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The Wheel of Time – Lord of Chaos

Robert Jordans Wheel Of TimeLord of Chaos
Ein Fantasyepos und sein Bezug zur Realität

So gut wie jedes Element eines Fantasyromans, angefangen von der Welt, in der die Handlung spielt, über die verschiedenen Storylines, die vor den Augen der Leser ablaufen, bis hin zu besonderen Fertigkeiten und Begabungen, die einzelne Charaktere gelegentlich an den Tag legen, all diese Aspekte sind letzten Endes einer einzigen Instanz geschuldet: der Fantasie des Autors.

Es ist daher legitim zu argumentieren, ein Fantasyroman bestünde durchweg aus phantastischen Elementen und habe nur insofern mit der Realität zu tun, als dass sein Verfasser hin und wieder Gegebenheiten, die er aus der realen Welt kennt, in die Story einfließen lässt.
Dem möchte ich nicht widersprechen.

Genauer gesagt: Dem kann ich nicht widersprechen. Es ist eine grundlegende Eigenart der fiktionalen Literatur, sich mit erfundenen Aspekten auseinanderzusetzen, mit Themen, Figuren und Begebenheiten, die eben erdacht sind und nicht der Realität entsprechen. Nichts anderes besagt der Begriff „Fiktion“ letztendlich. Für das Genre der Fantasy, in dessen Zentrum mystische, phantastische und märchenhafte Elemente stehen, gilt dies ganz besonders.

Und doch ist auch der ausgefallenste Fantasyroman bis zu einem gewissen Grad der Realität verhaftet. Dass ein Autor wirklich alles über Bord schmeißt, was er aus der wirklichen Welt kennt, das habe ich noch nie erlebt.

»The Wheel of Time« ist nun, aller phantastischen Inhalte zum Trotz, keiner dieser vollkommen ausgefallenen Fantasyromane. So fremd und fantasievoll die von Jordan geschaffene Geschichte auch anmuten mag, in vielerlei Hinsicht hat er sich Mühe gegeben, die Story und die Schauplätze, die Figuren und ihre Handlungen so realistisch wie möglich erscheinen zu lassen.

Im Folgenden möchte ich kurz auf den Realitätsbezug der großen Fantasysaga eingehen, oder, besser gesagt, auf die Bedeutung realer Begebenheiten für die Fantasyreihe. Jordans Epos hat der wirklichen Welt nämlich so manches zu verdanken, so phantastisch das, was er schlussendlich aus den realen Versatzstücken gemacht hat, auch erscheinen mag.

Zwei einleitende Anmerkungen seien mir noch erlaubt:

  1. Es geht mir in diesem Beitrag nicht um irgendwelche philosophischen, literaturwissenschaftlichen oder sonstigen Definitionen von „Realität“ und „Fiktion“. Auch Begrifflichkeiten wie „objektiv“, „subjektiv“ oder „Konstruktivismus“ stehen hier nicht zur Debatte. Ich bitte euch daher, euch nicht daran zu stören, dass ich Realität der Einfachheit halber als das auffasse, was wir mitunter als „Wirklichkeit“ bzw. „wirkliche Welt“ beschreiben, und „Fiktion“ als eine vom Autor erdachte Welt (samt allem, was dazu gehört).

  2. Die folgenden Betrachtungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich möchte nur an einigen ausgewählten Beispielen zeigen, wie sehr sich Jordan bei der Erschaffung seiner Geschichte an realen Vorbildern orientiert hat. Mit anderen Worten: Ich will zeigen, dass reale Begebenheiten auch für phantastische Welten von Bedeutung sind.

Soviel zur Vorrede. Kommen wir zum »Wheel of Time«. Beginnen möchte ich, wie gewohnt, mit der Vorstellung eines weiteren Buchs aus der Saga. Diesmal ist Band sechs an der Reihe: »Lord of Chaos«.


The Wheel of Time – Lord of Chaos»Lord of Chaos«

Asmodean, Lanfear, Rahvin – Rand, dem Wiedergeborenen Drachen, ist es gelungen, Ba'alzamon einiger seiner treuesten und mächtigsten Diener zu berauben. Doch der Schäfer der Nacht lässt sich von den Rückschlägen nicht beirren und verfolgt unablässig sein Ziel, dem Verlies am Shayol Ghul zu entkommen. Und so sehr Rand ihm auch Widerstand leistet, es gelingt ihm nicht, die voranschreitende Schwächung der Gefängnissiegel zu verhindern.

