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Der Zauberzirkus - Für Erwachsene. Aber nicht nur

Der Zauberzirkus

Für Erwachsene. Aber nicht nur.

Gleich zwei Zauberspiegel-Mitarbeiter – nämlich Lars Vollbrecht und Martin Eisele-Baresch – zeichnen verantwortlich für das Buch „Der Zauberzirkus“, das kürzlich in einer Neuausgabe mit Variant-Cover veröffentlicht wurde.
Vorgelegt hat den 189 Seiten dicken Schmöker voller phantastischer Geschichten als E-Book, Paperback und Hardcover (im Print im Format C-5) der kleine aber feine Verlag >thrillkult Books (www.thrillkult.de), der sich auf die Veröffentlichung von Spannungsromanen konzentriert, aber ganz bewusst nicht weiter in Massen produzieren will, nachdem er ab 2012 einen Großteil von Martins kompletter (und laut Wikipedia und dem „Lexikon der Fantasy-Literatur“ immenser) Heftroman-Backlist in digitalisierter Form in die Stores gebracht hat.


Statt wie andere E-Book-Verlage wild drauflos vom Arzt- bis zum „Western ab 18“ alles zu publizieren, wendet sich >thrillkult ab 2025 mit einem sorgfältig zusammengestellten Programm umfangreicheren „Lieblingsprojekten“ zu. Das erste ist mit „Der Zauberzirkus“ erschienen, einem „Abenteuerschmöker“, der von Jungen (m/w) und von Junggebliebenen gleichermaßen gelesen werden kann.
Illustriert wurde – definitiv ohne KI-Mitwirkung!) „Der Zauberzirkus“ durchgängig von Lars. Selbst die E-Book-Ausgabe enthält sämtliche Illus.

Üblich ist das keineswegs, bedeutet es doch einigen Mehraufwand bei der Herstellung.

Auf dem Zauberspiegel wurde dieses Buch schon besprochen.

Martin hat uns eine Leseprobe der Titelgeschichte zur Verfügung gestellt:

DER ZAUBERZIRKUS

Direkt nach der Explosion des Nordflügels der Mitternachtsschule knallte es gleich nochmal, und schon saß der heftigst selbstgefällige und ziemlich unheimliche Direktor des Zauberzirkus` wieder auf dem Kutschbock des uralten Zirkuswagens.
Wie immer, wenn er sich mit einem zeitlosen Hüpfer davongemacht hatte und ihm ein bombastisches Zauber-Missgeschick unterlaufen war, tat er, als sei er nie weggewesen. Diesmal schlug er mit einer Krallenhand bemüht unauffällig nach den qualmenden Enden seines Oberlippenbarts und mit der anderen riss er hektisch an den dank Zauberei wie Blitze irrlichternden Zügeln.
„Los … mach` schon, ab die Post, letzter Erster Leitwagenzieher!“, schrie er total überflüssig außerdem noch mit überschnappender Stimme. „Nichts wie weg, bevor die Wolkentrolle merken, dass wir das waren, und sich über uns hermachen!“
Wir?, durchfuhr es Fridofolus. Aber er ließ sich kein zweites Mal bitten. Wiehernd bäumte er sich auf und schnellte sich mit aller Kraft von der Wolkenballung ab und nach vorn. Und beschleunigte mit atemberaubenden Werten … ausnahmsweise einmal, ohne allzu große Rücksicht auf den Chef und den geheimnisvollen Zirkuswagen zu nehmen, der innen millionenfach größer war als er von außen aussah, und für den er genauso verantwortlich war wie für alle Wunderwesen, die darin lebten.
Der Himmel sah plötzlich aus, als würde er wie Zuckerguss gleich in tausend Stücke zerbrechen. Trotzdem hob Fridofolus mit einem letzten energischen Flügelschlagen endgültig vom strudelnden Wolkenboden ab.
Es war dunkel geworden, und giftgrün loderte es in allen Himmelsrichtungen vor ihm und hinter den fernen Horizonten. In der bodenlosen Tiefe zwischen den Dimensionsspalten sowieso. Weit und breit war keine Sternenbrücke in Sicht.
Dafür flogen dem Zirkusdirektor und Fridofolus von der in Flammen stehenden Mitternachtsschule her noch immer allerlei Dachplatten, Schulbänke und andere qualmende Trümmer um die Ohren. Wie Fridofolus` kraftvollen Schwingen sie samt Wagen undsoweiter rasant und nahe an Warp III höher trugen, versengten ihm wirbelnde Glutfunken die flatternde Mähne und das schneeweiße Fell. Aber darauf achtete er nicht. Ihm genügte es, zu wissen, dass er den Zauberzirkus schnell genug irrwitzig genug hoch empor und damit in Sicherheit trug.
Außerdem fluchte der Direktor hinter ihm auf dem Kutschbock so schön panisch.

