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Kurt Luifs Werkausgabe - 8. Teil - Die Mörderpranke - Jeff Baker II

Kurt Luif WerkausgabeDie Mörderpranke

Im Mai 2017 wäre Kurt Luif 75 Jahre alt geworden und aus dem Grund habe ich mir die Mühe gemacht und diverse Romane von ihm eingescannt und präsentiere Euch im Laufe der nächsten Monate einige seiner Werke in eine Art von Werksausgabe. Neben seinen Dämonenkiller-Romanen in der Vampir-Horror-Roman-Reihe erschienen auch immer wieder Grusel-Romane, die nichts mit dem DK zu tun hatten, die er unter dem Pseudonym James R. Burcette dort veröffentlichte. 

1976 erschien als Fortsetzung von Band Nr. 48 "Der rote Affe" als Fortsetzung "Die Mörderpranke" als Vampir-Horror-Roman Nr. 138. Hier schilderte Kurt Luif das zweite Abenteuer von Jeff Baker.

Die MörderprankeDie Mörderpranke
Vampir-Horror-Roman Nr. 138
von James R. Burcette

Jeff Baker 2
Ken Griffin drehte das Radio leiser. Er warf Janet, seiner Frau, einen raschen Blick zu. Sie hatte die Augen geschlossen und rülpste.
Wie üblich war sie ziemlich betrunken, das kam immer vor, wenn sie von einer Party nach Hause fuhren.
Er trat stärker aufs Gaspedal, obwohl er genau wußte, daß Janet es nicht wollte, wenn er mehr als siebzig Meilen fuhr. Links und rechts der Straße standen hohe Bäume. Die gut ausgebaute Bundesstraße zog sich in Schlangenlinien zwischen Schoharie und Middleburg dahin.
„Sind wir bald zu Hause?“ fragte Janet, ohne die Augen aufzuschlagen.
„In einer Viertelstunde“, antwortete Ken.
Es war zwei Uhr früh, und kein Auto kam ihnen entgegen. Der Himmel war mit dunklen Wolken bedeckt.
Sieht ganz nach Schnee aus, dachte Ken, nahm den Fuß etwas vom Gaspedal und zog den Wagen in eine Linkskurve. Vor sich sah er eine Bewegung. Er trat auf die Bremse.
Janet öffnete die Augen, als sie nach vorn geschleudert wurde.
„Was ist das?“ brüllte sie entsetzt.
Ken preßte die Lippen zusammen. Er verriß den Wagen. Er schaltete zurück und steuerte gegen.
Doch es war zu spät. Das Tempo war zu hoch gewesen.
Er raste genau auf das unheimliche Monster zu, das, vom Scheinwerferlicht geblendet, mitten auf der Straße stand. Für einen Augenblick konnte er es deutlich sehen. Es schien riesig zu sein. Die Haut war grün und schuppig.
Das Ungeheuer sprang hoch, es versuchte dem Wagen zu entkommen, reagierte aber zu spät. Es krachte gegen den rechten Kotflügel, der Scheinwerfer zerbrach, und das Monster wurde durch die Luft geschleudert. Eine der riesigen Tatzen schlug gegen die Motorhaube, dann wurde das Alptraumgeschöpf zur Seite geworfen.
Ken versuchte, den Wagen unter Kontrolle zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Die Räder blockierten, er konnte das Lenkrad nicht bewegen.
Wahrscheinlich hatte sich der Kotflügel in das rechte Vorderrad gedrückt. Der Mustang schlitterte weiter, verlor an Geschwindigkeit und rammte die Leitplanke. Endlich blieb er stehen.
Kens Hände zitterten. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, konnte aber nichts sehen.
„Ich muß zuviel getrunken haben“, stellte Janet fest. „Ich glaubte ein Monster gesehen zu haben.“
„Ich habe es auch gesehen“, meinte Griffin. Er beugte sich vor und öffnete das Handschuhfach. Er holte eine Pistole und eine Stablampe heraus.
„Bist du verrückt geworden“, schrie Janet. „Du kannst jetzt nicht aussteigen. Fahr sofort weiter.“ Ihre Stimme klang hysterisch, aber an diesen Klang hatte sich Ken in den fünf Jahren ihrer Ehe schon gewohnt.
