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Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 6: Gerhart Hauptmann - Die Insel der Großen Mutter

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 6:
Gerhart Hauptmann: Die Insel der Großen Mutter

Phantastische Literatur in allen ihren verschiedenen Ausprägungen wird allgemein als Teil der Unterhaltungsliteratur betrachtet, um es deutlicher zu sagen der Trivialliteratur. Dass sich aber auch renommierte Autoren der deutschsprachigen Literatur, die zum Teil zu höchsten literarischen Ehren gelangten, mit utopischen und phantastischen Stoffen beschäftigten, wird in dieser Serie aufgezeigt.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Der schlesische Dichter Gerhart Hauptmann (1962 – 1946) zählt zweifellos zu den Giganten der deutschsprachigen Literatur. 1912 wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Im Unterschied zu den in den vorherigen Folgen dieser Artikel vorgestellten Schriftstellern war Hauptmann einer, der nicht wegen seiner Herkunft oder seiner politischen Einstellungen größere Schwierigkeiten mit dem jeweils herrschenden System hatte. Ein unkritischer Anhänger der Regierenden war er aber auch nicht. Hauptmann gilt als der bedeutendste Vertreter des Naturalismus. Schon in jungen Jahren trat er mit der Publikation von Dramen hervor. Vor Sonnenaufgang provozierte zwar einen Theaterskandal, bedeutete für ihn zwar den Durchbruch als Dramatiker. Die Weber, 1892 verfasst, thematisierte den Aufstand der schlesischen Weber und machte Hauptmann endgültig zur Berühmtheit.

Als der Erste Weltkrieg losbrach, stellte sich Hauptmann auf die Seite der Kriegsbefürworter und unterzeichnete auch das Manifest der 93, in dem Persönlichkeiten aus dem Kulturleben die deutschen Handlungen rechtfertigten. Kaiser Wilhelm II. war allerdings von Hauptmann nicht begeistert, denn er schien ihm zu sozialdemokratisch eingestellt. Die Kriegseuphorie legte sich bald. In der Weimarer Republik blieb Hauptmanns Ruhm ungebrochen, er war sogar im Gespräch für das Amt des Reichspräsidenten. Als die Nazis die Macht ergriffen, blieb Hauptmann unbehelligt. Sein Werk war zwar keinesfalls als nationalsozialistisch beeinflusst zu sehen, die Nazis wollten aber gern seinen Ruhm nutzen. Seinen Antrag, der Partei beizutreten, lehnten sie allerdings ab. Die deutsche Niederlage zertrümmerte das Leben des Gealterten. Die Zerstörung Dresdens führte zu seinem berühmten Satz „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.“ Hauptmann verbrachte seine letzte Zeit im schlesischen Agnetendorf, das russisch besetzt und unter polnische Verwaltung gestellt worden war. Die Ausweisung aus seiner Heimat stand bevor, aber Hauptmann musste die Vertreibung nicht mehr ertragen, denn er starb noch vorher. Er wurde auf der Ostseeinsel Hiddensee begraben, wo er viele Sommer seines Lebens verbracht hatte.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Die Insel der Großen Mutter erschien 1924 und ist Hauptmanns dritter Roman. Bei einer Weltumrundung sinkt der deutsche Dampfer Kormoran. Die einzigen Überlebenden sind etwa hundert Frauen und ein zwölfjähriger Junge, die von der Schiffsbesatzung samt umfangreicher Ausrüstung in die Rettungsboote verfrachtet wurden und auf einer paradiesischen Insel landen. Die überlebenden Frauen schließen sich zusammen und gründen eine Frauenrepublik. Als Präsidentin wählen sie die resolute Berliner Kunstmalerin Anni Prächtel, die mit ihrem praktischen Sinn und gesunder Ironie für eine ruhige Entwicklung sorgt. Ein Komitee von Führungskräften steht ihr in der Regierung zu Seite, darunter glücklicherweise mit Fräulein Egli eine Ärztin. Mithilfe der geretteten Gerätschaften bauen die Frauen feste Unterkünfte und die üppige Vegetation mit nahrhaften Früchten lässt keinen Hunger aufkommen. Sogar Kaffee- und Tabakpflanzen werden entdeckt, sodass nichts den Kaffeekränzchen in der Roucherlounge entgegensteht. Die Sehnsucht nach der Rückkehr in die europäischen Heimat ist gering. Sukzessive entwickelt sich ein matriarchalischer Kult mit Miss Laurence Hobbema als Hohepriesterin.

