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Spitzers Phantom-Terror

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-Kolumne

Spitzers Phantom-Terror

In den Köpfen mancher Erwachsener spuken die Geister von Spitzers Thesen über die Digitale Demenz dermaßen herum, dass man Angst hat mit ihnen mehr als nur über die Themen Wetter, Fussball und die Seite Drei der Boulevardzeitung zu reden. Spitzers Thesen der Digitalen Demenz versprühen ihr Gift immer noch in Unterhaltungen, keckern lästig in die durchaus pragmatischen Fragen der Kritik an der Technik herein und zeigen uns ihre Pobacken, wenn man nur ansatzweise versucht zu erwidern, dass Spitzer nun alles sei - aber doch bitte kein Hirnforscher.


Abgesehen mal davon, dass Spitzers Buch kein Lesevergnügen ist, wie sogar die FAZ feststellte.  Und abgesehen davon, dass Spitzer auch wirklich kein Hirnforscher ist - obwohl Journalisten das immer wieder behauptet haben, nein: Der Mann ist - schlimmer, weil das in Deutschland mehr zählt - Psychiater, Psychologe und Hochschullehrer. Hirnforscher nicht. Müsste ja in der Wikipedia stehen, tuts aber da nicht. Aber das ist gar nicht das Problem, denn die wenigsten, die Spitzer Thesen begierig wie ein Schwamm aufgesogen haben - die Wenigstens dürften sein Buch gelesen haben. Oder verstanden. Aber dennoch schwimmen seit 2012, seit dem die Digitale Demenz in Buchform die Welt erblickte in den Gehirnen der Erwachsenen, die eh schon das ganze Internet für Tinnef, Unfug, Humbug und Wertlos halten diese halbierten Thesen herum und werden auf Dauer mehr Schaden anrichten als sie sonst tun würden.

Mit Fug und Recht fragt ihr mich: Ja, kann man denn Technik nicht mehr kritisieren? Natürlich kann man das. Man kann kritisieren, dass amerikanische Firmen mittlerweile ein Monopol errichtet haben was die Übertragung von intimsten Daten anbelangt. Man kann auch kritisieren, dass die EU einfach nicht zu Potte gekommen ist als es galt, sichere und bessere Alternativen für ihre Bürger zu erfinden. Stattdessen prickelt man seit Jahr und Tag dort Datenschutzabkommen zusammen, die vielleicht nicht wirklich unbedingt so gut sind wie das Papier, auf dem sie publiziert werden. Ja, man darf anmahnen: Während die Wirtschaft mit voller Macht das Internet ergriffen hat, hat Europa und unsere Gesellschaft gepennt. Was aber auch einfach daran liegt, dass die Benutzung von Facebook, Twitter und Co. halt - verdammt einfach ist und einem Grundbedürfnis der Menschen nach Kommunikation und dem Verlangen nach dem Verbundensein auch außerhalb von Grenzen ist. Klar: Ich hätte mir einen Ast gefreut, wenn Ello - na ja- oder Diaspora - oh, doch, das hatte was - oder eine andere Lösung zumindest derbe an den Diensten gekratzt haben, die wir alle nutzen. Ist aber nicht passiert.

Ja, Technikkritik und die Frage, was eigentlich mit unseren Daten passiert - und die Frage, warum Edward Snowden eigentlich immer noch kein Asylrecht in einem westlichen Staat genießt und auch, was mit Julian Assange passiert - die Frage, was hinter den Angeboten steckt, die Frage ob wir wirklich mit unseren Daten bezahlen wollen, die Frage, ob alles, was denkbar ist auch gemacht werden muss - ja, diese alle Fragen darf man mit Fug und Recht stellen. Aber eine permanente Gegenhaltung nur um der Gegenhaltung willen und weil man mal in einem Artikel die Thesen von Spitzer irgendwie kondensiert zusammengelesen hat - also bitte, wie blöd seid ihr eigentlich?

