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Die Bewandtnis mit Atlantis: 5. Die Interpretation - Die Puristen (oder Ignoranten?)

Die Bewandtnis mit Atlantis5. Die Interpretation
Die Puristen (oder Ignoranten?)

Die Vertreter der zweiten Strömung haben einen orthodoxen (um nicht zu sagen: fundamentalistischen) Ansatz: Sie nehmen Plato wörtlich. Daß es keine geologischen, archäologischen und historischen Belege gibt, wird zumeist mit einer mangelhaften Erforschung begründet. So wird gerne der Eindruck erweckt, daß vor dem Einsetzen der frühgeschichtlichen Überlieferung große Wissenslücken klaffen, die sich leicht mit spurlos verschwundenen Hochkulturen a là Atlantis und Mu/ Kasskara füllen lassen.

Nun stimmt es zwar, daß man über manche Dinge nur mutmaßen kann, etwa was die Sprache oder die Folklore erloschener Gemeinschaften angeht, aber gänzlich unbekannt sind sie uns trotzdem nicht. Schließlich erlaubt es uns die Archäologie, Rückschlüsse auf Sitten und Gebräuche, auf kulturelle Beziehungen und Entwicklungen zu schließen. Und wenn archäologisch definierte „Kulturen“ auch nur in den seltensten Fällen echte Völker beschreiben, so dienen sie doch als recht brauchbare Leitlinie, um zumindest Gruppen voneinander abgrenzen zu können, und das sowohl räumlich, als auch zeitlich.

Wenn die Fundsituation in Mittel- und Jungsteinzeit etwas spärlich ist im Vergleich zu der späterer Jahrtausende, dann liegt es nicht an mangelnder Erforschung oder gar Vertuschung, sondern an ganz banalen Gründen. Zum einen wurde weniger dauerhaftes Material verwendet, wie etwa Horn, Holz, Knochen, Rinde, Bast und Felle, an denen der Zahn der Zeit zu dem noch etwas länger hat nagen können. Zum anderen war die Populationsdichte weiland noch verhältnismäßig gering, und weniger Leute hinterlassen auch weniger Fundstücke. Wo es vor 6000 Jahren nur Wald gegeben hat, wird man nun mal kein neolithisches Dorf ausgraben können, selbst wenn dort in der Antike oder im Mittelalter eine florierende Stadt gelegen hat.

Es gibt aber auch noch eine andere Richtung, die sich auf Platos Worte stützen, die ersten Atlanter hätten relativ isoliert gelebt auf dem späteren Burgberg, der „für Menschen unzugänglich ward“. Sie gehen davon aus, daß eine zehn bis zwölf Jahrtausende währende Entwicklung, wie sie bei uns von der Altsteinzeit zur heutigen Zivilisation geführt hat, auch auf Atlantis stattgefunden hat. Nur habe die Entwicklung auf dem entlegenen Eiland noch während der Eiszeit eingesetzt, so daß sie einen Vorsprung gehabt hätte. Dementsprechend hätten die Insulaner schon vor zehntausend Jahren eine der frühen Neuzeit entsprechende Kulturstufe erreicht. Da aber all ihre Metropolen auf dem Eiland gelegen hätten, seien sie auch mit ihr untergegangen, und ließen sich nicht mehr finden. Und entsprechende Kolonien hätten natürlich allesamt an Küsten gelegen, die ebenfalls ein Opfer der Fluten geworden sind.