Und in der Tat, mit diesem Erweise war der Mann entthront, und es hatte die Frau die alleinige Herrschaft über die Welt angetreten.

Das verlassene Reich der Zivilisation war auf die im großen und ganzen dort schon nutzlose Überzahl von Männern zugeschnitten, es war eine Männerzivilisation! König, Ritter, Bürger, Bauern, Handwerker und Tagelöhner waren es, die sich als ihre Pfeiler und Vertreter aufspielten. Das Weib wurde dabei nicht einmal genannt. Es galt als minderwertiges Anhängsel. Dies würde für immer nicht andes geworden sein, wenn nicht die Stunde gekommen wäre, wo man sich ganz ohne Männer behelfen konnte. Die Weltwende war nun eingetreten, auf dem heiligen Boden von Île de Dames. Welchem Unfug wurde damit ein Ende gemacht, wieviel Unrecht und Widersinn ward damit abgeschafft! Der Mann war früher der Mensch gewesen. Mann und Mensch waren synonym. Heut wollte man aber den sehen, der seine Augen dagegen verschließen könnte, daß Mensch und Weib dasselbe sei und es außer dem Weibe einen Menschen nicht gäbe.

Ein erster Schatten fällt auf die feministische Idylle, als die Mutter des zwölfjährigen Phaon ihr Leben aushaucht. Sie hatte den Tod ihres Mannes bei der Schiffskatastrophe nicht überwunden und wurde daraufhin geistig verwirrt.

Als nach etwa einem Jahr auf der Insel Babette Lindemann schwanger wird, ist zuerst das Rätselraten groß, denn es gibt ja keine Männer auf der Insel. Babette behauptet, dass sie das Kind vom Schlangengott Mukalinda empfangen hätte.

„Ich weiß nicht, habe ich nun im Fluß gebadet oder oder nur gedacht, ich wollte die augespeicherte Sonnenglut des Tages hineinschütten. Ob träumend, ob wachend, mich umspülte die Flut, und da war es, wo Mukalinda in Jünglingsgestalt mich bei der Hand faßte. Aber wie stark war diese Hand, obgleich er scheinbar noch ein Knabe war. Und wie furchtbar seine Gewalt, als ich, ich weiß nicht, wie dahin gekommen, ohne mich regen, ohne atmen, ohne schreien zu können, wieder im Zelt auf meinem Bette lag. Ich stöhnte: Gnade! Lockre doch deine sieben, Ringe, Mukalinda, wie habe ich da die erstickende, wogende Kraft der sieben göttlichen Ringe um meinen ganzen Leib, um all meine Glieder gespürt; ich dachte, es sei meine letzte Stunde. Aber da, eia, oh, Mukalinda, oh Mukalinda! Da brach er mit mir durch sieben Himmel. Und im siebten war ein purpurnes, blumenbedecktes Pfühl aufgetan, und dort eben hat die mystische Hochzeit stattgefunden.“

Die Präsidentin ist skeptisch und überlegt, wer oder was dahinterstecken könnte. Aber der Mutterkult nimmt das Ereignis als Anlass, die neue Religion weiterzuentwickeln, und ein Dogma heißt: La recherche de la paternité est interdite. Der Tempel des Kultes wird erweitert, und die Damen können dort sehnsuchtsvoll erwarten, im Tempelschlaf von Mukalinda begattet zu werden. Immer mehr Kinder werden geboren, bis mehr als eine Hundertschaft die Inselbevölkerung vergrößert. Ein Problem stellt allerdings dar, dass unter den neuen Inselbewohnern eine Menge von Jungen sind. Unter ultraorthodoxen Frauen wird sogar diskutiert, diese minderwertigen Wesen zu töten. Doch dazu kommt es nicht, aber die armen Geschöpfe werden auf das andere Ende der Insel ins Wildermannland verbannt und stehen dort unter der Aufsicht einiger freiwilliger Frauen. Phaon, der zu einem gutaussehenden Jüngling herangewachsen ist, kümmert sich rührend wie ein Vater um die ausgestoßenen Jungen.