So blöd wie vermutlich all diejenigen, die Sarrazin hinterherlaufen und dessen Buch noch nicht mal gelesen haben. Und davon dürfte es bei den Dummbratzen, die jeden Montag spazieren gehen wohl etliche geben. Vermutlich die Mehrheit. Vermutlich können die nicht mal lesen, sondern haben die Zusammenfassung der Thesen aus der Sendung mit der Maus oder dem Comic-Seiten der Tageszeitungen. Blöderweise glauben die ja alle irgendwie im RECHT zu sein, aber RECHTS ist nicht dasselbe wie RECHT haben. Was sie wissen könnten, hätten sie mal einige Bücher gelesen, aber schön.

Jetzt mal im Ernst, all ihr Spitzer-Anhänger, ihr Dammdigitalen, ihr Technik-Angsthaber, ihr Vergangenheitsschwärmer, ihr elenden Possenreißer: Ich hab mal gelernt, dass man Kritik durchaus üben kann und darf. Wenn man vorher sich eingehend mit dem Subjekt oder dem Fach beschäftigt hat, das Kritik erregt. Meine Güte, es kann doch einfach nicht sein, dass ihr euch einbildet aufgrund von Thesen zu argumentieren, die ihr aus dem FOCUS oder noch schlimmer N24 her habt? Bildung kommt nicht vom Bildschirm. Bildung kommt nicht von einem unangenehmen Gefühl her, dass euch befällt wenn Leute heutzutage mit gesenkten Köpfen über die Straßen gehen, weil sie gerade eventuell versuchen herauszufinden, wo sie lang gehen müssen um eine Adresse zu erreichen.

ist schon klar: Ihr geht ja jeden Morgen, nachdem ihr kein Wort mit dem Gegenüber am Frühstücks-Tisch gewechselt habt - weil ihr nämlich entweder Radio hört, Frühstücksfernsehen guckt oder den Kopf in die Zeitung vergräbt - also frohgelaunt aus dem Haus, freut euch, weil ihr euch auf den ganzen Weg zur Bushaltestelle mit allen unterhalten könnt, lächelt, springt, hascht den Frühling, fallt freudestrahlend dem Mitmenschen um den Arm und redet mit dem noch ein bißchen, schenkt ein Lächeln dem Busfahrer, unterhaltet euch immer mit allen Menschen im Bus und am Ende am Arbeitsplatz gebt ihr allen eine Gruppenumarmung, weil ihr euch so toll mit allen Menschen unterwegs unterhalten habt?

In Wirklichkeit fuchtelt ihr im Zug mir mit der Zeitung in mein Gesicht, vertieft euch in ein gutes, dickes und wirklich abweisend gestaltetes Buch, habt einen Knopf im Ohr - weil ihr nämlich doch diese blöde Technik nutzt um euch die letzten Radiohits so reinzupfiefen, dass der Nachbar einen Tinnitus bekommt - starrt missgrätig durch die Gegend und fühlt euch ja so besonders, weil ihr "die Landschaft", "die Umgebung" noch mitbekommt. Nicht so wie die, die gerade so in ihre Smartphones starren....

Boah, seid ihr kommunikativ. Nicht.

Aber dann natürlich behaupten, die Neuen Medien seien furchtbar. Die würden das Gehirn schädigen. Deswegen mache man sowas ja nicht. Man mache Digital Detox. Demnächst dann in der Schweiz in einem Gebiet, wo auch die Radiowellen nicht hinkommen - ich bastele gerne für euch schon mal Aluhüte ihre Lieben.

Kommt verdammt nochmal klar.

Erstens: Wenn ihr schon Dinge kritisieren wollt, dann setzt euch mit den Dingen tiefergehend und grundlegend auseinander. Ich habe Spitzers Bücher nicht gelesen, also wage ich es auch nicht seine Thesen zu kritisieren. (Außer dem Hinweis: Der Mann ist kein Hirnforscher. Echt nicht. Das müsste doch irgendwo sonst stehen, wenn das so wäre.) Dafür kann ich euch ellenlang über Luther und sein Verhältnis mit den Juden referieren... Weil ich Luthers Schriften mal gelesen habe und weil ich sicherlich darüber was sagen kann.