Wie aber will man etwas beweisen, für das es per definitionem schon keine Beweise geben kann? Erstaunlich beliebt ist in diesem Kontext die wohl abstruseste Theorie, nämlich den „Cro- Magnon- Menschen“ als unmittelbaren Ahn der Atlanter anzuführen. Der Cro- Magnon war ein hochgewachsener und kräftig gebauter Typ des Homo sapiens sapiens, der im späten Neolithikum ([Périgordien, Chatelperonnien,] Aurignacien, [Gravettien,] Solutréen und Magdalénien) und auch im Mesolithikum noch in Europa und Nordafrika vorkam. Er errichtete Sommerlager (primitive Dörfer, die nur während der warmen Monate bewohnt wurden) und fertigte die legendären Höhlenmalereien an. Er war ein Nachbar des Neandertalers (je nach Lehrmeinung Homo neanderthalensis oder Homo sapiens neanderthalensis), doch für gewöhnlich bewohnten beide Menschenrassen unterschiedliches Terrain. Daher mag auch die Mär rühren, der Cro- Magnon- Mensch hätte nur den Westen Europas und Nordafrikas bewohnt. Als „höher entwickelte Rasse“ hätte er dann sein Zentrum in Atlantis gehabt, wo die technologische Entwicklung weiter fortgeschritten wäre, als auf dem Festland. Die relative Größe einiger Cro- Magnon- Menschen wird wie die Größenzunahme der heutigen Menschen auf verbesserte Ernährungsbedingungen und eine hohe Zivilisationsstufe zurückgeführt. Dieser Argumentation folgend, müßten freilich auch die Philister Überlebende einer extrem fortschrittlichen Gesellschaft gewesen sein, und die alten Germanen den Römern kulturell haushoch überlegen. Auch die Detailgenauigkeit mancher Höhlenmalereien wird gerne mit den stereotyperen Darstellungen späterer Epochen in Verbindung gesetzt, und als Beleg für eine damals hochstehende Zivilisation gewertet. Dieser Argumentation folgend, hätten die großen Künstler der Renaissance in einer fortschrittlicheren Welt gelebt, als die abstrakten Maler und Bildhauer unserer Tage. Auch darf man nicht vergessen, daß selbst die naturgetreuesten Höhlenbilder immer nur Szenen aus der Erlebniswelt des Jägers und Sammlers darstellen, nie jedoch Filmplakate oder Werbung für Creme- Seifen. Und was die angeblich so „degenerierten“ Kritzeleien späterer Jahrtausende anbelangt, so stellt eine Vereinfachung und Standardisierung nicht unbedingt einen Rückschritt dar. Um wieviel komplizierter wäre beispielsweise unser Alphabet, hätten die semitischen Völker nicht die ägyptischen Hieroglyphen mehr und mehr vereinfacht zu Kombinationen aus simplen Strichen? Zu Buchstaben, die auch jemand benutzen kann, der nicht so geschickt mit Pinsel und Farbe umgehen kann?

Tatsächlich ist der Cro- Magnon- Mensch nicht nur im Westen, sondern in fast ganz Europa (mit Ausnahme der Gletscherzonen und der Neandertaler- Gebiete) nachgewiesen. Damit ist er wohl nicht einfach nur der Vorfahr der hypothetischen Atlanter, sondern nahezu aller Europäer. Die Annahme einer Dominanz in Frankreich, Nordspanien und Marokko ist so nicht korrekt, wenn man mal davon absieht, daß große Teile Mittel- und Nordeuropas seinerzeit wegen der Gletschernähe unbewohnt waren. Und selbst wenn einige Frühmenschen über Gibraltar auf unseren Kontinent gefunden haben (wobei in Südspanien noch lange Zeit die Neandertaler prominent waren), so muß dies keinesfalls auf eine entwickelte Schiffahrt zurückgehen. Schließlich war die Meerenge die ganze Kaltzeit über trockenes Land, da der Wasserspiegel dort weiland 120 bis 200 Meter unter dem heutigen lag.