****
Vermutlich nicht grundlos.
Dass im Inneren des Zirkuswagens allerdings auch die Wunderwesen voller Angst wild durcheinander kreischten, weil der Wagen so wahnwitzig hin und her schlenkerte, das bedauerte Fridofolus hingegen sehr. Aber, tja! Anders ging es nun mal nicht, wenn man von jetzt auf sofort mit dem gesamten Zauberzirkus im Schlepptau einen Alarmfluchtstart ins Ungewisse hatte hinlegen müssen.

****
„Leute, chillt mal!“, brüllte Fridofolus schließlich nach hinten, „ich bin auch nur ein Pegasus!“
„Trotzdem: Als demnächst einsam ruhmreichster zauberkünstlerische Direktor unseres geliebten Unternehmens befehle ich dir: Leg` dich ins Geschirr, Gaul mit Flügeln, sonst – “
„Ja, ja, Herr Baron“, maulte Fridofolus und verdrehte genervt die Augen, „sonst verwandelt Ihr mich in eine Rückwärtsschleichende Sabbernde Schlabberschnecke.“
„Mindestens. Und zwar, ohne mit der Wimper zu zucken. Weil ich nämlich auch äußerst gefährlich sein kann, sobald ich stinksauer werde. Und das werde ich, ich spür`s genau … Und wehe, wenn durch eins deiner Flug-Kunststückchen auch nur einem meiner Untertanen … äh, Mitarbeiter auch nur ein Reißzahn ausgeschlagen wird … oder meine geliebte Spezial-Rosenzüchtung Rrrosémarie auch nur eine Dorne verliert, oder die grüngeschwänzten Rübenflügler wieder mit ihrem Gejammer loslegen. Du weißt, wie die auf sowas reagieren. Ach, und pass bloß auf, dass mein wunderschöner Wagen nur ja keinen Kratzer abbekommt! Der ist so alt und wertvoll wie das Zauberergesetz der Ältesten! Und jetzt genug geplappert! Hopp, hopp, ab im wilden Galopp, sonst –“
„Schon klar, Chef“, unterbrach Fridofolus hohntriefend „Die folgenden zehn Eurer wohlfeilen Worte dürften mir seit Euren letzten elf derartigen Drohungen noch geläufig sein, wenn ich mich nur ein bisschen konzentriere.“
„Wohlan, Gaul! Dann hurtig weiter! Es gilt, eine verdammt alles entscheidende Wette zu gewinnen und zu überleben“, schrie der Baron, dessen Namen bis heute noch niemand zu hören bekommen hatte. Und natürlich knallte er ihm als Zugabe noch eins mit den flammenden Zügeln über die Kruppe. „Du weißt, was auf dem Spiel steht! Von Camelon sind wir doch auch prima weggekommen, und da waren noch ganz andere Widrigkeiten zu bewältigen …“
„… und auf der Welt der Hundert Meere erst“, erinnerte Fridofolus boshaft und legte sich mit einem Ruck so heftig in die Kurve, dass sein Chef alle Krallenhände voll damit zu tun hatte, um nur ja nicht in die Tiefe zu stürzen.
Fridofolus` engelsgleichen Schwingen peitschten ungerührt voll wilder Anmut die Feuerwogen davon, die vom Explosionsherd weit hinter ihnen noch immer wie eine Brandung heran wogten.
Aber die Mitternachtsschule selbst, die auf ihrer extra rabenschwarzen Gewitterwolke hoch in den Lüften immer genau mitten in der Mitternacht um jene Welt kreiste, für deren Wunderwesen sie zuständig war, blieb nun rasch hinter ihnen zurück.
Und mit ihr die Monster, die dort für die Brandbekämpfung zuständig waren. Und die Armee der Wolkentrolle mit ihren mechanischen Sturmlings-Generälen.
Trotzdem flog Fridofolus, nicht nur eingedenk des sensationellen Army-Werbefilms „Top Gun“, immer noch schneller. Und vergaß auch nicht, Haken und Salti in ihre verwegene kleine Flucht einzubauen.
Erstens, weil: ein kleiner Geschwindigkeitsrausch ihm noch immer gut getan hatte.
Und zweitens, natürlich, weil der Baron seltener seine selten-dämlichen Drohungen ausstieß, wenn er so hoch droben mit ihm so rasant dahin galoppierte. Fridofolus gestattete sich ein zufriedenes Kichern und durchbrach in Hyperschallgeschwindigkeit eine Schallmauer nach der anderen und zog, nur um den Baron ein bisschen an ein weiteres seiner kleinen Zauberer-Missgeschicke zu erinnern, noch kurz eine Schleife über der Welt der Hundert Meere und einige dort unten qualmend dahintreibende Dreimastsegler, deren Mannschaften mit geballt himmelwärts gereckten Fäusten und wüsten Flüchen reagierten, kaum, dass sie ihrer angesichtig wurden.
Tja, und gerade, als Fridofolus tief unten einen prächtigen noch unversehrten Dreimastsegler erblickte und sich über dessen Namen Die Wilde Dorry wunderte … Gerade, als Fridofolus sich fast so selbstgefällig fühlte wie der ziemlich unheimliche namenlose Direktor des Zauberzirkus …
Da passierte es!
„Pass auf!“, brüllte der Baron. „Da kommt uns was entgegen!“
Fridofolus kniff verdutzt die Augen zusammen und schielte nach vorn.
Tatsächlich, durchfuhr es ihn. Ich schmeiß mich weg. Da ist was.
Ziemlich groß. Ziemlich geschuppt. Mit ziemlich dolchartigen Krallen an Füßen, die genau auf mich zurasen und mich möglicherweise gleich abmurksen.