„Ich muß nachsehen“, sagte er.
Ungeduldig schüttelte er die Hand seiner Frau ah, die ihn am Aussteigen hindern wollte. Janet war 26, neun Jahre jünger als er. Das strohblonde Haar  trug sie kurz geschnitten. Ihr Gesicht war hübsch, einfach hübsch, nicht mehr. Ein Puppengesicht, das vom Alkohol gerötet war.
Ken öffnete die Wagentür und stieg aus. Ein eisiger Wind fuhr ihm ins Gesicht und zerraufte sein gewelltes brünettes Haar. Er war hochgewachsen und breitschultrig. Sein dunkelblauer Smoking saß wie angegossen.
Er warf die Tür zu und ging um den Wagen herum. Es war so, wie er es vermutet hatte. Der Kotflügel hatte sich tief in den rechten Vorderreifen gebohrt.
„Komm sofort zurück, Ken“, hörte er die Stimme seiner Frau, doch er achtete nicht auf sie.
Er entsicherte die Pistole und knipste die Lampe an. Für einen Augenblick blieb er stehen, dann schien sich seine Gestalt zu straffen. Langsam setzte er sich in Bewegung.
Haben mir meine Sinne einen Streich gespielt? fragte er sich, als er die Straße entlang ging. Er war ganz sicher, daß er ein grünschuppiges Monster gesehen hatte. Doch sein Verstand weigerte sich, daran zu glauben. Ich muß mich getäuscht haben, versuchte sich Ken zu beruhigen.
Aber er hatte sich nicht getäuscht.
Nach zwanzig Schritten blieb er stehen. Der grelle Schein der Taschenlampe fiel auf eine reglose Gestalt, die mindestens drei Meter groß war.
Es war das Monster. Es lag auf dem Bauch, die gewaltigen Arme und Beine weit von sich gestreckt. Es war nackt. Die Füße und Hände wiesen riesige, gekrümmte Krallen auf.
Zögernd ging Ken weiter. Und unwillkürlich fiel ihm eine SF-Story ein, die er vor vielen Jahren gelesen hatte. Da war ein Raumschiff mit Marsianern gelandet und ein junger Mann hatte einen von ihnen überfahren. Sollte diese utopische Geschichte wahr geworden sein? War wirklich ein UFO gelandet? Unsinn, dachte er. Da hätten sie im Radio etwas gesagt.
Einige Schritte vor dem Monster blieb er stehen. Der ganze Körper war mit großflächigen Schuppen bedeckt. Der Schädel sah wie eine Teufelsfratze aus: lange, spitz zulaufende Ohren, eine plattgedrückte Nase und ein Fischmaul. Die Augen hatte das Geschöpf geschlossen.
Das Monster war da, obwohl sich Kens Verstand weigerte, es zu akzeptieren. Das Ungeheuer war real.
Ist es tot oder nur bewußtlos?
Ken blickte sich fröstelnd um. Es begann zu schneien. Der Wind peitschte ihm große Flocken ins Gesicht.
Er wußte nicht, was er tun sollte. Schließlich kam er noch näher, ging in die Knie und streckte vorsichtig eine Hand aus. Er berührte das Monster, es fühlte sich warm an. Rasch zog er die Hand weg und stand auf.
Er kehrte zum Wagen zurück.
„Was hast du gesehen, Ken?“
„Das Monster ist real“, sagte er leise.
„Ist es tot?“ fragte Janet.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Ken. „Es bewegt sich nicht.“
„Ich habe Angst“, flüsterte Janet.
Ken sagte nichts. Er wollte versuchen den Kotflügel zurückzubiegen. Er steckte die Pistole ein, holte eine Brechstange und blieb vor der eingedrückten Kühlerhaube stehen. Er setzte die Brechstange an, schob sie zwischen das verbeulte Blech und den Reifen und drückte mit aller Kraft zu. Ein lautes Knirschen war zu hören, dann rutschte die Stange ab und er taumelte. Er probierte es wieder. Die Angst verstärkte seine Kräfte. Langsam hob sich das Blech etwas. Er achtete nicht auf den stärker gewordenen Schneefall. Trotz der Kälte rann ihm der Schweiß über die Stirn.
