Lesevergnügen zum Verschlingen - Piratenherz von Marliese Arold
Lesevergnügen zum Verschlingen
»Piratenherz« von Marliese Arold
Rebekka ist am Boden zerstört. Nach dem Tod ihrer Mutter stellt sich heraus, dass die Familie auch noch schwer verschuldet ist: Das Geschäft des Vaters pleite, dazu die Kosten für die Behandlung ihrer Mutter ... Ihr Vater sieht keine andere Wahl als das Haus zu verkaufen und samt ihr und ihrem kleinen Bruder Simon nach Hamburg zu ziehen. Davon ist Rebekka alles andere als begeistert. Nicht nur, weil sie nun auch noch ihr Zuhause verliert, viel schlimmer: sie werden in der Villa der Familie ihres Vaters leben, gemeinsam mit ihrer Großmutter Cäcilie Eckershausen.
"Cäcilie Eckershausen, war eine hochgewachsene schlanke Frau.
Trotz ihrer neunundsechzig Jahre war ihr Gesicht faltenlos. Sie hatte ihr schwarz gefärbtes Haar kurz geschnitten und leicht toupiert, was sie noch größer erscheinen ließ. An diesem Abend trug sie einen bordeauxfarbenen Rock und eine weiße Bluse, beides schlicht geschnitten, aber garantiert sehr teuer, dazu weiße Pumps.
Ich roch den Duft von Chanel Nr. 5."
Die alte Dame ist eine Hanseatin alter Schule, Inhaberin einer renommierten Reederei, also ein "Pfeffersack" reinsten Wassers, vor allem aber hat sie die Ehe ihres Sohnes mit einer Künstlerin aus einfacher Familie nicht gebilligt. Entsprechend kühl waren die Beziehungen, Kontakt zwischen den Familien fand praktisch nicht statt. Rebekka hasst die Mutter ihres Vaters, denn sobald die Familie ihren Fuß über die Schwelle der alten Hanseatenvilla gesetzt hat, übernimmt die alte Dame das Regiment. Ihr Bruder und sie werden auf Privatschulen angemeldet, die Gemälde, die ihre verstorbene Mutter gemalt hat, werden auf dem Dachboden verstaut, der Vater wird von seiner Arbeit in der Reederei vereinnahmt und hat für die Kinder noch weniger Zeit als zuvor.
In der neuen Klasse findet sich Rebekka erstaunlich schnell zurecht, nicht zuletzt als sie Juri kennenlernt, einen notorischen Schulschwänzer und Mädchenschwarm, der mit Geld nur so um sich zu werfen scheint. Je mehr sie den jungen Mann aus reicher Familie kennenlernt, desto verwirrender wird Rebekkas Leben. Stück für Stück scheint sie in einer mysteriösen Geschichte zu versinken, die sich ihr förmlich aufdrängt. Ein Schiff im Nebel, Träume von einer verzweifelten Flucht in einem Boot, Juri an ihrer Seite, sie findet sich als Katharina die Kaufmannstochter wieder. Und während sich Rebekka mehr und mehr in Juri verliebt, beginnt sie um ihren Verstand zu fürchten.
Bis eines Tages ihre Realität und die unerklärliche Fantasiewelt aufeinanderprallen...
Wenn ich noch mehr schreiben würde, wäre Spoilern unvermeidlich, und das will ich auf keinen Fall, denn die Geschichte hat es verdient, ungespoilert gelesen zu werden.
Ehrlich gesagt hätte ich nur anhand des Covers nicht zu diesem Buch gegriffen, denn der Charme der Geschichte wird in keinster Weise aufgegriffen. Das ist sehr schade, denn schließlich werden Bücher in erster Linie durch das Cover und den Klappentext verkauft. Da droht das Buch wirklich unterzugehen. Was ein echter Verlust wäre.
Piratenherz besticht durch zwei ineinander verwobene Handlungen, die sich immer wieder streifen, und bei denen man immer wieder ahnt, dass es natürlich einen Zusammenhang gibt - das Vorrecht des Lesers gegenüber den handelnden Personen - bei denen es jedoch bis zum Schluss des Buches spannend bleibt.