****
„Hah! Da ist es ja, das Himmelsgeschenk, das mein Berater prophezeite!“
Fridofolus traute seinen Ohren nicht.
„Preiset die Knochenzeichen des Schab-Schababb!“, jubelte der Baron weiter. „Genau so eine grausige Attraktion fehlte dem Zauberzirkus noch! Die Leute aller Welten lieben Unheimlichkeiten und Monstrositäten und riesige Bestien. Kurzum: Nervenkitzel! Dieses … monströse Ding werde ich für unser Zirkus-Unternehmen einfangen. Als Spezial-Attraktion.“
„Oh, nein …“
„Oh, doch! Schließlich beherrsche ich das Zauberhandwerk aus dem Effeff und bin, sobald die lächerliche Wette gewonnen ist, der einsam ruhmreichste alleroberste zauberkünstlerische Direktor des …“ Der Rest seiner Ansprache verging in einem Donnerschlag, wie Fridofolus noch keinen gehört hatte.
Klauen aus eiskaltem Feuer griffen über ihn hinweg und nach dem ziemlich großen monströsen Schuppending. Das sie mühelos abschüttelte. Im nächsten Moment blitzten die Dolchkrallen des Schuppendings direkt vor Fridofolus` Nüstern. Außerdem erspähte er noch zwei wunderliche Gestalten, die auf dem Monstrum ritten.
Dann wurde es dunkelste Nacht für Fridofolus, weil ungeheuerliche, mit Hornplatten gepanzerte Schwingen ihn umfassten und einhüllten und er deshalb nichts mehr sah.
Allerdings spürte er sehr deutlich, dass er mitsamt Baron, Zauberzirkus und allem abstürzte und eine Dimensionswand durchschlug. Und dann eine Betonmauer und noch eine.
Ganz zuletzt hörte er nur noch, wie der Baron hauchte: „Jetzt sitzen wir zwar in der Falle, aber meine Zirkus-Attraktionen hab ich mir geschnappt! Du kannst die Augen wieder aufmachen, Gaul. Dann verrate ich dir auch, was wir jetzt machen müssen, damit die Wette noch zu gewinnen ist … Und du und die anderen … ähm … Künstler meines Unternehmens nicht ausgerechnet jetzt, wo euer Direktor euch am dringendsten braucht, ratzfatz eines grässlichen Todes sterben müssen.“