„Bekommst du den Wagen flott, Ken?“ rief seine Frau. „Das wäre alles nicht geschehen, wenn du nicht immer so rasch fahren würdest“, fuhr sie fort.
Ken hörte nicht auf sie. Wieder hatte er das Blech ein Stück gebogen. Ich schaffe es, dachte er zufrieden. In das Knirschen des Bleches mischte sich das Heulen des Windes. Und dann war ein anderes Geräusch zu hören.
Es klang wie das Wimmern eines kleinen Kindes.
Ken hielt mitten in der Bewegung inne. Er hob den Kopf und blickte über den Wagen die Straße hinunter. Aber er konnte nichts erkennen, der Schnee fiel zu dicht.
Doch da war es wieder. Dieses seltsame winselnde Geräusch, das lauter wurde.
Ken ließ die Brechstange fallen. Er zog die Stablampe hervor und knipste sie an. Der scharfe Strahl verlor sich im Schneetreiben.
Ich muß den Wagen flottbekommen, dachte er. Wieder griff er nach der Brechstange.
Jetzt hörte er ein unmenschliches Brüllen. Er zuckte zusammen. Das ist das Monster, dachte er entsetzt. Es ist nicht tot. Es war nur bewußtlos. Und jetzt ist es erwacht. Ruckartig bewegte er die Brechstange. Er hatte es geschafft. Zwischen dem Blech und dem Reifen war genügend Spielraum.
Er rannte um den Wagen herum und riß die Tür auf, schleuderte die Brechstange ins Innere und wollte sich hinter das Steuer setzen.
Ein Schrei ließ ihn zusammenfahren.
Er wandte den Kopf. Das Monster war nur mehr wenige Meter entfernt. Wie ein vorsintflutliches Ungeheuer tauchte es aus der Dunkelheit auf.
Ken ließ sich auf den Sitz fallen. Er nahm sich nicht einmal Zeit, die Tür zuzuschlagen. Er startete, warf den ersten Gang ein, trat aufs Gaspedal und löste die Handbremse.
Da war das Monster heran. Mit beiden Tatzen packte es die Wagentür.
Ken fuhr an. Der Motor heulte gequält auf. Die Räder drehten leer durch.
Die Kraft des Monsters mußte gewaltig sein. Der Wagen bewegte sich nur langsam.
Ken griff in die rechte Rocktasche. mit der Linken hielt er das Lenkrad fest. Janet schrie hysterisch. Er holte die Pistole heraus, lehnte sich zurück und hob die Waffe. Er zog durch. Ein roter Feuerstrahl schoß aus der Mündung, es stank nach Pulver, und der Krach des Schusses hallte überlaut im Auto. Ken hatte nicht vorbeischießen können.
Das Monster stieß einen Schrei aus. Eine der Tatzen löste sich von der Wagentür und griff nach Ken.
In diesem Augenblick fuhr der Wagen los. Die Tür pendelte hin und her. Ken schoß nochmals, wieder hörte er den unmenschlichen Schrei. Aber das Monster ließ die Tür nicht los. Der affenartige Arm schob sich ins Wageninnere und schlug nach Ken. Die Krallen zerfetzten seine Schulter. Ken ließ die Pistole fallen. Er schaltete und trat stärker aufs Gaspedal. Der Wagen schoß, immer schneller werdend, die Straße hoch.
Das Monster gab aber noch immer nicht auf. Eine Tatze verkrallte sich in der Sitzlehne, die andere umfaßte die Wagentür. Mit einem gewaltigen Schwung hob sich das schuppenbedeckte Biest in die Höhe. Die Beine und der Unterleib landeten auf der Motorhaube, und einer der Füße schlug gegen die Windschutzscheibe, die knirschte.
Ken konnte nichts sehen.
„Siehst du etwas, Janet?“ brüllte er.
„Ja, etwas“, antwortete seine Frau mit versagender Stimme. „Rasch, schlag nach links ein.“
Ken gehorchte.