Auf einmal war es, als würde der Himmel sich verfinstern, der eben noch strahlend blau gewesen war. Dunkle Wolken zogen auf, sie ballten sich drohend zusammen. Alles schien sich im Zeitraffer abzuspielen. Und da war auch schon die graue Regenwand, die auf mich zukam ... Während ich das Schauspiel fassungslos beobachtete, teilte sich der Regenvorhang und gab ein Segelschiff frei. Es war ein uraltes Schiff wie aus früherer Zeit, es schwankte auf den Wellen und die Segel flatterten wild im Wind. Ich sah die Besatzung, die verzweifelt gegen den Sturm ankämpfte. (...)
Ich hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut, weil ich nicht begriff, was sich da vor mir abspielte. Es widersprach aller Logik. Wie konnte sich so ein altes Segelschiff auf dem kleinen See befinden? Woher kam dieser plötzliche Sturm? Und was war mit meinem Gehör los?
Es tauchen mysteriöse Zitate einer unbekannten Person auf, die nicht erklärt werden, und erst im Verlauf der Geschichte beginnen, einen Sinn zu machen.
Marliese Arold ist eine versierte Autorin, die schon über zweihundert Bücher im Lauf ihrer Schreibkarriere veröffentlicht hat. Sie schreibt Kinder- und Jugendbücher für eigentlich alle Altersklassen. Entsprechend erfahren ist sie in der Wahl der Themen.
Ich habe schon einiges von ihr gelesen, darunter ein paar Bände der Magic Girls, Edgar und die Schattenkatzen oder ihre Kurzgeschichte in Das Fest der Zwerge - Phantastische Weihnachtsstorys. Aber Piratenherz gehört für mich zweifellos zu den Besten ihrer Bücher.
Was Marliese Arolds Geschichten auszeichnet ist nicht die knallharte Action, man bekommt keinen Hard-Boiled-Krimi, dafür gut konstruierte Plots, verbunden mit einer gefühlvollen Art zu schreiben. Ihre Bücher zu lesen macht - verzeih mir bitte das etwas Schmalzige, Marliese - glücklich. Aber: Es geht nicht um "Friede, Freude, Eierkuchen". Die Autorin bietet keine heile Welt, das wird in Piratenherz schon durch die Hintergrundgeschichte deutlich, auch gibt es keine einfachen Antworten, beispielsweise wird die Beziehung zur Großmutter nicht auf magische Weise herzlich und gut. Aber sie zeigt, dass das Leben weitergeht, dass es sich einen Weg sucht, mit allen Schicksalsschlägen, aller Romantik, Herzschmerz, Freude und Trauer. In Piratenherz wird mir dies besonders deutlich.
Dabei bekommt man von Marliese Arold keine Holzhammer-Therapie, kein "Such dir ein Hobby um den Schmerz zu verarbeiten". Die Geschichte fließt, und die verschiedenen Anteile weben sich unauffällig ineinander. Der Leser wird nicht belehrt, sondern einfach mitgenommen.
Es fällt, wie in den meisten Geschichten, auch die besondere Art von Marliese Arold auf, das Tempo in der Geschichte zu gestalten. Intensive, ausführlich geschriebene Szenen wechseln sich ab mit eher knappen, wenig ausgeschmückten Handlungsteilen, die die Geschichte vorantreiben, verbinden und Spannung "herausnehmen". So schafft es die Autorin, eine umfangreiche Handlung und Zeitspannen zu schildern, ohne seitenlang Überbrückungen zu schreiben. Das sorgt natürlich für deutlich weniger Seiten und macht das Lesen angenehm, da man nicht das Gefühl hat, ein Stück Sahnetorte vor sich zu haben (heh, ich mag auch Sahnetorte, aber für Jugendliche könnte das dafür sorgen, dass man das Buch gelangweilt zur Seite legt).
Wer also am Tag vor Nikolaus noch ein besonderes Buch Jugendliche im Alter ab etwa 12 Jahren sucht (vor allem werden sich wohl Mädchen angesprochen fühlen), die gerne Bücher lesen, bei denen nicht in erster Linie die Action zählt, sondern Realität mit einem Schuss Abenteuer und Romantik schätzen, sollte nach dem Piratenherz Ausschau halten.
Piratenherz
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