****
Schock! – Schlagartig ging etwas Merkwürdiges vor – mit ihr und mit der Welt ringsum.
Wenn es je so etwas wie einen verhexten Tag gegeben hat, dachte Liana, dann ist es genau dieser hier.
Und zwar einer mit gruseligen Vorzeichen, die nichts Gutes verhießen.
Gerade noch hatte sie zusammen mit ihrer besten Freundin Henry Eis geschleckt auf dem Schlossplatz vor dem neuen Rathaus. Klar, bis vor einer halben Sekunde war es nämlich noch ein wunderschöner Tag Anfang August gewesen, endlich warm und gemütlich und mit fernem, fröhlichen Gelächter in der Luft … Und Batsch! – tobten plötzlich Schnee- und Hagelschauer durch die Stadt!
Einer der Sonnenschirme vom Eis-Café Mare wirbelte umgekehrt herum hoch in den Himmel. In einen schattenhaften Drachen verwandelt, verschwand er hinter milchigen Schleiern aus Wolken und Schnee.
Über das schöne neue Rathaus aus rostbraunen Ziegelsteinen schien eine Lawine niederzugehen. Nebelgrau wogte und brodelte es aus einem strahlend blauen Himmel, und dann war es überall nur noch wirbelnd weiß. Himmel, Wolken, Nebel und Schnee sahen ganz danach aus, als würde man sie demnächst schon über die neuen Fliesen des Schlossplatzes kratzen hören.
„No! No! No!” brüllte Signore Terrotta aus Leibeskräften. Hüpfend und mit beiden Händen um sich grabschend stürmte er in Schlangenlinien und Zick-zack-Sprüngen über den Schlossplatz. Offenbar glaubte er wirklich, er könnte seinen Sonnenschirm wieder einfangen.
Konnte er natürlich nicht.
Liana wechselte mit ihrer besten Freundin Henry einen Blick.
„Also, mein alter Herr würde nach so was flott einen krass spannenden Gruselroman schreiben“, sprach Henry eine ihrer perfekt cool verpackten Warnungen aus.
„Drakuletta King gegen die Juli-Schnee-Monster“, bestätigte Liana und warf ihre Eistüte in den Abfalleimer. Über die gutherzige und gleichzeitig mörderisch gefährliche Halb-Vampirin Drakuletta hatte Henrys Vater nämlich schon ein paar Dutzend Romane geschrieben. Die sie übrigens alle kichernd und schaudernd zugleich verschlungen hatte.
„Oder Killer-Schneeflocken über Eislingen.“
„Er hat`s einfach drauf, mit seinem angeborenen Hang zu seltsamen Grusel-Ideen!“, lobte Liana. „Aber, okay, hauen wir ab. Mein Po fühlt sich schon ganz eisgekühlt an.“
„Und meiner erst! Man muss ja nicht so dämlich sein, wie all die Mädels in den alten Serienmörder-Filmen, die genau wissen, dass in dem dunklen Haus ein Irrer mit einem Messer herum schleicht – und trotzdem rein gehen in dieses Haus und ´Hallöchen, ist da jemand?` piepsen.“
Sie verabschiedeten sich mit einer burschikosen Umarmung und trabten los, Henry nach rechts, Liana nach links. Einer der Jungs in Jeans und Muscle-Shirts rief hinter ihnen her: „Braucht ihr männlichen Schutz?“ Seine Stimme bibberte zwar deutlich wegen der plötzlichen Kälte, aber er gab sich alle Mühe, männlich und draufgängerisch zu klingen in seinem Muscle-Shirt. Nur die graupelige Gänsehaut auf den Armen verriet ihn.
„Logo. Und wie. Wenn du einen siehst, sag uns Bescheid.“
Kurz darauf rannte Liana zum ersten Mal gegen die Stange eines Verkehrsschildes und begriff, dass der Optikermeister ihr vorhin die falschen Gläser in das neue randlos-runde Brillengestell eingesetzt hatte.
Nicht toll, bei so einem Wetter, dachte sie und steckte die Brille kurz entschlossen in die hintere Tasche ihrer ausgebleichten Jeans. Damit aber war sie nun fast so blind wie ein Radieschen, das sich zufällig in einen pechschwarzen Keller verirrt hatte.