„Nicht so stark“, rief Janet.
Wieder folgte er. Er kannte die Strecke genau. Nur mehr eine scharfe Rechtskurve lag vor ihm, dann verlief die Straße schnurgerade weiter. Er mußte die Gerade erreichen, da konnte er unbesorgt das Tempo erhöhen, und dabei mußte das Monster endlich vom Wagen geschleudert werden.
Das Monster schien zu erraten, was Ken vorhatte. Immer wieder schlug es mit einem Bein gegen die Windschutzscheibe, die beängstigend knarrte. Einige Sprünge zeichneten sich ab, und dann zerbarst sie mit einem lauten Knall. Glassplitter regneten auf Ken und Janet nieder, die beide die Augen schlossen.
Ken blieb keine andere Wahl. Er mußte die Geschwindigkeit verlangsamen. Nur zu genau wußte er, daß es links mehr als hundert Meter in die Tiefe ging.
Das Monster schob ein Bein ins Wageninnere, und die Krallen preßten sich schmerzhaft gegen Kens Gesicht.
„Wir müssen zu fliehen versuchen“, brüllte Ken, bremste ab und versuchte den Krallen auszuweichen. Er warf sich zur Seite, flog aus dem Wagen, schlug auf die Straße auf und blieb für einen Augenblick benommen liegen. Dann sprang er hoch.
Und da erreichte ihn das Monster.
Es schlug mit der rechten Vordertatze nach ihm. Der Hieb traf ihn genau auf die Stirn. Er war so gewaltig gewesen, daß Ken sofort bewußtlos wurde.
Janet griff nach der Pistole, öffnete die Wagentür und sprang heraus.
Das Schneetreiben war so dicht geworden, daß man kaum zwei Schritte weit sehen konnte.
Sie lief am Wagen vorbei. Hinter sich hörte sie das Brüllen. Sie lief die Straße hinunter, so rasch sie konnte.
Das Brüllen wurde lauter. Sie hörte Schritte, drehte sich um und erblickte undeutlich die Gestalt des drei Meter hohen Monsters. Während sie rannte, drehte sie sich immer wieder um. Einmal hob sie die Pistole und schoß auf die schemenhafte Gestalt, die noch näher gekommen war. Ein wütender Schrei, das war alles, was sie mit dem Schuß erreichte. Der Boden war glatt geworden. Sie rutschte aus, fiel nieder und rollte die Straße hinunter. Die Pistole entglitt ihrer Hand. Janet schlug gegen die Leitplanke und blieb liegen. Bevor Janet noch aufstehen konnte, senkte sich eine riesige Pranke über ihren Kopf. Scharfe Krallen preßten sich um ihren Hals. Dann wurde sie ohnmächtig.
Das Monster stieß ein tiefes Brummen aus, bückte sich und hob die bewußtlose Frau auf. Er trug sie zu ihrem Mann, legte sie auf die Straße und wandte sich dem Auto zu. Es griff nach dem Lenkrad und stemmte sich mit voller Kraft dagegen. Der Wagen fing zu rollen an. Das Ungeheuer schlug das Lenkrad nach links ein. Der Wagen wurde immer rascher. Schließlich ließ das Scheusal das Lenkrad los und sprang zur Seite. Der Wagen wurde immer rascher. Er raste auf die Leitplanke zu, durchschlug sie und flog den Abhang hinunter. Sekunden später war der Aufprall zu hören, dann der Krach einer lauten Explosion.

* * * 

Das Zimmer war klein und fensterlos. Die Wände waren schneeweiß getüncht und schmucklos. Bis auf zwei einfache Stahlrohrbetten und ein kleines Kästchen war es leer. Über der Tür brannte eine rote Lampe, die den Raum in ein düsteres Licht tauchte.
Ken Griffin schlug die Augen auf. Sein Blick fiel auf die Decke und er drehte langsam den Kopf zur Seite. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus, als er Janet erblickte, die im Nebenbett lag und schlief.
Er schaute seine Frau einige Zeit an, dann wandte er den Kopf und schloß wieder die Augen. Er fühlte sich müde, unendlich schwach.
