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HORROR EXPERT 22 – Der Spiegel des Dionysos

Horror ExpertDer Spiegel des Dionysos

Erber und Luther – zwei Namen, die aus der Geschichte der phantastischen Literatur in Deutschland nicht wegzudenken sind und noch heute Anlass zur Kontroverse bieten. Die Reihe »Horror expert« war Vorreiter auf dem Taschenbuchmarkt und machte den interessierten Leser mit einem Genre bekannt, das hierzulande erst in den Anfängen steckte.

Das lohnt einen näheren Blick auf eine ziemlich in Vergessenheit geratene Reihe.

Der Spiegel des DionysosDer Spiegel des Dionysos
von Ralph Comer
Horror expert Nr. 22
Übersetzt von Hella Unruh
1972
Luther Verlag
Was passiert?
London. Swinging Sixties. Fotograf Lawson bittet seinen Freund Cullender, den Journalist des Unheimlichen, um Hilfe. Ein Bekannter aus der Fotobranche, Harry Eagar, hat seltsame Träume, die ihn in den Wahnsinn treiben. Er wird im Schlaf ins antike Rom versetzt, wo er sich als Gladiator in der Arena wiederfindet. Cullender ist fasziniert.

Sie stöbern den übernächtigten Eagar in einer Kneipe auf. Dabei hilft ihnen Isadora Martin, Eagars hübsche Nachbarin, die sich als seine Freundin bezeichnet. Sie ist ebenfalls Fotografin, ihre viel jüngere Schwester Ilse ist Teilzeitmodel. Aber Eagar fühlt sich von der aufdringlichen Isadora belästigt.

Er erzählt Cullender und Lawson, dass er in Köln war. Dort traf er sich mit Herrn Stuhler, einem Fabrikanten von Optikgeräten und Antiquitätenliebhaber. Er lernte auch Frau Stuhler kennen, die ihm das Dionysos-Mosaik zeigte. Und ihr Schlafzimmer. Herr Stuhler schwärmte beim gemeinsamen Essen über die Römer und ihre Gladiatorenkämpfe, bis es Eagar schwindelte.

Zurück in London überfielen Eagar dann die Träume. Sie sind so realistisch und ergeben eine fortlaufende Geschichte, in der er als Gladiator kämpfen soll. Im letzten Traum hatte er dann plötzlich seine Armbanduhr dabei.

Cullender hypnotisiert Eagar. Der schläft sofort ein, und Cullender und Lawson beobachten, wie die Uhr verschwindet. Im Traum in Rom erscheint die Uhr an Eagars Handgelenk. Sofort bezichtigt man ihn der Hexerei. Er will fliehen, wird aber von einem Hund angefallen. Mit einer Bisswunde wacht er auf.

Cullender bringt ihn ins Krankenhaus. Man beschließt, Eagar im nächsten Traum ein Hilfsmittel mitzugeben. Lawson kommt auf die verrückte Idee, ihm einen Raketenrucksack zur Flucht mitzugeben. Er hat so ein Ding gerade fotografiert und weiß, wo er es sich ausleihen kann. Im nächsten Traum nimmt Eagar den Raketenrucksack mit und flieht damit aus der Arena. In der Realität versucht Lawson das Ganze zu filmen. Das misslingt. Cullender theoretisiert, dass die Bisswunden vielleicht Stigmata durch die Geistreise sein könnten.

Als Cullender und Lawson Eagar nach Hause bringen, stürzt sich Isadora auf sie und macht ihnen schwere Vorwürfe. Eagar reißt die Geduld, und er wirft sie auf unschöne Weise raus. Danach kann er endlich durchschlafen. Als er sich am nächsten Tag mit Lawson treffen will, gerät er unter einen Lastwagen und stirbt.(Der Leser erfährt, dass sein Geist wieder nach Roman versetzt wurde und ihn ein Löwe anfällt.) Wie Lawson ist auch Isadora Zeuge des Unfalls, aber er lässt sie kalt.

Ein Jahr später läuft Lawson die hübsche Ilse wieder über den Weg. Er erfährt, dass die Familie aus der Schweiz kommt. Er verliebt sich in Ilse, die seine Gefühle erwidert. Isadora ist nicht begeistert von der Beziehung, aber das kümmert ihn nicht. Als Lawson den Auftrag erhält, Bilder beim Oktoberfest in München zu schießen, will er sie mitnehmen.