****
Von beunruhigenden Vorahnungen beflügelt, beeilte sie sich, durch heulenden Sturm und brausendes Schneetreiben so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
Schon bald merkte sie, dass die Sache mit dem Schnee und der Brille sozusagen nur die Spitzen des Eisbergs waren.
Etwas Geheimnisvolles war geschehen und geschah noch immer. Nach und nach verstummten immer mehr Geräusche, als würden sich nicht, wie jeden Tag um die Feierabendzeit, endlose Autoschlangen auf der großen Brücke stauen, die über den Fluss und die Bahngleise führte. Mittlerweile war es auch so kalt geworden, dass Liana ernsthaft damit rechnete, schon beim nächsten Schritt am Boden festzufrieren.
Aber das geschah natürlich nicht. Auch ihre sanft aufeinander klappernden Zahnreihen froren noch nicht aneinander fest.
Noch nicht, dachte sie brummig.
Sie hatte gelernt, diesem Tag gehörig zu misstrauen.
Schneeflocken landeten auf ihren wild flatternden roten Haaren, ihren sieben Sommersprossen auf und rund um ihre Stupsnase, und je schneller sie rannte, desto nachdrücklicher blies ihr der Wind entgegen … und sogar durch sie hindurch. Ihr Shirt mit dem Grinse-Gesicht des Jokers vorne drauf hing jedenfalls klatschnass und beinahe schon steif gefroren an ihr.
Normalerweise hätte ihr dies trotz allem keine Angst eingejagt, sondern, im Gegenteil, sogar Spaß gemacht. Sie liebte den Wind und seine übermütigen Streiche. Außerdem: Auch, wenn sie vorsichtig und misstrauisch war – so schnell fürchtete sie sich vor gar nichts.
Aber das hier war etwas völlig anderes.
Hinter ihr bewegte sich verstohlen etwas!
Etwas Großes, das mal schemenhaft zu erkennen war – und dann wieder nicht.
Oder bildete sie sich die Schritte im bleichen Nichts ringsum etwa nur ein? Und das Klappern, wie von einem Teufelsfuß mit Hufeisen unten drauf? Dieses Klappern war ihr für ihren Geschmack auf alle Fälle schon viel zu nahe gekommen.
Liana rutschte auf vereistem Schnee aus und schlingerte um die nächste Straßenecke. Noch mehr Schneeflocken tanzten wie weiße Motten vor ihr und verklebten ihre Wimpern. Fast hätte sie das nächste Verkehrsschild umarmt, diesmal dasjenige, das hier die Parkverbotszone anzeigte, und, dass sie so gut wie zu Hause war.
„Hah!“, rief sie gleich darauf, drückte die Haustür auf und wirbelte von einem Schwall eisiger Flocken umtanzt ins Innere.
Den uralten quietschenden Aufzug-Käfig ignorierte sie. Der zuckelte so langsam nach oben, dass man den eigenen Fingernägeln beim wachsen zusehen konnte. Die schätzungsweise eine Million Treppenstufen in den achten Stock hinauf schaffte sie heute hingegen in Rekordzeit.
Oben angekommen, schloss sie die Wohnungstür auf, huschte in die gemütliche Altbauwohnung und fühlte sich endgültig in Sicherheit.
Die Killer-Schneeflocken hatten sie nicht erwischt. Nur – so total richtig in Sicherheit fühlte sie sich trotzdem nicht.
Aus dem Augenwinkel heraus hatte sie nämlich noch gesehen, wer … oder besser: WAS sie verfolgt hatte.
Es war etwas, das es unmöglich geben konnte!
„Vergiss nicht, du hast keine Brille auf!“, ermahnte sie sich.
War das wirklich ihre eigene Stimme, die ihr diesen Rat erteilte? Mit dem Rücken gegen die Wohnungstür gelehnt, wartete sie darauf, dass ihr Herz wieder ein wenig langsamer schlug.