Zweitens: Kommt bitte mit Argumenten. Ich weiß: Gefühle sind unschlagbar in Debatten, aber Emanuel Kant hat nicht umsonst gelebt.

Drittens: Hört euch wenigstens die Gegenseite an, bevor ihr die niederbrüllt. (Uh, das ist das Schwerste. Wir sind halt so: Solange die Diskussion von der Sach-Ebene auf die Personal-Ebene geht - und Dummbratzen machen das ja immer gerne - löcken wir gegen den Stachel der Vernunft. Leider. Bin ich auch nicht frei von.)

Viertens: Nur Dagegen sein weil man Dagegen ist - unakzeptabel. Sofort gestrichen. Nein, wenn dann bitte einen Grund vorlegen. (Ich meine ja auch, wenn ihr unbedingt wie gewissen Leute abgeschieden in den Bergen in einer Hütte leben wollt, ohne Strom, Wasser und Technik: Ja, warum seid ihr dann denn noch hier?)

Fünftens: Wisst ihr was? Ich habe eine Hoffnung. Irgendwann - und das wird bald sein - werdet ihr einfach nicht mehr auf dieser Welt vorhanden sein. Ich finde, diese Lösung des Problems und diese Pille gegen meinen Rant an dieser Stelle hat etwas friedfertiges. Irgendwann seid ihr einfach nicht mehr da. Schön. Da ihr euch ja weigert, konstruktiv an der Lösung der digitalen Fragen unserer Gesellschaft mitzuarbeiten - ist dann halt eure Schuld, wenn wir demnächst wirklich von Konzernen komplett kontrolliert werden. Wenn ihr nur aufstampft wie ein trotziges Kind, dann wird unsere Zukunft halt nicht so nett sein. Vermutlich. Aber keine Bange: Glücklicherweise gibts dann immer noch Leute wie Snowden, Assange, Beckedahl und andere, die dann vielleicht nicht gerade die perfekte Zukunft gestalten können. Aber immerhin: Eine konstruktive. In diesem Sinne: Macht ruhig weiter so.

Kommentare  

#1 AARN MUNRO 2016-05-06 09:03
Die praktische Notwendigkeit,. nach dem Prinzip der Pflicht aus freier Entscheidung zu handeln, beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloß auf dem Verhältnis vernünftiger Wesen zueinander, in welchem der Wille eines vernünftigern Wesens jederzeit als "gesetzgebend" betrachtet werden muss. Die Vernunft bezieht also jeden Grundsatz des Willens als allgemein gesetzgebend...
Kant - Grundlegung zur Metaphysik der Sitten...
#2 Larandil 2016-05-06 13:14
Manfred Spitzer hat die Digitale Demenz ja nicht einfach so erfunden. Mir ist der Begriff das erste Mal über den Weg gelaufen in einem Telepolis-Beitrag von Florian Rötzer aus dem Jahr 2007, in dem Rötzer sich wiederum auf Forschungen aus Südkorea bezieht.
www.heise.de/tp/artikel/25/25483/1.html
Der Link im Artikel führt inzwischen nirgendwo mehr hin, aber es gibt mit den passenden Suchbegriffen "digital dementia korea" schöne Treffer in englischer Sprache wie etwa
thefuturescentre.org/signals-of-change/3098/electronic-devices-may-cause-surge-digital-dementia

Allerdings ... und das bin ich auch bereit einzuräumen ... allerdings heißt es auch, dass das Merkvermögen bereits seit einiger Zeit zurück geht. Schon in den 70ern war es in der Schule nicht mehr üblich, Balladen wie Schillers "Lied von der Glocke", "Die Bürgschaft" oder "Die Kraniche des Ibikus" auswendig zu lernen und rezitieren zu können.Ein bis zwei Generationen früher gehörte das wohl noch zum Bildungsstandard!

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