Da meldet sich Cullender. Er informiert ihn, dass er Lawson in einer von einem Hexenzirkel erzeugten Vision gesehen hat. Er vögelte gerade eine schöne Frau mit einem Muttermal an der Brust in einem Hotelzimmer. Davor zeigte die Vision den toten Eagar. Cullender glaubt, dass sein Freund in Gefahr ist. Lawson ist skeptisch, willigt aber ein, den Hexenzirkel zu besuchen. Diesmal klappt es nicht mit einer Vision, aber auf der Rückfahrt wird Lawsons Geist scheinbar in die Antike versetzt, wo er einem verstümmelten Monster begegnet. Der Hexenführer gibt ihm ein Schutzamulett mit. Lawson kommt ins Grübeln. War Eagars Tod doch kein Unfall?

Lawson reist mit Ilse nach Deutschland zum Oktoberfest. Im Hotel schlafen sie nach einem Streit das erste Mal zusammen. Zu seinem Unbehagen entdeckt Lawson, dass alles mit der Vision übereinstimmt – inklusive Muttermal.

In München eingetroffen wird das Paar im Hotel Garmisch bereits von Pressereferenten Otto Habicht erwartet, der sich als aufmerksamer Reiseführer entpuppt. Am nächsten Tag fotografiert Lawson einen Umzug. In der Menge entdeckt er ausgerechnet Isadora und landet prompt bei einem Sklavenzug. Nur mühsam findet er in die Gegenwart zurück. Ein anderer Pressefotograf hilft ihm auf die Beine; anscheinend war er umgekippt. Im Gespräch ergibt sich, dass das Oktoberfest gar keine Pressereferenten schickt. Lawson wird misstrauisch. Hieß nicht auch Eagars Deutscher mit Vornamen Otto? Er ruft Cullender in London an, der ihm eindringlich aufträgt, sich eine bestimmte Zahlenfolge zu merken, die ihm in Gefahr helfen soll.

Lawson trifft Ilse und Habicht auf dem Oktoberfest, macht seine Aufnahmen, wie der Oberbürgermeister das Fass ansticht, und wird dann von Ilse in eine Geisterbahn geschleppt. Plötzlich scheint er wieder in Rom zu sein, aber dann entpuppt sich der Legionär als Habichts Chauffeur. Lawson wird verschleppt.

Er findet sich in einer Art Filmstudio wieder. Habicht erklärt ihm den Plot. Er ist in Wahrheit Stuhler. Er hat eine Maschine entwickelt, die mittels Hypnose eine Art Wahrträume ins Gehirn projiziert. Das Rom der Träume ist in Wahrheit ein Filmschnipsel. Isadora und Ilse sind seine Frau und seine Tochter, die er hypnotisiert hat, damit sie spuren. Eagar hat die Pläne des Geräts gestohlen und Stuhler will sie zurück. Alles war nur ein Schwindel. Der Deutsche hat Lawson und Cullender ausspioniert und betrachtet sie als Gegner. Außerdem glaubt er, dass Lawson die Unterlagen hat. Aber der weiß von nichts. Nun soll er hypnotisiert zurück nach England und sich mit Cullender in einem Auto zu Tode fahren, damit Stuhlers Geheimnis bewahrt bleibt.

Lawson denkt an die Zahlenfolge und findet sich beim Hexenkreis in England wieder. Cullender hat seinen Astralleib zu sich gerufen. Man drückt Lawson eine Silberschüssel in die Hand. Es gelingt ihm, sie wieder mit zurück nach München zu nehmen. Die Schüssel wehrt die Strahlen der Hypnotisiermaschine ab und sorgt für Chaos. Der offenbar verletzte Stuhler ergreift die Flucht, Lawson verfolgt ihn quer durch die Stadt auf die Autobahn, wo Stuhler einen tödlichen Unfall erleidet.

Lawson fährt zurück, aber in dem Studio sind alle Spuren beseitigt. Ilse taucht auf, aber Lawson schickt sie in die Wüste. Er will nichts mehr von ihr wissen, auch wenn das Mädchen die meisten Ereignisse anscheinend vergessen hat. Am Ende muss sich Lawson vergewissern, dass Stuhler auch tatsächlich tot ist. Er fährt zurück und sieht, wie man das Autowrack mit dem Toten birgt.