Doch nicht nur zur Entstehung der atlantischen Zivilisation werden abenteuerliche Hypothesen aufgestellt, sondern auch zu ihrem Untergang. Da werden aus Mythen aller möglichen Völker und Zeiten Passagen herausgesucht (und nach Bedarf angepaßt), um die jeweils propagierte These zu stützen. So werden mittelamerikanische Überlieferungen aus der Zeit der spanischen Eroberung mit religiösen Texten aus der indischen Frühzeit vermengt, nahezu ganz Südamerika im Meer versenkt (um aus Tiahuanaco am Titicaca- See eine marine Hafenstadt zu machen), und unwiderlegbare Fakten unterdrückt. Daß zwischen den Pyramiden der Mayas und Azteken einerseits, und denen der Ägypter andererseits 3500 Jahre liegen, wird ebenso unter den Tisch gekehrt, wie die Tatsache, daß ein Fehlen von Funden nicht automatisch das Vorhandensein von allem Möglichen bedeutet. Wenn eine Region frei von Häuserresten ist, dann hat es meist weniger mit explodierten Kraftwerken oder nuklearen Kriegen zu tun, als mit einer fehlenden dauerhaften Besiedlung, oder auch einfach nur mit einer mangelhaften Erforschung. Zumindest gilt dies für die vorchristlichen Jahrtausende (In der jüngeren Geschichte der ehemaligen Sowjet- Union mag es Ausnahmen geben).

Als Beispiel für diese teils abenteuerlichen, aber doch in die Gewänder der „Wissenschaft“ gehüllten Hypothesen trage ich ein Szenario vor, das der Journalist Klaus Gröper nach den Vorgaben des Ingenieurs Otto Muck entworfen hat. Darin rast am 5. Juni 8498 v. Chr. ein Planetoid (!) auf den US- Bundesstaat South Carolina zu. Kurz vor dem Aufschlag zerplatzt seine Hülle in Tausende von Meteoriten, welche die Hölle auf Erden hereinbrechen lassen. Das Carolina- Trichterfeld soll heute noch an das Inferno erinnern. Der Eisenkern aber soll im Bermuda- Dreieck hernieder gekracht, und bis zum Erdmantel durchgedrungen sein. Tsunamis von zehn Kilometern Höhe sollen sich aufgetürmt haben, und Lava bis hinauf in die Ionosphäre geschleudert worden sein. Die Erschütterung reißt den Mittelatlantischen Rücken auf, der den Grund des Atlantik in eine westliche und eine östliche Hälfte teilt, und allerorten brechen Vulkane aus.

Und auf diesem Rücken, in Höhe der Azoren, soll eben Atlantis gelegen haben. Just wie Plato es beschrieben hat, wenn auch für 9600 v. Chr., und nicht für 8498 v. Chr.. Der Knall des Aufpralls soll bereits Bäume, Wälder und Menschen umgerissen haben. Vulkanische Gase hat alsdann angeblich die Luft vergiftet, bis schlußendlich der Tsunami über alles hinweg spülte. Daraufhin soll der vulkanische Niederschlag das Land unter sich begraben haben. Und zu guter Letzt ist durch den Einschlagskrater und die Eruptionen soviel Magma entwichen, daß in Bereichen des Mantels Unterdrücke und Hohlräume entstehen. Teile der Kruste brechen ein, und auf diese Weise geht auch Atlantis unter, bis nur noch seine Berggipfel als Azoren den Meeresspiegel durchbrechen.

Ein ähnliches Szenario hat man auch für das Aussterben der Dinosaurier gegen 64 Millionen Jahren vor heute entworfen (Vater und Sohn Alvarez). Ja, mit der Karibik hat man sich sogar fast die selbe Lokation als Ort für den Impakt ausgesucht. Was das Ereignis an der Kreide- Tertiär- Grenze anbelangt, kennt man nicht viele Hinweise. Weltweit verbreitet soll eine Iridium- Schicht sein, die als Rückstand vulkanischer oder astronomischer Einwirkungen gedeutet wird. Freilich kennt man solche Strata auch aus anderen Epochen, wenn auch nicht ganz so weit verbreitet, und hier bieten sich keine Aussterbewellen zum Bezug an. Kohleschichten von Waldbränden und ähnliches wurde seltsamerweise erst dann im Bereich des Golfs von Mexiko entdeckt, als es daran ging, Beweise für den Einschlag zu finden. Doch weder ein „nuklearer Winter“ hat sich nachweisen lassen (gegen Ende der Kreidezeit wurde das Klima sogar wieder wärmer), noch sonst ein klarer Beweis für eine Katastrophe. Ja, während das Aussterben im Meer recht rasch vonstatten gegangen zu sein scheint, spricht der Fossilbeleg für das Festland eher für eine allmähliche Abnahme der aussterbenden Gattungen. Manch berühmte Formen, wie etwa Tyrannosaurus und Triceratops, wurden kurz vor Schluß sogar noch besonders zahlreich.

