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Ein wertvolles Buch - »Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken« von Nina Böhmer

Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin steckenEin wertvolles Buch
»Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken«

Nina Böhmer arbeitet in der Pflege, seit sie sechzehn ist. Ihr Beruf macht ihr großen Spaß. Eigentlich. Doch als sich während der Corona-Krise die ohnehin schlechten Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte noch mal verschärfen, platzt ihr der Kragen. Auf Facebook veröffentlicht sie eine Wutbotschaft, in der sie erklärt, warum sie viele Entscheidungen der Politik nicht nachvollziehen kann und warum sie es irgendwie als Hohn empfindet, wenn ihr auf einmal Applaus von Balkonen entgegenschallt.

Wo war der eigentlich vorher? Und wieso war er so schnell wieder vorbei? (1)

Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin steckenWorte des Unmutes
Hiermit möchte ich Euch das Buch einer Kollegin von mir vorstellen. Nina Böhmer ist Krankenpflegerin. Genauer gesagt ist sie Gesundheits- und Krankenpflegerin (kurz GuK). Seit der Generalisierung der Pflegefachberufe heißt der Beruf einheitlich Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann. Er umfasst alle Pflegefachberufe in einer Ausbildung von der Kinderkrankenpflege bis zur Altenpflege. Doch das ist ein anderes Thema.
Nina hat 2019 mit einer Wutbotschaft auf Facebook eine Diskussion losgetreten und ein Teil dieser Wutbotschaft ist der Titel ihres Buches. Sie beklagt darin den Pflegenotstand in Deutschland, der in der Corona-Krise erstmals in dem Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit drang, aber schon seit vielen Jahren da ist. Sie bemängelt den Applaus von den Balkonen, der allen Pflegekräften zuteilwurde, als es in der Corona-Krise hart auf hart ging. Denn dieser Applaus war reine Heuchelei. Die Pflegekräfte haben schon seit Jahren nach Hilfe geschrien. Doch niemand hörte ihnen zu. Eine starke Lobby wie etwa bei den Lokführern oder Piloten, oder gar bei den Autobauern fehlt Ihnen. Politisch wäre das höchstwahrscheinlich gar nicht gewollt.

Eindrucksvoll
In Ihrem eindrucksvollen Buch rechnet Nina ab mit dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn und sie zeigt ihren Alltag als Leasingkraft in unterschiedlichen Einrichtungen auf. Ein Alltag der zum Teil geprägt ist von unaussprechbaren. Von unwürdiger Behandlung, von Prioritäten setzen zu müssen (z.B. der Frage, wem man zuerst versorgt, den Fieberkranken oder den Sterbenden). Sie beschreibt die Wut im Bauch, die sie verspürt, wenn sie merkt, dass sie sich nicht aufteilen kann. Sie erzählt von unzulässigen Dingen bei der Berufsanleitung, die aber leider "Normal" sind.

Das Buch ist immer noch ein Gradmesser für mich. Inzwischen hat sich vieles in der Pflege verändert. Nicht unbedingt zum Besseren. Aber der massive Abgang von Kräften aus dem Beruf, hat die Verantwortlichen anscheinend zum Handeln gezwungen. Corona hat unglaubliches möglich gemacht. Es hat die Wahrheit an die Oberfläche gespült. Doch das Aussprechen dieser Wahrheit ist immer noch ein Problem für viele Verantwortliche. Den Notstand, den Nina Böhmer beschreibt haben viele Pflegekräfte über Jahre hinweg ertragen und mitgetragen. Doch nun kam Corona on Top. Das war das berühmte Tröpfchen. Die Verantwortung in Corona-Zeiten wurde zum Großteil auf die Pflegekräfte abgeladen. Menschen in Pflegeheimen durften lange keinen Besuch empfangen. Ich selbst erinnere mich an dramatische Szenen. Pflegekräfte mussten auf die Einhaltung der nicht unkomplizierten Corona-Regeln in ihren Einrichtungen achten. Sie standen mitunter in der Verantwortung und zum Teil unter Generalverdacht die Viren zu verteilen. Jedenfalls gab es oft genug entsprechende Medienberichte.

Stundenlang mussten Sie Schutzanzüge und Maske tragen und damit schwerste körperliche Arbeit verrichten.

Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin steckenDas hat viele aus dem Beruf getrieben. Hinzu kam eine völlig unsinnige und unlogische Impfpflicht für Pflegekräfte. Einige Pfleger haben sich anderen Aufgabenbereichen mit weniger Verantwortung und Last zugewandt. Auch wenn sie in der Pflege geblieben sind, so sind sie oft in den ambulanten Bereich gegangen.
Was Nina beschreibt und prophezeit, ist eingetroffen. 

Das hat Corona gemacht. Klar gab es immer einen Mangel und Krankenhäuser mussten Stationen schließen, aber dies greift immer mehr um sich - auch in Pflegeheimen.

Die andere Seite der Medaille ist, dass aufgrund des Personalschlüssels keine Bewohner mehr aufgenommen werden und viele auf einen dringend benötigten Heimplatz warten. Das zeigen Medienberichte nur vereinzelt und es zeigt, dass der Pflegenotstand längst in Bevölkerung angekommen ist.

Falscher Adressat
Inzwischen ist man mit Händen und Füßen dabei Pflegekräfte zu gewinnen. Vor allem Pflegefachkräfte. Es findet eine regelrechte Abwerbekampagne statt. Mit viel Geld werden Pflegefachkräfte zum Teil von den Einrichtungen abgeworben. Aber das ist nur ein Teil des Ganzen, denn die Leidtragenden sind Patienten und Bewohner. Wir alle können selbst Patient oder Bewohner werden. Morgen schon. Oder wir sind Angehörige eines solchen Patienten. Wenn dann irgendetwas nicht funktioniert, werden Pflegekräfte scharf angegangen. Obwohl die Politik der Adressat des Unmutes sein müsste. Auch dann ist von dem Applaus nichts mehr zu spüren, den Nina Böhmer zu Recht verflucht hat. Und Nina Böhmer zeigt auf, wie wichtig gerade die klinische Versorgung ist. Fallpauschalen sind nicht alles. Vieles an ihrem Buch hat mir aufgezeigt, dass viele Probleme oft die gleichen sind, sei es in der Klinik, im ambulanten oder gerontopsychiatrischen Bereich.

Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken
von Nina Böhmer

ca. 205 Seiten
HarperCollins (Juli 2020) 1. Auflage

(1) Inhaltsangabe

(c) by autor 01/23

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