Habe ich das Erlebnis mit dem Monster nur geträumt?
Er zog die Hände unter der dünnen Decke hervor und preßte die Handflächen gegen das Gesicht. Er spürte, daß sein Gesicht verbunden war, auch seine Schulter war mit Bandagen bedeckt. Zu seiner Überraschung spürte er aber keine Schmerzen, nur eine bleierne Müdigkeit steckte in seinen Gliedern.
Er erinnerte sich an alles ganz deutlich.
Janet und er waren bei den Thylers eingeladen gewesen. Dieser Einladung hatte er folgen müssen. Walter Thyler war ein einflußreicher Politiker, und er konnte für Kens Karriere sehr wichtig sein. In den vergangenen Jahren hatte Ken nur wenige Einladungen angenommen, da er die Reaktion seiner Frau nur zu gut kannte. Seit sie erfahren hatte, daß sie keine Kinder bekommen konnte, hatte sie sich verändert. Sie nörgelte ewig herum, nichts paßte ihr, an allem hatte sie etwas auszusetzen. Aber das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn sie nicht Trost im Alkohol gesucht hätte. Seit drei Jahren trank sie. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht völlig betrunken war. Nicht einmal hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich von ihr scheiden zu lassen. Er war ein erfolgreicher Anwalt, dem auch eine politische Karriere offenstand, die aber seine Frau vereiteln konnte. Sie war untragbar für ihn geworden.
Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten, als er sich erinnerte, wie sich Janet bei den Thylers daneben benommen hatte. Trotz seiner Bitten hatte sie sich nicht zurückgehalten. Sie hatte sich einen Cocktail nach dem anderen einschenken lassen und war zum Abendessen schon leicht betrunken gewesen. Nach dem Essen war es so gekommen, wie er es befürchtet hatte. Sie hatte weitergetrunken und der Alkohol hatte ihre Zunge gelöst. Sie hatte den üblichen Unsinn, von sich gegeben und sich dabei nur lächerlich gemacht. Und wie immer, wenn sie betrunken war, hatte sie nicht nach Hause fahren wollen. Sie hatte sich gewehrt und eine peinliche Situation geschaffen.
Endlich war es ihm gelungen, sie ins Auto zu setzen. Dann waren ihre Vorwürfe gekommen, die er schon unzählige Male gehört hatte. Er war glücklich gewesen, als sie endlich den Mund gehalten hatte.
Ganz genau erinnerte er sich an den Zusammenstoß mit dem Monster. Und die Erinnerung daran ließ ihn hochfahren.
Er blickte sich um, suchte nach einer Klingel, mit der er die Krankenschwester rufen konnte. Doch er fand keine. Er setzte sich auf, ließ die Beine aus dem Bett baumeln. Dabei stellte er fest, daß er nackt war.
Er rutschte aus dem Bett, seine Füße berührten den kalten Steinboden. Vorsichtig tat er einen Schritt. Alles drehte sich um ihn und er setzte sich rasch aufs Bett. Langsam ließ er sich zurückfallen.
Das Monster, dachte er. Ich muß die Polizei verständigen. Ich muß...
Seine Gedanken verwirrten sich. Er konnte sich nur mit größer Mühe bewegen.
Er riß den Mund auf. „Hallo“, sagte er krächzend. „Hallo.“
Einige Minuten blieb er ruhig liegen, stand schwankend auf und torkelte zur weiß gestrichenen Tür. Er lehnte sich gegen die Wand, seine Knie zitterten. Er griff nach der Klinke und drückte sie nieder. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er hob die rechte Hand und schlug gegen die Tür.
„Aufmachen“, rief er. „Aufmachen.“
Wieder schlug er mit der Faust gegen die Tür, doch niemand kam und öffnete. Nach einigen Minuten gab er seinen Versuch auf. Er wankte zu den Betten zurück, blieb vor seiner Frau stehen.
„Janet“, flüsterte er. Sie hatte den Hals verbunden. Ihr Gesicht wirkte friedlich. Der kleine Mund stand halb offen und sie schnarchte.
