine der Inseln zu bringen. Dieser Professor Moorfleet hat vor einiger Zeit an einer Grabung dort teilgenommen. Es ging um ein altes Grab. Für Sigurd ein klarer Fall von Störung der Totenruhe, für den Forscher eine wissenschaftliche Großtat. Als die beiden in einen Sturm geraten, setzt der Fischer alles daran, dem Akademiker Angst vor der Rache der Geister zu machen.
Viel Orkneyflair, etwas Seemannsgarn und ein Hauch von Schauergeschichte.

Algernon Blackwood "Die Flüsterer"
Der Schriftsteller Jones hat ein Problem. Ihm fällt es schwer bei seinen Kurzgeschichten konsequent beim Thema zu bleiben. Immer wieder hat er neue Inspirationen durch alltägliche Begegnungen und Erlebnisse. Er weiß um diese Schwäche und versucht ihr ein Schnippchen zu schlagen. Er mietet ein karges Zimmer, in dem er solange bleiben will, bis die Geschichte fertig ist. Doch es kommt ganz anders.
Die von Achim Hildebrand übersetzte Geschichte stammt aus dem Jahr 1921. Sie ist mäßig gruselig, liefert aber eingehende Einblicke in die Arbeitsweise von Schriftstellern.

Mary Ann Dark "Bande"
Esther liegt im Krankenhaus. Die schwer alkoholgeschädigte Patientin hört eines morgens die Stimme ihres Vaters. Dieser hat nach dem Tode seiner Frau die Kinder tyrannisiert. Nach und nach fallen Esther immer weitere Episoden aus dieser Zeit ein.
Ein deprimierender Einblick in das Leben eines Alkoholikers und seiner Familie. Hinter Mary Ann Dark verbirgt sich übrigens Marianne Labisch.

William Chambers Morrow "Eine Nacht mit dem Tod"
Ein Mann sitzt bei seinem sterbenskranken Freund. Er ist überzeugt davon, durch seine Anwesenheit den Tod fernzuhalten. In einer ruhigen Phase beginnt er mit der Niederschrift der Schilderung eines grausamen Lokomotivunfalls.
Eine Geschichte aus dem Jahre 1881. Übersetzt von Jo Piccol. Die überaus ausführlich geschilderten realistischen Folgen einer Verbrühung fallen auf.

J.H. Schneider "An der Ziegelsteinstraße"
Eine Geschichte über eine Zeitreise und die dramatischen Folgen. Eine Frau begibt sich an den Ort, an dem ihr Mann vor Jahren grausam totgeschlagen wurde. Obwohl sie weiß, dass sich die Vergangenheit nicht ändern lässt, bringt sie es nicht fertig einfach zuzusehen.
Eine neue interessannte Variation des an sich bekannten Zeitreiseparadoxons.

Christophe Nicolas "T-Shirts"
Ein zugelaufener Kater fängt eines Tages an zu reden. Er bringt den Besitzer dazu, die Welt mit völlig neuen Augen zu sehen. Dann verläßt ihn seine Frau.
Eine bitterböse Story!

Maurice Duclos "Der Monsterzüchter"
Der introvertierte Benny Parker wird betrunken gemacht und entdeckt in diesem Zustand unverhofft seinen Mut. Er schreckt nicht einmal davor zurück einen bekannten Wissenschaftler bei einem Vortrag zu widersprechen. Wieder nüchtern will er jetzt den Beweis für seine Aussagen antreten. Er beginnt mit der gezielten Bestrahlung und Züchtung von Einzellern. Die Versuchsobjekte werden nach und nach immer größer. Irgendwann gelingt einigen davon die Flucht. Bei ihrer ungeheuren Vermehrungsrate befürchtet Benny nichts weniger als den Untergang der Menschheit. Er flüchtet deshalb in die Einsamkeit der Berge.
Eine amüsante Geschichte aus Amazing Stories, die im Jahr 1938 erschienen ist. Übersetzt von Matthias Käther.

Ansgar Sadegi "Die Normalität der Hölle"
Reinhard, ein alter Mann, der mit seiner Tochter Brigitte zusammen wohnt, wird seit einiger Zeit immer wieder von Kopfschmerzen heimgesucht. Danach findet er sich in einer Welt wieder, in der normale Situationen mit Folterszenen, Mord, Hinrichtungen und Brutalität angereichert sind. Nach einiger Zeit kommt er dann irgendwo in der Stadt wieder zu sich. Meistens findet ihn seine Tochter dort. Eines Tages begegnet er in so einer Situation einem Teufel, der ihn vor eine fürchterliche Wahl stellt.
Eine wahrhaft teuflische Geschichte!

Bernd Jooß "Im Schützengraben"
Im Ersten Weltkrieg liegen sich englische und deutsche Soldaten im Schützengraben gegenüber. Die alltägliche Kriegshölle traumatisiert die Soldaten. Immer wieder drehen Männer durch. Doch dabei bleibt es nicht. Plötzlich hören alle eine Flüsterstimme.
Als ob das "normale" Kriegsgrauen nicht ausreicht, setzt Bernd Jooß noch einen drauf!

Die Artikel
Ralf Steinberg "Michael Marrak - Herr des Wandels"
Wer kennt nicht den "Kanon der mechanischen Seelen" (2017), der 2018 mit dem Seraph augezeichnet wurde? Ralf Steinberg beschreibt wie der Autor Michael Marrak aus Kurzgeschichten Novellen macht und oft aus den Novellen dann richtige Romane. Er informiert darüber hinaus über weitere Einzelheiten aus dem Schaffen des Grafikers und Schriftstellers.

Karin Reddemann "Mord auf dem Kiez, Schleim in Pennsylvania und Hexen in der Nachbarschaft"
Die Autorin unternimmt wieder ihre traditionelle Reise kreuz und quer durch die Welt des realen und des literarischen Horrors.  Diesmal geht es um drei Themen. Sie berichtet über den Hamburger Prostituiertenmörder Fritz Hanka. Außerdem widmet sie sich dem Film "The Blob" aus dem Jahre 1958, der mittlerweile Kultstatus genießt. Und last not least informiert sie über den modernen Hexenkult.

Meine Gedanken
Michael Schmidt und Achim Hildebrand servieren diesmal eine ungewöhnlich große Zahl von Geschichten. Das geht nur, weil sie meist sehr kurz sind. Neu ist, dass nicht nur einige ausgewählte "Klassiker" dabei sind, sondern gleich sieben Übersetzungen alter Geschichten - meist mit einordnendem Vorwort - vertreten sind. Etwas kürzer als gewohnt fällt dafür diesmal der Artikelbereich mit nur zwei Beiträgen aus. Das Ganze liest sich gut und spricht wieder eine große Bandbreite des Horrors an. Meine Empfehlung wieder einmal: unbedingt zugreifen!

Zwielicht 16
Achim Hildebrand/Michael Schmidt (Hrsg.)
Cover: Björn Ian Craig
340 Seiten
ISBN 9-798764-39230
EURO 14.-
Independently published 2021

Kommentare  

#1 mammut 2022-07-12 10:14
Vielen lieben Dank für die tolle Besprechung. Zwielicht 16 hat übrigens den Vincent Preis 2020/21 gewonnen:
vincent-preis.blogspot.com/2022/04/die-ergebnisse-des-vincent-preis-202021.html

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