****
„Noch ein einziger winziger Fehler, und du bist eine Beute der Schleimmonster von Schmonz!“, gellte ein schauerliches Triumph-Geheul durch die Wohnung.
„Haij! Noch habe ich das blitzende Wunderschwert, vergiss das nicht, Sohn!“
„Ich heiße Bommba, Dad!“
„Ich genieße Sonderrechte, -Bommba-Sohn.“
„Manno, das hier ist ein logisches Computer-Fantasy-Action-Abenteuer und nicht Schweinchen Dick im Doofiland. Dein Abenteurerwichtel Conan Caradoc hat sein Wunderschwert längst in der Kammer der Schmatzenden Schatten verloren!“
„Trotzdem habe ich Sonderrechte inne, solange du –“
„Nicht, wenn dein Abenteurerwichtel-Avatar erledigt und toter als mausetot ist!“
„Merke dir, Sohn – eine Steigerung von tot gibt es nicht.“
„Hier tobt eine Wahlsinns-Entscheidungsschlacht gegen die Schleimmonster, da merkt man sich nichts, da kämpft man, und zwar um den Fortbestand des gesamten Elfenreiches!“
Die hitzigen Stimmen ihres Vaters und Bruders begleiteten Liana auf ihrem einsamen Weg an Bommbas Zimmer vorbei und durch die Wohnung ihrer Eltern.
Wenigstens war es hier drin noch augustmäßig warm.
Liana übersah den Text, den ihr Bruder Linus in Großbuchstaben und mit nicht wenigen Totenköpfen und Schreibfehlern veredelt auf das Schild an seiner Zimmertür gekrakelt hatte.
SPERRGEPIET! LEBENSGEFARR!
ZUHTRITT NUR FÜR BOMMBA DEN BOMBASTISCHEN!
NICHT FÜHR WEIBLICHE ELTERNTEILE!
NICHT FÜHR MÄDCHEN, DIE ZUFÄLLIG MEINE SCHWESTER SIND!
Seufzend wartete sie einen günstigen Moment ab, der sich vermutlich erst in ihrem übernächsten Leben ergeben würde. Dann jedoch riss sie trotzdem schon, als sie auf dreieinhalb gezählt hatte, entschlossen die Tür auf, die in Bommbas stets dämmriges Reich führte. Ausnahmsweise ballerte sie den beiden Spiele-Freaks auch sofort ihre Botschaft um die Ohren. „Dad! Ein uralter Zirkuswagen hat mich bis vor die Haustür verfolgt und außerdem stürmt und schneit es plötzlich, was das Zeug hält, dabei ist es August …“
„Wie schön romantisch, mein Mädchen … Aber, ähm, Linus –“
„BOMMBA!“, brüllte Linus, „Mein Name ist Bommba, erst recht mitten in einer Entscheidungsschlacht!“
„Ähm … trotzdem erinnere ich mich nicht an Blubbernde Schatten.“
„SCHMATZENDE … Herrgott, Dad … äh, Conan, du treibst mich in den Wahnsinn!“
„Also, haltet euch fest, ihr heldenhaften Abenteurer – “ Liana achtete darauf, regelmäßig weiter zu atmen und weiter zu reden –, „gezogen wurde dieser Zirkuswagen von einem …von einem … äh … Pferd mit riesigen Flügeln, und, äh … Ich weiß, es klingt ein bisschen verrückt – “
„TOTAL, wie alles, was du von dir gibst!“, brüllte Bommba und raufte sich die schulterlangen Haare.
„Ein geflügeltes Ross nennt man Pegasus, mein Mädchen“, mischte sich Dad Heinz alias Conan Caradoc einfühlsam und geistesabwesend zugleich ein. „Der Begriff entstammt einer griechischen Sage. Sehr lesenswert, übrigens. Und das alles dürfte vor allem deine Mutter brennend interessieren, Schatz“, flötete der Abenteuerwichtel zerstreut weiter. „Ich hingegen kämpfe hier gerade den Kampf meines Lebens gegen die Schleimmonster von Schlonz!“
„SCHMONZ!“, flüsterte Bommba, eindeutig am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Hektisch tippte er mit beiden Zeigefingern auf den Tisch. Noch viel hektischere rote Flecken breiteten sich auf seinen Wangen aus.
Liana schloss die Tür zu diesem Reich des Wahnwitzes sehr behutsam hinter sich.
Zuerst.
Dann riss sie die Tür wieder auf und knallte sie mit aller Kraft ins Schloss.