Rand ahnt, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis der Tag der Entscheidung gekommen ist und die Letzte Schlacht ihren Auftakt nimmt. Eigentlich müsste er all seine Kräfte darauf verwenden, sich auf die finale Auseinandersetzung vorzubereiten, doch die Umstände sprechen gegen ihn. Auch ohne die Probleme, die ihm die noch lebenden Forsaken bereiten, hat er mit genügend anderen Schwierigkeiten kämpfen: Seine Herrschaft über Andor steht auf wackeligen Füßen, die Aes Sedai machen ihm Sorgen, und sogar die Anhänger des Wiedergeborenen Drachen verursachen mehr als nur einmal Ärger.

Dann ist da noch Mazrim Taim, jener Mann, der ebenso wie Rand auf die Wahre Quelle zugreifen kann. Als er plötzlich vor Rand erscheint und ihm seine Gefolgschaft anbietet, steht dieser vor einer schwierigen Entscheidung: Vertraut er einem Mann, der einst von sich selbst behauptete, der Wiedergeborene Drache zu sein, oder betrachtet er ihn als Gegner, den er um jeden Preis ausschalten muss?

Doch so schwerwiegend all diese Probleme auch sein mögen, sie verblassen gegenüber dem Kampf, den Rand in seinem Innern ausfechten muss. Der Geist von Lews Therin Telamon, des Mannes, der einst den Wiedergeborenen Drachen verkörperte und fast den Untergang der Welt herbeiführte, drängt mit aller Macht in Rands Verstand. Wird Rand diesen inneren Zweikampf bestehen und verhindern können, dem Wahnsinn anheim zu fallen?

Unbeachtet von alldem betritt ein neuer Spieler das Feld. Ba'alzamon sendet einen weiteren Diener aus – und lässt den Lord des Chaos auf die Welt los...

 

»The Wheel of Time« und die Sache mit der Realität
Fantasyepos hin oder her – »The Wheel of Time« weist eine Unmenge an Bezügen zur Realität auf. Jordan hat sich in so mancher Hinsicht an realen Gegebenheiten und wirklichen Zuständen orientiert. Viel von dem, was er aus der realen Welt kennt, ist in seine Saga eingeflossen, manches davon recht offensichtlich, manches eher verborgen. Die folgenden Aspekte geben Euch hoffentlich einen Einblick dahingehend, dass man »The Wheel of Time« durchaus nicht als „pure Einbildung“ abtun sollte und dass „unsere“ Wirklichkeit die seitenstarke Reihe in vielerlei Hinsicht geprägt hat.



„Geradeaus“ heißt „geradeaus“: Von Begrifflichkeiten und Naturgesetzen
Ist Euch schon mal aufgefallen, wie stark selbst Fantasyautoren realen Gegebenheiten verhaftet sind? Theoretisch hat ein Fantasyschriftsteller alle Freiheit, die er sich nur wünschen kann. In der von ihm erdachten Welt kann er tun und lassen, was er will. Viele Autoren packen diese Möglichkeit beim Schopf und erschaffen die verrücktesten Schauplätze und unkonventionelle Charaktere. Und doch, selbst der wagemutigste Schreiberling hält in neun von zehn Fällen an Dingen fest, die er aus der Realität kennt.

Was genau ich hiermit meine? Nun, in erster Linie elementare Dinge wie Bezeichnungen von Gegenständen, die Gültigkeit gewisser (Natur-)Gesetzmäßigkeiten oder die Reaktionen von Protagonisten auf äußere Einflüsse. Um nur einige Beispiele zu nennen:

  1. Mit dem Wort „Tisch“ wird eigentlich immer ein Möbelstück bezeichnet, das eine Art flache Ablage für Gegenstände jeglicher Couleur ist, und nicht etwa ein Hilfsmittel, um Bäume zu stutzen oder lästige Insekten totzuschlagen.Wenn eine Figur geradeaus läuft, dann meint das, dass sie entlang einer ganz bestimmten (imaginären), gradlinig verlaufenden Linie läuft, und nicht wie eine irre Hummel mal hierhin, mal dahin schießt.
  2. Ein losgelassener Apfel fällt auch in einer Fantasywelt im Allgemeinen nach unten, ganz so, wie es Newton anno dazumal für diese unsere Realität festgestellt hat.
  3. Wenn ein Protagonisten eins auf die Mütze bekommt, dann schreit er für gewöhnlich wie am Spieß, weil er sich weh getan hat, oder aber er fällt bewusstlos um. Er verwandelt sich nicht plötzlich in einen knallgrünen Ball oder fängt an, die „Ode an die Freude“ zu singen und dabei mit Hamstern zu jonglieren.
  4. Ich könnte diese Liste beliebig fortsetzen, doch auch so dürfte klar geworden sein, was ich meine. In vielerlei Hinsicht hält sich ein Autor an bekannte Konventionen und reale Zustände. Selbst ein Fantasyautor wie Robert Jordan bildet da keine Ausnahme. Nicht, dass er sich so verhalten müsste, wie er sich nun einmal verhält. Er könnte Schwerter durchaus als „Autos“ oder „Spießgesellen“ bezeichnen, und es ist ihm nicht verboten, seine Helden immer dann, wenn sie ein Zimmer verlassen wollen, Saltos schlagen zu lassen. Doch genau wie die meisten seiner Kollegen verzichtet Jordan auf dererlei Spielereien.
Der Grund hierfür ist offensichtlich: Selbst die fantastischste Geschichte benötigt eine gewisse Basis, damit sie von den Lesern verstanden wird. Würde ich alle Begrifflichkeiten einfach mal so ändern und alles, was ich aus der Realität kenne, einfach auf den Kopf stellen, niemand würde meine Geschichte mehr verstehen. Aus diesem Grund dürfen auch Fantasyautoren ein gewisses Limit an phantastischen Elementen nicht überschreiten, insbesondere dann, wenn sie eine im Grunde sehr ernsthafte Saga zu Papier bringen. Wie eben »The Wheel of Time«.

Zugegeben, irgendwie wirkt dieser Punkt ein wenig bizarr. Und doch zeigt sich hier sehr gut, wie stark die Realität auch die Fantasyliteratur prägt.

Aber genug davon. Kommen wir nach diesem allgemeinen (und zweifelsohne etwas abstrus anmutenden) Teil auf einige Punkte zu sprechen, die deutlich stärker auf »The Wheel of Time« und die Bedeutung der Wirklichkeit für die große Saga gemünzt sind.


Komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse: Auch Völker haben Vorbilder
Eine Gruppe, in der die Brüder der Mutter als Onkel gelten, die Brüder der Väter hingegen nicht. Eine Gemeinschaft, die der Ansicht ist, dass das Träumen stärker und mächtiger ist als alles, was in der Realität geschieht. Eine Gesellschaft, getrennt in viele oftmals einander feindselig gesinnte Stämme, die in einem der trockensten und unwirtlichsten Lebensräume der Welt zurechtkommen müssen. Kommt Euch das bekannt vor?

„Na klar“, wird der ein oder andere sagen. „Du lieferst hier eine Beschreibung der Aiel ab, des harten und undurchschaubaren Wüstenvolks, das schlussendlich das Volk des Drachen wird und aus dem einige der wichtigsten Verbündeten von Rand kommen.“


Man sollte meinen, wer so denkt, liegt goldrichtig.

Liegt er aber nicht. Was ich hier beschreibe, ist nicht das Volk der Aiel, sondern das Volk der Anangu, der australischen Ureinwohner, auch bekannt als Aborigines.

Als Robert Jordan sich daran gemacht hat, das Volk der Aiel zu entwerfen, hat er sich zweifelsohne an den Sitten und Lebensumständen der australischen Ureinwohner orientiert. Wer sich ein wenig mit dieser alten Gesellschaft beschäftigt, der wird verblüffend viele Parallelen entdecken, etwa bezüglich der komplexen Verwandtschaftsverhältnisse, der alltäglichen Lebensweise und der Bedeutung der mysteriösen Traumzeit, von Jordan Tel'aran'rhiod genannt. Sicher, Jordan hat die Gesellschaftsstruktur der Anangu nicht 1:1 übernommen. Viele Aspekte hat er vereinfacht und in verkürzter Form dargestellt, andere gar nicht beachtet oder allenfalls in Ansätzen. Eine ganze Menge von Eigenschaften der Aiel unterscheiden sich auch komplett von Merkmalen der Aborigines. Man nehme nur mal das vollkommen verschiedene Aussehen; die hellhäutigen Aiel gleichen ihren realen Vorbildern in dieser Hinsicht nicht im Geringsten. Und wieder andere Aspekte sind so stark verändert, dass man ihren Ursprung nur noch erahnen kann (etwa die Traumzeit).

Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass sich Jordan stark von der Gesellschaft der Anangu inspirieren gelassen hat. Wer also immer dachte, die Aiel seien der bloßen Fantasie des Autors entsprungen, der irrt. Lest Euch einfach mal ein paar Abhandlungen über die Aborigines durch; dann werden die Parallelen zwischen Realität und Geschichte schnell offensichtlich.

Im Norden kalt, im Süden warm: Zwischenmenschliches Klima
Ein weiterer Aspekt, bei dem sich Jordan von realen Bedingungen hat beeinflussen lassen, ist die unterschiedliche Mentalität von Menschen, die im Norden bzw. im Süden der nördlichen Hemisphäre wohnen.

Grob und vereinfacht ausgedrückt lässt sich für unsere Welt sagen: Menschen, die im Norden wohnen, also Richtung Pol, sind im Allgemeinen deutlich reservierter, kühler und schwerer aus der Reserve zu locken als Menschen, die im Süden, Richtung Äquator, leben. Südländer sind temperamentvoller, aufbrausender, sie leben freizügiger und haben ein ganz anderes Verständnis von Welt, Leben und Gesellschaft.

Jordan hat diese Nord-Süd-Trennung der Mentalitäten beibehalten. Auch in der von ihm geschaffenen Welt zeigt sich, dass sich die Menschen in den südlichen Gefilden stark von den Bewohnern der nördlichen Reiche unterscheiden, und zwar genau in der gerade beschriebenen, in der Realität festzustellenden Art und Weise.

Wie schon für den ersten Punkt gilt auch hier: Das ist eine Sache, die Jordan durchaus hätte anders darstellen können. In einer Fantasywelt gibt es keinen Zwang, sich an solche in der Wirklichkeit auftretenden Unterschiede zu halten. Von schlichter Umkehr (dass also die Bewohner des Nordens mit einem Mal temperamentvoller sind als die Menschen im Süden) bis hin zu einem neuen, komplexen Zusammenwirken unterschiedlicher Einstellungen und Verhaltensweisen wäre hier eine Menge drin gewesen. Stattdessen orientiert sich der US-Amerikaner Jordan an dem, was er kennt, und erschafft seine Welt in Sachen Mentalitäten nach einem altbekannten Vorbild: der Realität.


»The Wheel of Time« und die Realität: Eine unzertrennliche Verbindung
Phantastische Elemente hin oder her: Reale Vorgänge und wirkliche Begebenheiten prägen »The Wheel of Time« in einem nicht zu unterschätzenden Maße. In vielerlei Hinsicht hat sich Robert Jordan von wahren Zuständen und Ereignissen lenken lassen. Die oben angeführten Beispiele sind nur einige von vielen. Sie reichen von ganz essentiellen Aspekten wie der Tatsache, dass Figuren eben atmen, schlafen und sich ernähren müssen (Aspekte, die interessanterweise von jedem Autor übernommen werden und die man, meist vollkommen gedankenlos, einfach hinnimmt), bis hin zu hochgradig speziellen Anlehnungen, die Jordan ganz bewusst in seine Saga eingebaut hat. Bestes Beispiel hierfür sind die bereits erwähnten Elemente aus der Kultur der Aborigines, derer Jordan sich mehr oder weniger offensichtlich bedient.

Der Realitätsbezug von »The Wheel of Time« mag nicht immer klar und deutlich zum Ausdruck kommen. Verleugnen lässt er sich allerdings nicht. Es ist immer wieder interessant und spannend zu sehen, wie ein Autor mit aus der Realität übernommenen Fakten umgeht, wie er sie in sein Epos einbaut, sie verändert und adaptiert. Diejenigen Leser, die sich mit dem entsprechenden Thema auskennen, erwartet dann so manch überraschende Entdeckung.

Nachdem wir nun so viel über Realität und Wirklichkeitsbezug von »The Wheel of Time« gesagt haben, sollten wir uns wohl auch mit der anderen Seite beschäftigen, mit den phantastischen Elementen. Denn so sehr eine Fantasysaga sich auch auf reale Bezugspunkte stützen mag, letztendlich sind es die magischen Aspekte, die die wahre Faszination des Buchs ausmachen und die den Charakter einer Reihe in viel stärkerem Maße prägen als die Entlehnungen aus der Wirklichkeit.

Doch das ist ein anderes Thema, mit dem wir uns in der kommenden Ausgabe dieser Kolumne beschäftigen wollen ...

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