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Warum MINT nicht wirklich die Lösung unserer Zukunftsprobleme sein kann

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneWarum »MINT« nicht wirklich die Lösung unserer Zukunftsprobleme sein kann

Am Besten lernen die Kinder heutzutage Programmieren schon im Kindergarten. Denn schließlich kann man nicht früh genug damit anfangen. Mit diesem MINT-Zeugs. Also mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Herrgott nochmal, wir in Deutschland brauchen ja schließlich den nächsten Steve Jobs. Wir brauchen die nächste Innovation in der Technik. Und die Wirtschaft braucht doch auch Fachkräfte.

Und wenn die Mädchen halt nichts mit Technik und so anfangen können, dann macht man Girls Days, Boys Days, Transgender Days. Der Appetit für die Fächer kommt mit dem Machen...

Ja, das war Sarkasmus. Natürlich war das Sarkasmus, aber wenn man heutzutage auf das blickt was der Bund und die Länder an Schulen so treiben, dann kann man nur noch in diesen Tonfall verfallen. Ja, die Kinder sollen möglichst schon im Kindergarten das erste Computer-Programm schreiben können, denn je eher man die Kleinen an die Technik heranführt, desto besser ist das ja. Die Häuser der kleinen Forscher haben die Aufgabe, die Kleinen schon möglichst früh an diese MINT-Fächer heranzuführen, wie man auf der Webseite lesen kann: Die gemeinnützige Stiftung "Haus der kleinen Forscher" engagiert sich für gute frühe Bildung in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) – mit dem Ziel, Mädchen und Jungen stark für die Zukunft zu machen und zu nachhaltigem Handeln zu befähigen.

Schließlich wollen wir alle ja nur das Beste für unsere Kinder und später brauchen die doch Kompetenzen für den Beruf. Da fördert man doch schon im Kleinkindalter gerne, was die Wirtschaft später gebrauchen kann. Und was im Kindergarten anfängt, setzt sich dann in der Schule fort. Unzählige geförderte Programme des Bundes und der Länder sorgen dafür, dass MINT in den Fokus gerückt wird. Die Ausbildung eines humanistischen Menschenbildes, in dem die Persönlichkeit des Einzelnen im Vordergrund steht, die klassischen Bildungsideale eines Humboldts oder das, was man früher mit dem Bildungsbürgertum und dem Gymnasium verband - all das rückt mehr und mehr in den Hintergrund.

Humboldtsches Bildungsideal? Was war das eigentlich nochmal? Lassen wir den bekannten Forscher selbst sprechen: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierfür erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher so leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen.“

Es geht also um Grundkenntnisse, die jeder kennen muss. Dazu gehört für Humboldt nicht nur das, was heutzutage MINT genannt wird, der Begriff ist definitiv weiter gefasst wie man gelesen haben sollte. Er umfasst die Ausbildung eines Charakters, die Ausbildung der Persönlichkeit. Nur, wer wirklich aufgeklärt ist, wer ein anständiger Mensch ist, wer zudem auch ein guter Bürger ist, der kann später im Beruf auch wirklich gute Leistung erbringen. Also nicht nur MINT ist wichtig, Humboldt bestreitet das ja nicht, sondern auch Kunst und Kultur. Denn diese bilden ebenfalls wie die MINT-Fächer den Charakter. Beide Elemente sind wichtig, um einen guten Bürger zu formen.

Heutzutage hat sich das allerdings verschoben. Der gute Bürger ist im Auge des Staats der, der schon frühzeitig fit für die Wirtschaft gemacht wird. Wer frühzeitig etwa lernt, mit Geld umzugehen, mit dem Chemiebaukasten das Kinderzimmer in die Luft zu jagen, wer in die Geheimnisse der Banken eingeweiht wird und wessen kleine Finger schon die Tastatur von Smartphones und Computern bedienen kann, der ist perfekt für die Wirtschaft und die Firmen vorbereitet. Nach der Schule möglichst schnell studieren. Möglichst schnell ins Handwerk gehen. Möglichst schnell ein Start-Up gründen. Das sind die Werte, die heute eine Rolle spielen.