Ken beugte sich vor und hob die Decke. Seine Frau war ebenfalls nackt. Sie trug nicht einmal die Uhr, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Er griff nach ihrer rechten Hand und schüttelte sie leicht, doch Janet bewegte sich nicht.
Müde torkelte Ken zu seinem Bett zurück.
Ich bin in einem Spital, dachte er. Irgendjemand hat uns gefunden. Aber wahrscheinlich wissen die Leute nichts von dem Monster. Das Ungeheuer lief noch frei herum, da war er sicher. Ich muß sie warnen.
Doch er war zu schwach. Er kroch ins Bett, deckte sich zu und rollte sich zusammen.
Er schreckte hoch, als die Tür geöffnet wurde. Mühsam hob er den Kopf.
Eine junge Frau trat ins Zimmer. Vor sich schob sie einen fahrbaren Instrumentenschrank. Ihr rotblondes Haar war extrem kurz geschnitten. Das Gesicht wirkte unnatürlich bleich, aber vielleicht war daran die wenig vorteilhafte Beleuchtung schuld. Es war ein leeres Gesicht, ausdruckslos, faltenlos. Die grauen Augen schienen trüb und ungesund. Sie trug einen knielangen weißen Kittel, der sich um einen schlanken, schmalen Körper schlang.
Ken räusperte sich. „Wo bin ich?“ fragte er.
Das Mädchen antwortete nicht. Sie schob den Instrumentenschrank zu seinem Bett und griff nach einer Spritze.
Ken setzte sich im Bett auf. „Ich will wissen, wo ich mich befinde.“
Wieder keine Antwort.
„Wir wurden von einem Monster überfallen“, sagte Ken. „Haben Sie mich verstanden?“
Das Mädchen reagierte nicht. Sie holte aus einer Schublade zwei Ampullen, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt waren.
„So sagen Sie doch endlich etwas“, rief Ken.
Die Tür wurde aufgestoßen, und er wandte den Blick von dem Mädchen ab. Ein junger Mann blieb in der Tür stehen, der zuerst Janet ansah, dann langsam den Kopf wandte und Ken musterte. Der Mann war hager. Er war an die Dreißig, mittelgroß und schmalschultrig. Sein Gesicht wirkte eingefallen, das dichte blonde Haar war kurzgeschnitten. Die dunkelbraunen Augen sahen Ken ziemlich teilnahmslos an. Er trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt waren. Seine dünnen Beine steckten in einer eng anliegenden Jeans-Hose.
„Wer sind Sie?“ fragte Ken.
„Das hat Sie nicht zu interessieren“, stellte der Mann fest.
„Bin ich in einem Krankenhaus?“
Der Mann antwortete nicht. Er trat neben die Rotblonde und griff nach der Spritze.
„Sie bekommen jetzt eine Injektion, Mr. Griffin“, sagte der Blonde sachlich.
„Ich will keine Spritze“, meinte Ken ärgerlich. „Ich will endlich wissen, wo ich mich befinde und was...“
„Sie sind Ken Griffin“, sagte der Blonde. „Rechtsanwalt in Albany. Sie hatten einen Unfall.“
„Stimmt“, bestätigte Ken. „Wir wurden von einem unheimlichen Monster niedergeschlagen, das...“
„Ich weiß“, unterbrach ihn der Mann gleichgültig. „Ein bedauerlicher Zwischenfall, mit dem niemand rechnen konnte.“
„Was meinen Sie damit?“
„Das Monster ist eine meiner Schöpfungen“, erklärte der Blonde. Er hob die Spritze.
„Was?“ brüllte Ken überrascht.
Der Blonde lächelte. „Sie haben richtig gehört. Ich bin Wissenschaftler. Ich führe einige recht interessante Experimente durch. Dazu gehört auch Gary.“
„Gary?“
Der Blonde nickte. „Ja, Gary. So nannte ich das grünschuppige We¬sen. Ein hübscher Name, finden Sie nicht auch?“
Kens Augen weiteten sich. Er schnappte nach Luft.