Genau das Gleiche trifft auch für den 5. Juni 8498 v. Chr. zu, und hier befinden wir uns längst nicht so weit in der Vergangenheit. Der Kataklysmus, der für dieses Datum prognostiziert worden ist, soll 20.000 mal gewaltiger gewesen sein als der Ausbruch des Krakatao 1886, der das Weltklima über Jahre verschlechterte. Er wäre auch um die 20.000 mal heftiger gewesen als die Eruption des Tambora, die 1816 für „das Jahr ohne Sommer“ und große Hungersnöte gesorgt hat. Asche, Tuff und Bimsstein hätten im neunten vorchristlichen Jahrtausend auf Nord- und Südamerika herab geregnet, und den Ozean unschiffbar gemacht. Das Weltklima hätte sich um mehrere Grad abgekühlt. Undenkbar, daß ein solches Ereignis keinerlei Spuren in Geologie und Paläoklimatologie hinterlassen hätte!

Aber just das ist der Fall: Gegen 8000 v. Chr. ging die Klimaepoche des Boreals (gemäßigt und trocken) in das des Atlantikums (warm und feucht) über. Nirgends wurden ganze Wälder niedergemäht, nirgends brachen Ketten von Vulkanen aus. Weder in den Pollenspektren der Moore, noch in den Eislagen Grönlands findet sich auch nur das kleinste Indiz, daß sich zu dieser Zeit etwas Ungewöhnliches ereignet hätte. Klaus Gröpers Behauptung, zwischen dem 10. und dem 5. vorchristlichen Jahrtausend habe es in Nord- und Mitteleuropa „nur eine kümmerliche Vegetation“ gegeben, trifft gerade mal für das 10. und 9. Millenium zu, wie für die unmittelbare Nacheiszeit nicht anders zu erwarten. Folgen von Jahrhunderte lang die Sonne verdunkelnden Aschewolken sind das nicht. Und auch die Lebensweise der Menschen war im Vergleich zu derjenigen des späten Paläolithikums nicht etwa rückschrittlich: Die Herstellung von Steinwerkzeugen hatte erkennbare Fortschritte gemacht. Das Verschwinden der Felsmalereien spricht eher für eine Verbesserung, denn für eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse: Man brauchte nicht mehr in Höhlen zu überwintern, wo im Sommer wie im Winter die gleichen Temperaturen herrschen. Große Gebiete des eisfrei gewordenen und zu besiedelnden Kontinents verfügten außerdem über keine Berge mit Höhlen.

Auch der Golfstrom wird gerne als Kronzeuge beschworen. Schon kurz nach Ende der Eiszeit ist zu erkennen, daß sich der Nordwesten Europas deutlich rascher erwärmt als der Nordosten. Hier wird argumentiert, Atlantis habe ihm vorher im Weg gelegen, und damit von den Küsten des Kontinents ferngehalten. Allerdings braucht man nicht unbedingt die Insel als Grund anzuführen, wenn die weit nach Süden vorgeschobenen Gletscher einen ebenso abkühlenden Effekt auf das Klima haben.

