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Zwischen Wachen und Träumen: Netflix »The Sandmann«

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneZwischen Wachen und Träumen
Netflix »The Sandmann«

Träume waren für Freud der Königsweg ins Unterbewusstsein. Denn in ihnen manifestierten sich die Wünsche und das Begehren, die wir uns tagsüber nicht zugestehen wollen oder können. So ist jeder Versuch einen Traum allgemein auszulegen, wie man das noch mit Traumbüchern im Mittelalter versuchte, zum Scheitern verurteilt, denn nur der Träumende selbst kann die Codes und Signale entschlüsseln.

Was aber Esoteriker weiterhin nicht davon abhält zu behaupten, dass man natürlich in Träumen die Zukunft sehen könne oder mit höheren Wesenheiten in Kontakt kommen könnte. Neil Gaimans höhere Persönlichkeiten sollte man aber wohl mit einer gewissen Vorsicht gegenübertreten. Die Unsterblichen - zu denen der Teufel, Gier, Lust, Tod und auch Traum aka Morpheus gehört - haben ihre eignenen Träume und Pläne.

Ich muss gestehen: Ich kenne den Comic von Neil Gaiman nicht. Ich weiß nur, dass The Sandman eines der Highlights des unabhängigen Comic-Geschäftes war, dass der Stil einzigartig ist und dass der Comic eine sehr treue und eingeschworene Fangemeinde hat. Ich bin also an diese Serie sogar ungespoilert herangegangen und hatte keinen Trailer, keinen Teaser gesehen. Mitbekommen hatte ich auch nur, dass Netflix hier eine Menge Geld reingesteckt hatte. Und dass konnte man von den ersten Minuten an schon sehen: Die Kamerafahrt durch die Traumlande zeigte eine CGI, die nicht unbedingt Hollywood-Niveau hatte, aber gegenüber dem, was ich an Ausschnitten aus der neuen GOT-Serie oder der Herr-Der-Ringe-Geschichte gesehen hatte doch reichlich eindrucksvoll war. Überhaupt: Diese Serie ist eine der atmosphärischsten seit „House on Haunted Hill“. Die Art und Wiese wie mit Licht und Schatten gearbeitet wird, die Charaktere beleuchtet werden und die Erzählgeschwindigkeit erzeugen bald einen Sog, dem ich mich als Zuschauer kaum entziehen kann.

Dabei muss gewarnt werden: The Sandman ist eine langsam erzählte Serie. Es gibt kaum eine Folge, in der nicht minutenlange Dialoge zwischen den Charakteren geführt werden. Die Dinerfolge in der ersten Hälfte der ersten Staffel wäre so ein Beispiel: Menschen in einem Diner unterhalten sich über ihren Alltag, Essen wird serviert, Kaffee nachgeschenkt. Dass es in dieser Folge um Träume geht, die sich erfüllen - wenngleich auch nicht unbedingt auf die Art und Weise, wie die Charaktere sich das so denken - könnte man bis zum blutrünstigen Finale glatt vergessen. Dennoch bleibt mal als Zuschauender dabei. Denn Licht und Ton sind auch hier so gut und stimmungsvoll eingesetzt, dass man wirklich glaubt bei den „Nachfalken“ im berühmten Gemälde gelandet zu sein. Wobei die Serie durchaus nicht zimperlich ist, was Blut und Eingeweide angeht. Deswegen ist sie auch - selten für Netflix übrigens - erst ab 18. Was man nach dem Anschauen der Diner-Folge durchaus als eine vernünftige Einstufung begreifen kann. Dabei zeigt die Serie nun wirklich wenige dramatische Bluteffekte. Das hat sie ja auch nicht nötig.

Was sie auch nicht nötig gehabt hätte: Die Zergliederung der ersten Staffel in zwei Teile, die beide eine „Morpheus muss irgendwas suchen“-Handlung beinhalten. Wir haben es uns angewohnt in Halbstaffeln zu denken. Ein Handlungsbogen mit Cliffhanger vor der Sommerpause, im Herbst wird die Serie dann fortgesetzt. Warum man das auch hier gemacht hat ist mir schleierhaft. Hat Netflix vor die Serie später noch an Fernsehender zu verleihen? Und wenn man schon dieses Halbstaffeln-Prinzip macht, warum diese ungeschickte Verzahnung? Die Folge in der Traum und Tod miteinander über das Dasein der Sterblichen räsonieren ist durchaus eine gelungene Füllerepisode. Aber wenn eine Serie von 10 Folgen eine Füllerepisode braucht, dann stimmt der Erzählbogen eindeutig nicht. Ja, einige Elemente verbinden die beiden Halbstaffeln, aber eher lose.  Und während Traum in der ersten Halbstaffel seine Machtinsignien sucht, sucht er dann anschließend nach drei Träumen, die abwesend sind. Dass als neues Element der Vortex dazukommt rettet die Halbstaffel immerhin vor einer gewissen Handlungslangeweile.

The Sandmann ist ein Kammerspiel über die Frage, was Traum und Realität unterscheidet. Dabei ist es nicht nur das Offensichtliche. Und: Ist das, was man sich erträumt auch wirklich das, was wirklich guttut? Oder sind Träume bisweilen nur Sehnsüchte, die besser nicht ausgelebt werden sollten? Das ist wohl der eigentliche Kern der Serie. In der ersten Hälfte wird die Dinerfolge das Ganze ver- und behandeln. Etwas subtiler dann in der zweiten Hälfte mit dem Handlungsbogen um die Schwangerschaft. Und natürlich auch in der Folge mit dem Tod. Oder der Tod? Traum und Wirklichkeit, Sehnsucht und Erfüllung. Dabei werden auch die Unsterblichen nicht davon ausgenommen. „Selbst der Teufel träumt“, kommentiert Traum lakonisch nach dem Duell mit Derselben. Dieselbe sorgt dann auch für den Fortsetzungsköder der nächsten Staffel. Da die Serie allesamt Lob einheimste - selbst die Hardcore-Fans scheinen begeistert zu sein, was ja nicht so einfach zu erreichen ist - scheint eine zweite Staffel nicht allzu unwahrscheinlich. Ich jedenfalls würde gerne mehr sehen, würde gerne mehr über das Universum erfahren. Genügend Stoff liegt ja vor. Schauen wir mal.

Kommentare  

#1 Andreas Decker 2022-09-11 13:55
Zitat:
Was sie auch nicht nötig gehabt hätte: Die Zergliederung der ersten Staffel in zwei Teile, die beide eine „Morpheus muss irgendwas suchen“-Handlung beinhalten. Wir haben es uns angewohnt in Halbstaffeln zu denken. Ein Handlungsbogen mit Cliffhanger vor der Sommerpause, im Herbst wird die Serie dann fortgesetzt. Warum man das auch hier gemacht hat ist mir schleierhaft.
Weil man sich sklavisch an die Comic-Vorlage hält. Der Großteil der Folgen folgt den Comics bis hin zu einzelnen Bildern. Was ein Grund ist, warum die Serie letztlich unbefriedigend ist. Was bei "American Gods" so OTT war, ist hier undramatisch und oft schlichtweg langweilig. Comic-Dramaturgie ist keine Filmdramaturgie, da haben Drehbücher und Regie zu oft versagt, um mehr als eine dahinplätschernde Handlung hinzubekommen.

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