****
Wider jedes bessere Wissen betrat sie nur wenig später mit Schwung das winzige Arbeitszimmer ihrer Mutter, die als Autorin einer großen Tageszeitung ihre Zeit damit verbrachte, hektisch und stets von Ablieferungsterminen getrieben supersensationelle Stories für ein danach gierendes Publikum in die Tasten ihres Laptops zu hämmern, womit sie also sozusagen fast eine Kollegin von Henrys Vater war.
„Ich bin total beschäfigt! Aber komm nur herein, Schatz, stör mich ruhig.“
„Mach ich, Mama. Danke.“
„Gute Mütter sind so, sie leiden still und sind stets heldinnenhaft für alle da.“
Buchstabenkolonnen huschten über den Monitor dicht vor der spitzen Nase ihrer Mutter:
Unheimlicher Bäckermeister als Einbrecherkönig entlarvt!, las Liana unwillkürlich mit. Nicht immer kommt alles Gute von oben!
Sobald Bäckermeister L. seine heimlich im Darknet gekaufte schwarze und vermutlich mit einem alten indianischen Fluch belegte Schornsteinfegerkleidung anlegt, verwandelt er sich in den skrupellosen …
„Die Schlagzeile ist wichtig, aber dann muss es erst neugierig machend und rasend flott abgehen im Text!“, verkündete ihre Mutter in verschwörerischem Tonfall, ohne die Tastatur auch nur eines Blickes zu würdigen oder gar aufzuhören wie rasend weiter zu tippen.
„Mam! Man hat mich verfolgt ...“
„Habe ich dir nicht Karate und Yoga beigebracht?“
„Du hast mir deinen total unglaubwürdigen sogenannten Exklusivbericht von diesem hundertjährigen Comic-Zeichner vorgelesen, der sich selber Karate beigebracht hat, bevor er als nächtlicher Kämpfer für Recht und Ordnung sorgte, bis er an einem Kreislaufkollaps gestorben ist.“
„Na siehst du. Sicherheitshalber trug er aber stets noch ein Blasrohr mit Giftpfeilen bei sich.“
„Mich hat ein … ähm … Pegasus mit einem uralten Zirkuswagen – “
„Gigantisch! Moment, Süße …“
„Mama!“
„Versteh doch, Kind, es gibt wichtige Dinge und noch viel wichtigere. Deine wahnwitzigen Stichworte muss ich mir sofort notieren. Pegasus. Zirkuswagen. Irre! Könnte zu meinem ohnehin schon schön schrägen Bäckermeisterbericht mit seinen fluchbeladenen Schornsteinfegerklamotten passen … Respekt! Die Phantasie kannst du nur von mir geerbt haben, niemals von diesem Abenteurerwichtel mit diesem Wunderschwert, das er ständig verliert.“
Noch viel schneller huschten die Finger ihrer Mutter umher.
Ein spektakulärer Anblick.
„Wir reden in einem Viertelstündchen über dein Pegasus-Problem, das ich zutiefst ernst nehme! Vielleicht kannst du ja inzwischen schon mal dem guten Caradoc einen kleinen Überblick über die Gesamtsituation geben. Er ist schon wieder viel zu lange dieser krass verpeilte Typ.“
„Nicht nur er!“, flötete Liana, ließ die nächste Tür krachen und verzog sich in ihr Zimmer. Flüche murmelnd, rubbelte sie sich dort die Schneeflocken aus den Haaren, zog trockene Schlabberlook-Sachen an, ließ sich sehr langsam auf ihr nicht gemachtes Bett nieder und dann mit ausgebreiteten Armen nach hinten fallen.
Wie so oft gab sie sich alle Mühe, nicht laut zu schreien.
Schließlich nahm sie aus dem Durcheinander ihres kreativ unordentlichen Zimmers eines ihrer vielen Bücher zur Hand – und stellte es wieder weg. Ausnahmsweise wollte sie nichts von einer Fließenden Königin lesen. Es reichte vollauf, dass sie sich selbst wie zerfließend vorkam. Außerdem schrieb dieser Kai Meyer nicht mehr für 14jährige.
„Pffft!“, machte sie. Tatenlos hier herumliegen wollte sie eigentlich auch nicht.
Sie wollte zornbebend zum Fenster stapfen und hinausspähen.
Sie wollte wissen, ob der Pegasus noch unten stand.
Der Pegasus und dieser abwechselnd komisch bunte und schemenhaft graue Zirkuswagen, den das geflügelte Pferd hinter sich her gezogen hatte.
Das alles wollte sie, aber sie würde es nicht tun, denn, merke: Es gibt keine geflügelten Pferde auf dieser Welt der Autos und Computer. Genauso wenig wie es eine Drakuletta King gab. Oder Abenteurerwichtel, die ihr blitzendes Wunderschwert in der Kammer der Schmatzenden Schatten verloren, ohne das zu merken.
Etwas knallte gegen ihr Fenster.
Qietschend und quälend langsam rutschte es an der Glasscheibe entlang nach unten.
„Genau!“, stieß Liana hervor und schnaubte. „Brille oder nicht. Geflügelte Pferde gibt es nicht! Nicht einfach so mir nichts, dir nichts.“
Sie sprang vom Bett und zog ihre Hausschuhe mit den aufgenähten Hasenohren aus Stoff an – eine deutlich sichtbare Warnung für gewisse Familienmitglieder, dass ihre Stimmung knapp über dem absoluten Nullpunkt pendelte. Sehr knapp.
Es klopfte fordernd, und sie wusste sofort, wo.
Nicht an ihrer Zimmertür. Oh nein.