Desweiteren hat man die Wanderungen der Aale angeführt. Die Männchen leben an unseren Küsten, die Weibchen in den Flüssen. Zur Paarung jedoch verlassen sie Europa, überqueren den Atlantik und laichen in der Sargasso- See, von wo aus die frisch geschlüpften Glasaale mit dem Golfstrom zu uns zurückkommen. Diese Reise wäre weniger lang und gefahrvoll, hätten sie nicht das ferne Europa, sondern ein näheres Atlantis zum Ziel. War dies also einmal der Fall? Nun, die Aale sind schon aus der oberen Kreidezeit bekannt (Anguillavus in Südwest- Asien und Enchelurus in Europa). In dieser Epoche war der Nordatlantik jung und schmal, ja, im Bereich von Grönland hingen Nordamerika und Europa sogar noch zusammen. Die Distanz zwischen Lebensraum und Laichplatz wäre also noch ausgesprochen kurz. Erst im Laufe der Jahrmillionen hat sie sich verbreitert, und das dermaßen langsam, daß es keinem der Tiere aufgefallen sein dürfte.

Fairerweise muß man allerdings einschränken, daß der Flußaal selbst (Anguilla) erst seit dem Miozän nachgewiesen ist, und sich mit den Mitteln der Paläontologie kaum feststellen läßt, wann die Wanderungen eingesetzt haben. Aber im Miozän waren Nord- und Südamerika noch durch eine Meerenge getrennt, durch die ein den ganzen Globus umkreisender, äquatorialer Ringstrom floß. Erst als sich diese Passage im Pliozän schloß, wurde er unterbrochen, und der Golfstrom als Teil davon nach Norden umgelenkt. Die Züge der Aale hatten demnach gar nicht Europa als ursprüngliches Ziel gehabt, sondern weit nähere Flüsse an den einander benachbarten Pazifikküsten Nord- und Südamerikas. Atlantis auf jeden Fall haben diese Fische nicht benötigt.

Aber damit sind längst nicht alle Argumente aufgelistet, die für Mucks Hypothese angeführt werden. Schließlich wird auch noch Puzzle gespielt: Man schneidet die Kontinente (samt ihrer unter Wasser liegenden Sockel) aus und legt sie aneinander. An sich ist dagegen nicht viel einzuwenden, hat Alfred Wegener doch auf diese Weise die Kontinentalverschiebung entdeckt. Manchmal jedoch werden völlig willkürlich weitere Teile abgeschnitten und verschoben, damit man aus den Erdteilen eine Kugel formen kann, als angeblicher Beleg für Konstantin Meyls Hypothese, unser Planet sei einst viel kleiner gewesen. Ähnliche Schnibbeleien werden auch veranstaltet, um zwischen Afrika, Nordamerika und Europa eine Lücke auszumachen, in die Atlantis passen könnte. Freilich hat man in dem bei Klaus Gröper abgebildeten Modell Nordafrika gestaucht, Schelfgebiete ignoriert und Nordamerika und Europa mit einem sehr weit südwärts verschobenen Grönland auseinander gedrückt, um überhaupt Platz für ein versunkenes Eiland zu schaffen. Bei klassischen Rekonstruktionen Pangaeas (so bei Schmidt und Walter, S. 117 und S. 132), wie man die aus allen Kontinenten bestehende Landfläche nennt, wird diese Lücke vom Schelf gefüllt, also den unter dem Meer befindlichen Bereichen der Kontinente. Raum für Atlantis ist da eigentlich nicht mehr.