Jahre später hat sich die Kolonie enorm vergrößert. Die Präsidentin feiert ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag, und es steht das Fest der Brautweihe bevor. Mannland will mit einer Abordnung an der Frauenweihe teilnehmen, doch die orthodoxe Frauenfraktion setzt sich wieder einmal durch und weist das Ansinnen zurück. Das hat aber unerwartete Auswirkungen, denn Mukalinda scheint durch die Zurückweisung seiner Geschlechtsgenossen beleidigt zu sein und stellt seine nächtlichen Tempelbesuche ein. Die Geburtenrate sinkt rapide und erreicht schließlich den Nullpunkt. Eine Horde von begattungswilliger junger Mädchen macht sich auf und davon zu den jungen Männern, was in einer unaussprechlichen Orgie kulminiert. Phaon verlässt mit der jungen Dagmar-Diodota in einem Boot die Insel, auf zu neuen Ufern. Der Gott hat sein Reich verlassen und das Matriarchat sein Ende erreicht.

Hauptmann hat es den gestrandeten Damen ein wenig gar zu leicht gemacht, ihre neue Republik aufzubauen. Eine paradiesische Insel, die mit Leichtigkeit alles liefert, was frau zum Essen benötigt, darüber hinaus jede Menge von Werkzeugen in den Rettungsbooten. Die Mühen, die zum Aufbau einer gut funktionierenden Siedlung notwendig sind, die bis zum Ausheben der Latrinen gehen, werden als Kleinigkeiten dargestellt. Das satirische Element tritt im Roman immer wieder hervor, personalisiert in der Person der Präsidentin, die zwar an der Spitze des Gemeinwesens steht, aber keinesfalls eine Anhängerin des Kultes der großen Mutter ist und auch keine Zweifel am wahren Ursprung der Fruchtbarkeit des Gemeinwesens hat. Doch: La recherche de la paternité est interdite. Diese satirischen Elemente machen den Roman auch recht amüsant zu lesen. Der Stoff ist bei weitem nicht so schwer verdaulich wie die Utopien Döblins oder Werfels und kann deswegen auch Lesern jüngerer Generationen guten Gewissens empfohlen werden.

Zweifellos steht das Werk auch in der Tradition der klassischen Utopien wie Utopia von Thomas Morus, Der Sonnenstaat von Tommasso Campanella und Neu-Atlantis von Francis Bacon. Aber hat das Werk nicht auch etwas anti-utopisches an sich? Klar, denn die Herrschaft des Matriarchats und die Behandlung der Männer als minderwertig ist für eine Hälfte der Weltbevölkerung beängstigend. Sie hält den Männern natürlich auch den Spiegel vor Augen, wie sich das „schwache“ Geschlecht unter ihrer Oberherrschaft fühlt. Was des einen Utopie, ist des anderen Dystopie. Jedenfalls zeigt sich, dass Totalitarismus in jeder Form abzulehnen ist, sei es der von Nazis und anderen Faschisten, Kommunisten, Feministinnen, religiösen Fanatikern, militanten Tierschützern, Autoanbetern oder fanatischen Briefmarkensammlern.


Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Bibliografie

Deutsche Erstausgabe

Gerhart Hauptmann:
Die Insel der Großen Mutter oder Das Wunder von Ĭle des Dames
Eine Geschichte aus dem utopischen Archipelagus

Berlin 1924, S. Fischer Verlag

Für diesen Artikel verwendete Ausgabe

Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980, Ullstein, Die Frau in der Literatur 30101


Übersicht aller Artikel:

13.09.2018 Franz Kafka: Der Prozess & Das Schloss
04.10.2018 Alfred Kubin: Die andere Seite
18.10.2018 Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten
01.11.2018 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel
15.11.2018 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen
29.11.2018 Gerhart Hauptmann: Die Insel der großen Mutter
13.12.2018 Ernst Jünger: Heliopolis & Gläserne Bienen
27.12.2018 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom & Das große Netz
10.01.2019 Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten
24.01.2019 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik & KAFF auch Mare Crisium
07.02.2019 Marlen Haushofer: Die Wand
21.02.2019 Günter Grass: Die Rättin

 

Kommentare  

#1 Toni 2018-11-29 17:30
Interessante Artikelreihe. Der Sprachgebrauch war doch noch ein wenig anders :-)

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