****
Schneeflocken prasselten wie Geschosse gegen das Fenster.
Genau dorthin hatte der eisige Wind außer diesen Geschoss-Schneeflocken auch noch etwas anderes getrieben. Das nämlich, was vorhin dagegen geknallt war.
Eine sehr kleine Gestalt war es, ein bisschen größer als ein Eichhörnchen, jedoch eindeutig menschlich, auch wenn das Gesicht momentan gegen die Scheibe gequetscht und wie frisch aus einem Waffeleisen geholt wirkte, rot und mit unnatürlich weit und sehr ärgerlich aufgerissenen Augen und Mund. Über dem ein sichelschmaler Oberlippenbart in vornehm gezwirbelten Bartenden emporragte.
Ein altmodischer schwarzer Schlapphut hingegen hing ziemlich jämmerlich verrutscht halb im Nacken des Männchens, eine hohe, oben traurig abgeknickte Hutspitze wippte heftig im Takt der Sturmböen und Schneeschauer. Winzige Fäuste hämmerten noch heftiger gegen die Scheibe. Das gerötete Gesichtchen sah ziemlich genau so aus, wie das Gesicht von jemandem eben aussieht, dessen Stimmung knapp über dem absoluten Nullpunkt pendelte. Sehr knapp.
Da Liana sich nur selten mal aus der Ruhe bringen ließ, schnappte sie sich erstmal ihre Lesebrille.
Die setzte sie sorgfältig auf und betrachtete ihren Besucher aus sicherer Entfernung.
Ihr Zimmer lag immerhin im achten Stock.
Andererseits gab es Momente, da überwog die Neugier. Da reagierte man, auch wenn man kein kleines Kind mehr war, schließlich doch noch viel schneller, als man denken und sich fürchten konnte.
Furchtbar verwandelter unheimlicher Bäckermeister überfällt Teenie in Hasenohrenhausschuhen!
Die spektakuläre Schlagzeile des nächsten Morgens vor Augen, höchstpersönlich verbrochen von ihrer Mutter, stapfte sie entschlossen zum Fenster. Mit geballten Fäusten.
Die Gestalt draußen hämmerte inzwischen nicht mehr nur mit beiden Fäusten gegen die Scheibe. Jetzt knallte sie auch noch wenig rhythmisch die Stirn dagegen.
Und rutschte dadurch noch schneller abwärts.
„Aufmachen, verdammt! Und bei allen Grüngeschwänzten Rübenflüglern!“
Lianas Knie verwandelten sich in Softeis, trotzdem kam sie am Fenster an; ihr Herz klopfte noch stürmischer als der kleine Fensterklopfer, und alles in ihr hallte davon wider. Eigentlich ist das ein Fall für meine Mutter, oder, noch besser, für meinen Bruder Bommba, den Abenteuerspezialisten, dachte sie hektisch.
Aber sie schrie noch immer nicht um Hilfe.
Sie öffnete das Fenster.
Ein Eishauch raubte ihr den Atem.
Pulverige Schneeflocken füllten ihren Mund. Und kaum, dass sie ihn verdutzt erneut öffnete, um etwas zu sagen, eine Begrüßung vielleicht, so hyperkrass das unter solchen Umständen auch sein mochte, da bekam sie gleich noch einen Schwall ab. Diesmal einen mit Eisklümpchen vermengt. Ihr Bauch begann protestierend zu grummeln. Eine deutliche Warnung, dass er für heute genug hatte von Eis aller Art.
Mit dem Schneehauch und dem Flockenschwall wirbelte ihr der geheimnisvolle Wicht entgegen, segelte haarscharf an ihrem linken Ohr vorbei und landete auf dem Tischchen in der Zimmermitte, genauer gesagt: in der großen Schale mit den Kartoffelchips, die ihre Mutter dort immer mit den mahnenden Worten abstellte: „Du bist zu dünn, Süße, das kann nicht gesund sein!“
Verblüffend schnell und würdevoll richtete der Besucher auf – und erinnerte sie erst recht deutlich an diesen Isnogud, der immer Kalif werden wollte anstelle des Kalifen. Als er sich ihres skeptischen Blicks bewusst wurde, reckte er sich, spuckte drei Chips aus, klopfte eine Menge Krümel von seiner vornehmen dunkelroten Samtweste und warf mit großer Geste seinen schwarzen Umhang über die Schulter zurück.
„Beschissener Auftritt, zugegeben. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren!“, sagte er hastig. „Du bist doch hoffentlich sonst nicht so langsam von Begriff, oder?“
„Ich bekomme nicht so oft Besuch durch dieses Fenster hier im achten Stock.“
Der Besucher überhörte den dezenten Vorwurf und rückte geziert und hastig zugleich seinen übel verrutschten Schlapphut mit der hohen Spitze – die weiterhin wippte – so auf seinem Kopf zurecht, dass die beiden kleinen, rot geschuppten Teufelshörnchen zu beiden Seiten seiner Stirn wieder darunter getarnt waren.

****
„Und jetzt?“, fuhr Liana ihn an.
„Ähm… Den Zauberzirkus retten. Und damit auch deine Welt. Was denn sonst?“


Copyright © 2025: Martin Eisele-Baresch

 

 

 

 

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