Als weiteres Argument wird aufgeführt, daß sich die pleistozäne Gletscherbildung auf der Nordhalbkugel auf Nordamerika und Europa konzentriert hat, aber weniger auf Nordsibirien. Dies wird dahingehend interpretiert, daß sich die Erdachse durch den Impakt verschoben hätte, und der Nordpol vorher auf Grönland gelegen hätte. Die Behauptung, das Nordmeer wäre damals eisfrei gewesen, entspricht jedoch nicht den Tatsachen. Auch hätte man bei einer Verlagerung der Achse erwarten müssen, daß die Vereisung der Antarktis aus der Gegenseite verstärkt im pazifischen Raum stattgefunden haben müßte. Aber genau das ist eben nicht der Fall: Hier reichen die Kalotten im Bereich des Atlantischen und des Indischen Ozeans am weitesten nach Norden. Daß die fehlenden Gletscher im Norden Sibiriens auf Wassermangel in Folge des kontinentalen Klimas zurückzuführen sind, wird gänzlich unterschlagen. Und die Transgressionen in Folge der Eisschmelze werden einfach mal umgedeutet zu Hebungen und Senkungen der Kontinente, eben aufgrund des angeblichen Planetoideneinschlags.

Man merkt also, daß die sogenannten „naturwissenschaftlichen“ Argumente bei Licht betrachtet gar keine sind. Also versucht man, an Stelle von wirklichen Belegen die Legenden der unterschiedlichsten Völker als „Beweise“ heranzuziehen, von der Niflhel, der Nebelhölle der Germanen, über die unterschiedlichsten Sintflutmythen bis hin zu indianischen Katastrophenlegenden. Seit jener Zeit sind freilich an die 10.500 Jahre vergangen, und in diesem Zeitraum sind eine Menge Geschichten entstanden, von denen man sich einfach nur ein paar auszusuchen braucht, um sie in das Schema der eigenen Theorie zu zwängen.

So geht das für Archäologen verdächtig genaue Datum des 5. Juni 8498 v. Chr. auf einen solcher Mythen zurück. Er ist nämlich der „Tag Null“ des Kalenders der Maya aus Mittelamerika. Die Maya waren ein Bauernvolk, das auf eine möglichst präzise Bestimmung von Saat- und Ernteterminen angewiesen war. Im Laufe der Jahrtausende gelangten sie zu einer Genauigkeit, die ihr Jahr noch exakter festlegte, als unser Gregorianischer Kalender der Neuzeit. Allerdings war dies der Stand während der Spätphase! Zu Beginn ihrer Himmelsbeobachtungen dürften ihnen noch eine ganze Reihe von „Anfängerfehlern“ unterlaufen sein, die auch spätere Berechnungen nicht mehr ausbügeln konnten. Daher darf das oben angeführte Datum mit ruhigem gewissen als mehr „traditionell“ und vielleicht sogar „mythisch“, denn als exakt angesehen werden.

Otto Muck hindert das freilich nicht daran, für diesen Tag eine Dreifachkonjunktion von Sonne, Mond und Venus zu errechnen (eine Sonnenfinsternis, bei der auch noch der Morgenstern im Weg liegt). Einmal vorausgesetzt, daß Mond- und Planetenbahnen seit damals unerschütterlich wie ein Uhrwerk ihre Bahnen verfolgt haben, möchte ich seine Kalkulationen gar nicht in Zweifel ziehen. Doch wenn diese Konstellation dafür verantwortlich gewesen sein soll, daß ein Planetoid abgelenkt und auf die Erde geschleudert wird, müßten wir jedesmal das Zittern kriegen, wenn irgendwo im Sonnensystem Himmelskörper in einer Reihe aufgestellt sind. Und das ist beileibe kein seltenes Schauspiel! Anfang 1966 beispielsweise lagen Uranus und Pluto auf einer Linie zur Sonne, aber bislang gibt es keine Beobachtungen, daß dies in irgendeiner Form für Unruhe zwischen den Himmelskörpern gesorgt hätte.

Freilich kann man auch annehmen, dieser Kalender wäre gar nicht von den Maya erfunden worden. Im neunten Jahrtausend vor Christus gab es in Mittelamerika schließlich nur mesolithische Fischer und Nomaden, die sogenannte „Tehuacán- Kultur“, die sich zwischen 9500 und 7000 v. Chr. nicht groß veränderte. Erst zu Beginn des siebten vorchristlichen Jahrtausends fing man damit an, gezielt Pflanzen zu sammeln, und spätestens um 4000 v. Chr. hatte man sie domestiziert.