Kunst dagegen kommt an den Schulen zu kurz, stellte schon 2014 DIE WELT fest. Und der Musikunterricht ebenfalls. Wozu sollten Kinder auch lernen, wie man Bilder interpretiert? Für die Wirtschaft ist diese Fähigkeit nicht notwendig und fürs spätere Leben auch nicht, oder? Zudem: Wenn man schon knapp mit Geld und Personal ist, was ist dann wichtiger: Dass das Kind zukünftig zukunftssichere Fähigkeiten bekommt oder dass es die Fähigkeiten von Orchideenfächern vermittelt bekommt? Steve Jobs hat schließlich auch keine Bilder gemalt.

Es ist generell erschreckend, wieviel Unterrichtsstunden an Schulen ausfallen. Letztes Jahr führte DIE ZEIT eine eigene Befragung zum Thema durch, die Ergebnisse sind alarmierend: 

Insofern können Eltern nun beide Variablen in der Gleichung des Grauens ausfüllen: 5 Prozent Unterrichtsausfall + knapp 5 Prozent Vertretungsunterricht = nahe 10 Prozent schlechte Chancen für mein Kind. So viele Schulstunden finden im Schnitt nicht oder irregulär statt.

Und in den Fächern Kunst, Französisch, Latein und Musik kommen am häufigsten Vertretungkräfte zum Einsatz, die nicht oder ungenügend auf das Fach vorbereitet sind und keine Kompetenzen besitzen. Chemie oder Mathematik etwa sind da weiter hinten in der Statistik zu finden.
 
MINT, MINT, MINT: Die Politik und die Wirtschaft versteifen sich auf diese Fächer. Auf Chemie. Physik. Biologie, Informatik, Technik. Vor allem was die Medienpägdagogik anbelangt ist der Unterschied zwischen Humboldt und dem, was heute als Wirtschaftideal vorschwebt besonders frappant: Es wird nicht gelehrt, was für Auswirkungen die digitale Revolution für die Gesellschaft hat. Wer programmieren kann, der hinterfragt nicht unbedingt ob das Programm, was er schreibt, in der Zukunft dem Banknachbarn den Arbeitsplatz wegnehmen könnte. Die Manipulationen, die mit der Technik möglich sind, in jeglicher Hinsicht übrigens egal ob es um Verhalten oder Sprache an sich geht, werden nicht Thema des Unterrichts. Sondern nur, wie man die Geräte bedient oder höchstens, wie man bei Facebook Listen erstellt. Was die sogenannten Internet Big Five für Interessen haben, was Konzerne wie Facebook mit unseren Daten anstellen, warum Amazon daran interessiert ist ALEXA in fast alle Geräte einzubauen, die es gibt: In der Schule kommt das kaum vor.
 
Verständlich, denn die Wirtschaft ist in der Regel daran interessiert, dass man Geräte und Dinge bedienen kann. Wenn allerdings auch immer betont wird, wie wichtig Kreativität ist, dann beißt sich hier eine Menge. Denn wenn ich nicht weiß, wie ich kreativ sein kann, wenn ich nie gelernt habe gewisse Dinge selbst zu machen, in dem ich ein Bild male, eine Geschichte schreibe, wenn ich nie verstanden habe, warum Bilder so inszeniert werden wie sie das werden - schließlich gibt es in der Kunst gewisse Topoi, die heutzutage auch gerne von Politik und Wirtschaft aufgenommen werden - dann nützt mir das Wissen darüber, wie ich ein Programm schreibe herzlich wenig.
 
Insofern: Ja, ich streite nicht ab, dass MINT-Fächer wichtig sind. Aber ich streite auch dafür, dass Kunst und Kultur, dass Bildung, dass Deutsch und die Fähigkeit einen Roman zu interpretieren oder ein Bild - und in Zeiten von Instagram müssen wir Jugendlichen auch beibringen, dass es Photoshop gibt und dass Bilder manipuliert sein können - dass diese Dinge gleichberechtigt neben Technik und Informatik stehen. Auch, wenn auf den ersten Blick diese Fähigkeiten nicht verwertbar für das spätere Berufsleben sein sollten: Wenn diese Fähigkeiten nicht gelehrt werden, dann rutschen wir als Gesellschaft in die Falle der wirtschaftlichen Verwertbarkeitsmachung ab. Und wenn man noch weiter geht, kann man durchaus auch die These aufstellen, dass die Ausbildung eines Charakters etliche momentane Auswüchse in der Gesellschaft verhindert haben könnte. Ob dem so ist werden Forscher sicherlich noch rausfinden. Wenn sie kreativ genug sind und sich die passenden Fragen einfallen lassen...

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