„Ein bedauerlicher Zwischenfall“, fuhr der Blonde fort. „Aber leider nicht zu ändern. Sie hatten Pech, Mr. Griffin. Sie sahen Gary. Und Sie werden verstehen, daß ich wenig Interesse habe, daß Sie überall herumerzählen, daß Sie ein grünschuppiges Monster gesehen haben. Sie verstehen?“
„Ich verstehe überhaupt nichts“, schrie Ken. „Sie müssen verrückt sein. Ich will hier heraus, haben Sie mich verstanden. Ich will...“
„Was Sie wollen, interessiert mich überhaupt nicht“, stellte der Blonde fest. „Bis jetzt experimentierte ich mit Tieren, aber nachdem ich Sie und Ihre Frau habe, werde ich meine Experimente mit Menschen weiterführen. Mr. Griffin, es nützt Ihnen nichts, wenn Sie jetzt um Hilfe schreien. Niemand wird Ihnen helfen. Es hat auch wenig Sinn, wenn Sie sich wehren. Sie müssen sich mit Ihrem Schicksal abfinden.“
„Damit kommen Sie nicht durch“, schleuderte ihm Ken entgegen.
„Keine Angst“, sagte der Blonde. „Jetzt bekommen Sie eine Spritze, danach werden Sie sich kaum bewegen können. Strecken Sie den rechten Arm aus.“
„Ich denke nicht daran“, brüllte Ken.
Der Blonde ließ sich durch Ken Griffins Geschrei nicht beeindrucken. Er setzte sich auf das Bett und griff nach Kens rechtem Arm. Ken schaute in die dunklen Augen - und alles schien vor seinen Blicken zu schwimmen. Ein dichter Schleier legte sich vor sein Bewußtsein und plötzlich konnte er sich nicht mehr bewegen. Irgendetwas Feuchtes strich über seine Armbeuge, dann spürte er einen Stich. Schwärze war um ihn. Er keuchte. Er hörte sein rasselndes Atmen. Kreise drehten sich vor ihm, immer rascher und wilder. Funkelnde Lichter, die auf ihn zustrebten, explodierten und seltsame Muster bildeten. Ein lautloses Feuerwerk. Ein Stern, der sich ausdehnte, die Form verlor und explodierte. Kaskaden roten Lichtes. Stille.
Gedanken in der Dunkelheit. Gespenstische Erscheinungen, die ihn umtanzten. Lautlos und unwirklich.
Schwärze. Das Gefühl zu fallen. Immer tiefer.
Leere und Kälte.
Dann das Nichts.

* * * 

Wispernde Stimmen. Worte ohne Sinn. Erinnerungen.
Er sah sich selbst, einen Baseballschläger in der Hand. Der Ball raste auf ihn zu. Er hob den Schläger, seine Lippen standen halb offen. Der Ball flog genau auf ihn zu. Der Schläger wirbelte durch die Luft. Er holte aus, verfehlte den Ball, der ihn an der Stirn traf. Ohnmacht. Das Fallen in die Schwärze.
Gedanken, unwirklich, verzerrt und doch so real.
Frauenlippen. Weich und warm. Der Geschmack nach Kaugummi, als seine Zunge in den Mund drang. Zähne, die seine Zungenspitze packten. Speichel, der sich mit dem seinen vermischte. Der Druck der Lippen, der immer stärker wurde. Seine Nase war ihm im Weg. Ein Mädchengesicht, die Augen geschlossen. Schwarze Wimpern, die sich leicht bewegten, die zu zittern schienen. Der Mund unter dem seinen, der seine Verkrampfheit verlor, der weich und heiß wurde. Schenkel, die unter seiner Handfläche zu glühen schienen. Seine Hand wanderte höher.
Dann der Schrei. Hatte er sich getäuscht? Der Schrei brach nicht ab, steigerte sich, wurde immer lauter, schriller und brachte seine Trommelfelle fast zum Platzen.
Er riß die Augen auf.
„Na endlich“, hörte er eine Männerstimme.
Ein Gesicht beugte sich über ihn. Braune Augen, die ihn aufmerksam musterten.