Doch wenn es Überlebende von Atlantis gewesen sein sollen, die den Ureinwohnern ihre Zeitrechnung beibrachten, warum läßt sich dann nirgendwo ein technologischer Fortschritt feststellen? Warum ist das archäologische Fundspektrum von 7000 v. Chr. dem von 9500 v. Chr. zum Verwechseln ähnlich? Hätten die Atlanter, die laut Plato ja die Pferderennbahn kannten, nicht das Rad eingeführt? Hätten sie nicht Landwirtschaft, Schiffbau und Metallverarbeitung begründet? Hätten sie sich nicht Städte, oder zumindest Dörfer gebaut, um etwas von ihrem bisherigen Lebensstandard in die neue Heimat zu retten?

Gern wird argumentiert, daß ein überlebender Seefahrer meist nur in den Belangen der Seefahrt bewandert ist, und vielleicht noch auf den Feldern des Handels und der Piraterie. Er hätte weder mit der Landwirtschaft, noch mit der Metallgewinnung Erfahrung, und somit keine Chance, die Errungenschaften seiner Zivilisation mit in die neue Welt hinüber zu retten. Doch die Geschichte lehrt uns ein anderes Bild. Der einsame Robinson Crusoe ist da die absolute Ausnahme; meist ist es eine ganze Mannschaft, die für den Erstkontakt verantwortlich ist. In der Regel werden schon binnen weniger Jahre die ersten Kolonien gegründet, und mit der Ausbeutung der Ressourcen mittels der bekannten Technik begonnen. Schließlich gehören zu einer Flottenbesatzung nicht nur Matrosen, sondern auch Handwerker wie z. B. der Schiffszimmermann. So läßt dich bei den Minoern und Phöniziern, bei den Griechen und Römern, bei den Angeln und Sachsen, bei den Wikingern und Kreuzrittern, bei den Spaniern und Portugiesen überall das selbe Schema erkennen: Binnen weniger Sommer werden Stützpunkte errichtet, die Siedler anziehen und zur Ausgangsbasis für eine weitere Ausdehnung dienen. Wenn jetzt die Heimat verloren geht, so heißt das nicht, daß auch die Ableger zum Untergang verdammt sind. Weder ging Karthago zugrunde, als die Mutterstadt Tyros erobert wurde, noch die Angelsachsen, als Dänen und Slawen in die entvölkerten Gebiete auf der Kimbrischen Halbinsel nachrückten. Gewiß, wenn man sich auf dem Gebiet einer weiter entwickelten Zivilisation befindet, kann es zur Assimilation der Einwanderer führen, seien es nun Kassiten in Babylon, oder Wikinger in der Normandie. Aber bei Atlantis wird ja gerade davon ausgegangen, daß es allen anderen überlegen gewesen war. Wenn hier die eine oder andere entlegene Kolonie die Katastrophe überstanden haben mag, wieso hat sie keine Spuren hinterlassen? Wieso hat sie den Vorfahren der Maya einen komplizierten Kalender überlassen, aber nicht die Landwirtschaft gelehrt, für die eine derart präzise Zeitmessung erst Sinn macht? Denn eine neu gegründete Siedlung muß sich als erstes selbst versorgen können: Bauern und Handwerker wird es dort fast von Anfang an gegeben haben.