Worum geht es?
Das ist nach "The Witchfinders" von 1968 der zweite Roman um das Duo Lawson und Cullender, auch wenn die Bezeichnung Team hier großzügig gewählt ist. Der Okkult-Experte und Hypnotiseur glänzt größtenteils durch Abwesenheit, und wenn er mal auftaucht, ist er der Erklärbär.

War der erste Roman von Ralph Comer letztlich eine okkulte Geschichte, ist es hier am Ende eine SF-Räuberpistole mit einer Prise ESP und Hexenkunst. Nicht Fisch und nicht Fleisch. In der Zusammenfassung klingt es vielleicht interessanter, als es sich liest.

Geschrieben ist das Ganze wie ein handfester Thriller. Nach dem gemächlichen Anfang geht es seitenweise um Land und Leute. Die Charaktere werden durchaus sorgfältig entwickelt. Und wie schon im ersten Roman gibt es kaum eine Seite ohne Fakten über dieses oder jenes. Aber es fällt schwer, die phantastischen Elemente ernstzunehmen. Spätestens nachdem unsere Helden Eagar den James-Bond-Raketenrucksack mit in den Schlaf geben, damit dieser in seiner vermeintlichen psychischen Zeitreise aus der Arena buchstäblich entfliegen kann, gewinnt der Hai die Olympiamedaille im Weitsprung. Ein echter Brüller.

Danach konzentriert sich die Handlung auf finstere Verschwörungen und Cullenders Wiccafreunde – die damals freilich noch nicht so genannt wurden – und die Deutschlandreise des Helden. Die Reisebeschreibungen von München und dem Oktoberfest sind allem Anschein nach sehr sorgfältig gehalten, auch wenn es Luthers Lektorat entgangen ist, dass der Oberbürgermeister das Oktoberfest im Schottenhammel eröffnet und nicht im Schottenhamel, wie es richtig heißen müsste. Offenbar kein Münchner in der Redaktion. Das Portrait der Deutschen ist relativ vielschichtig und fair gehalten, auch wenn Stuhler wie ein verrückter Nazi-Wissenschaftler rüberkommt, der er vermutlich wohl auch sein soll. (Wer weiß, was in der Übersetzung da mal wieder unter den Tisch gefallen ist. Einiges wirkt hier doch sehr widersprüchlich.) Sein Hypnosefernsehstrahler ist bestenfalls wirr, aber das gilt auch für seine Pläne. Wozu dieser superkomplizierte Aufwand, wo er doch Eagar genausogut hätte entführen und foltern können, um an seine gestohlenen Unterlagen zu kommen? Alles nimmt Monate in Anspruch, was die Dramatik untergräbt.

In diesem Roman bewegt sich der Autor deutlich auf James Bond-Territorium oder vielmehr beim Killmaster Nick Carter, wo die Logik nicht unbedingt zuhause ist und die Bösen die abstrusesten Wunderwaffen einsetzten. Wogegen ja im Prinzip nichts einzuwenden ist. Spy-Pulp kann sehr unterhaltsam sein.

Trotzdem. Als "unheimlicher" Roman ist es ein Rohrkrepierer, zumal die Phantastik ziemlicher Unfug ist. Drei Hexen und eine Astralreise machen noch lange keinen vernünftigen Okkult-Roman. Und Horrorelemente sucht man hier vergeblich. Es bleibt eine lahme Mad Scientist-Geschichte.

Der Spiegel des DionysosAber – und das muss man auch erwähnen – vom Erzählerischen ist es Grundsolide, was mehr ist, als man von so manchen anderem Unterhaltungsroman aus der Zeit sagen kann. Es hat viel Zeitkolorit, und die Schauplätze Köln und München dürften für die englischen Leser 1969 letztlich genauso exotisch gewesen sein wie Bangkog.

Auf der Habenseite ist zu vermerken, dass es der Verlag geschafft hat, die Reihenfolge der beiden Romane richtig hinzubekommen. Die Leseprobe ist erneut aus dem Terror-Krimi; anscheinend bestand kein großes Interesse mehr an der Vermarktung des Horror expert. Ob der überhaupt noch monatlich erschien zu der Zeit, können nur Zeitzeugen sagen.

Das Original
The Mirror of Dionysos
von Ralph Comer (Pseudonym von John Sanders)
187 Seiten
Tandem Books, 1969

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