Aber gehen wir einfach mal von dem unwahrscheinlichen Fall aus, daß das Großreich von Atlantis, das bis weit ins Mittelmeer hinein Eroberungen gemacht hat, keine Kolonien gegründet hat. Oder daß all die Stützpunkte in Ufernähe gelegen hätten, und so mitsamt der Flotte überschwemmt worden wären. Nur ein paar Glückliche hätten überlebt. Trapper, Händler, Spähtrupps oder Erzprospektoren vielleicht, die sich ins kaum erforschte Landesinnere vorgewagt hätten. Oder die viel beschworenen weisen Männer, welche den Aufprall des Planetoiden vorhergesehen, und sich mit Hilfe einer Arche gerettet haben mögen. Doch wenn es die Letztgenannten tatsächlich gegeben hat, wie hätten sie das alles vorausberechnen und Zeit genug für die Flucht in sichere Gefilde gehabt haben können? Noch heute würde die Frist vom Entdecken eines (ja nicht aus sich selbst heraus leuchtenden) Meteors bis zum Einschlag nicht ausreichen, um die betroffenen Gebiete zu evakuieren.

Ja, es existieren Indianer- Legenden von Quetzalcoatl und Viracocha, von als blond und bärtig, groß und weißhäutig geschilderten Männern, die aus dem Meer gekommen seien und gottgleiche Fähigkeiten gehabt hätten. Aber sie sind zu einer Zeit auf uns gekommen, da die Spanier und Portugiesen bereits mit ihren Eroberungen begonnen hatten. Und selbst wenn man die Überlieferungen nicht umgedichtet hat, um die kulturell überlegenden Invasoren gnädig zu stimmen, so können immer noch Erinnerungen an die Wikinger bewahrt worden sein. Die haben schließlich für drei Jahrhunderte im Osten Nordamerikas gesiedelt. Dafür spricht auch, daß der Maya- Gott Kulkulcan im Westen des Kulturkreises Uotan oder „Wotan“ gehießen, und mit Axt und Speer bewaffnet gewesen sein soll. Dieser Kulkulcan übrigens soll es gewesen sein, der neben der Schrift und dem Mais auch den Kalender eingeführt hat: Kann es sein, daß wir es bei der viel diskutierten Zeitrechnung der Mayas nicht in Wirklichkeit mit einen frühen Import aus Nordeuropa zu tun haben, den sie dann durch eigene Beobachtungen verbessert haben?

Doch dies freilich sind nur Mutmaßungen, und solange nicht historische Quellen oder archäologische Funde einen Kontakt zwischen den Indios und den Nordmännern belegen, haben sie keinerlei wissenschaftliches Gewicht. Das Gleiche gilt aber auch für solche Hypothesen, die aus Wotan/ Odin einen der Überlebenden von Atlantis machen wollen. Überlebende, die seltsamerweise auf beiden Seiten des Atlantik gewirkt haben sollen, und darum auch überall die selben Namen gehabt hätten (Osiris, Thot, Mannus, Maia und Pan gelten ebenfalls als in Frage kommende Kandidaten).

Wie absurd die Art der Beweisführung bei der Mehrzahl der Puristen ist, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: Man nehme das Märchen von Rotkäppchen, indianische Wendigo- Legenden, Fabeln von Aesop und Goethe, chinesische Sagen über Fuchsgeister, europäische Werwolfgeschichten, ägyptische Anubis- Darstellungen und Belege über indische Wolfskinder, und schon hat man eine ganze Menge von „Beweisen“ angehäuft, die belegen, daß der Hund dereinst die menschliche Sprache beherrscht hat. Denn warum hätte der Homo sapiens sonst dazu kommen sollen, gerade ihn als erstes Haustier auszuwählen? Ja, Waldi und Wuffi unterscheiden sich von ihren wilden Vorfahren unter anderem dadurch, daß sie bellen. Beim frühen Menschen mit eventuell noch nicht voll entwickeltem Kehlkopf mag sich die Sprache genau so angehört haben. Und läßt sich einmal eine Lücke in unserer Argumentationskette nicht durch Verschweigen beseitigen, führen wir ganz einfach ein paar „Berichte“ oder „Wissenschaftler“ an, ohne ins Detail zu gehen – Schließlich soll uns ja niemand beim Lügen ertappen! Denn wenn man uns nicht für seriöse Forscher und Akademiker hält, wer wird dann unsere Bücher kaufen?

 

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