Und wieder dieser Schrei. Er wandte den Kopf. Neben ihm stand eine fahrbare Bahre, auf der Janet lag. Ihre Hand- und Fußgelenke steckten in ledernen Schlaufen. Ihre spitzen Brüste hoben und senkten sich unglaublich rasch. Speichel tropfte über ihre blassen Lippen. Das Gesicht war verzerrt, die Augen waren weit aufgerissen. Sie schrie.
„Sagt ihr, daß sie den Mund halten soll“, sagte Ken Griffin leise. „Ich vertrage ihr Schreien nicht.“
„Sie wird in wenigen Augenblicken still sein“, behauptete der blondhaarige Mann.
Ken sah, wie ein Mädchen eine riesige Lampe höher zog. Sie war genau auf seine Frau gerichtet. Von der Lampe ging ein karmesinrotes Leuchten aus, das den nackten Körper Janets einzuhüllen schien.
Janet bäumte sich einmal auf, dann sackte sie zusammen. Ihre Lippen schlossen sich. Sie murmelte irgendetwas, dann blieb sie ruhig liegen.
Das rotblonde Mädchen schwenkte die gewaltige Lampe und richtete sie auf Ken. Sie maß mindestens einen Meter im Durchmesser. Das Innere sah wie ein Spiegel aus. Rot glosende Spiralen glühten stärker. Sein Körper wurde von den Strahlen überschüttet. Ein prickelndes Gefühl war auf seiner Haut. Nicht unangenehm. Seine Poren schienen sich zudehnen. Angenehme Wärme hüllte ihn ein. Er wurde schläfrig.
Aber das Gefühl hielt nicht lange an. Das Prickeln schwand und machte einem Brennen Platz, das immer stärker wurde. Sein Körper war in Feuer getaucht. Die Haut schien zu platzen. Er keuchte und dann schrie er.
Die Strahlen fraßen sich in seinen Körper, durchdrangen die Haut, die Muskeln und Nerven und bohrten sich schmerzhaft in seine Knochen.
Er hörte sich brüllen. Sein Körper löste sich auf. Irgendetwas schien seine Beine und Arme von seinem Rumpf zu trennen. Die Schmerzen wurden unerträglich. Dankbar ließ er sich in die Dunkelheit zurückfallen.

* * * 

Er wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen war. Sein Körper schmerzte noch immer. Einen klaren Gedanken konnte er nicht fassen. Er konnte nicht sprechen und sah alles doppelt.
Ken Griffin verlor jedes Zeitgefühl. Die meiste Zeit schlief er, und die wenigen Augenblicke, in denen er wach war, verbrachte er unter der rotglühenden Lampe, deren Strahlen ihn zu verbrennen schienen.
Irgendwann hörten die Schmerzen auf.
Er schlief traumlos. Eine Hand verkrallte sich in seiner Schulter. Er wälzte sich zur Seite und schüttelte die Hand ab.
„Ken, wach auf.“
Die Stimme kannte er. Doch er wollte nicht aufwachen. Er fühlte sich so angenehm entspannt.
„Ken, bitte!“ Die Stimme wurde lauter.
Unwillig drehte er sich zur Seite, doch die Hand und die Stimme verfolgten ihn weiter.
Endlich öffnete er die Augen. Das grelle Licht blendete ihn und ließ seine Augen tränen, doch nach einiger Zeit hatte er sich daran gewöhnt und konnte sie ganz aufmachen.
Janet hockte neben ihm. Er schüttelte den Kopf und gähnte.
„Was ist los?“ fragte er.
Janet war bleich. So blaß hatte er sie nie zuvor gesehen.
„Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, Ken“, sagte sie, „aber es ist furchtbar. Sieh dich einmal um.“
Ken setzte sich auf. Wieder gähnte er. Dann hob er den Kopf. Der Boden fühlte sich kühl an. Sie befanden sich in einem runden Zimmer. Die Wände bestanden aus Glas. Sein Blick wanderte die Wand entlang, glitt immer höher. Das Glas schien kein Ende zu nehmen. Weit über ihnen verengte sich die Glocke, lief zusammen, und dann sah er die Öffnung. Nie zuvor hatte er sich in einem ähnlichen Raum befunden.
Er stand auf. Durch die Glaswand konnte er hindurch sehen. Überall standen Schränke und Tische.
Langsam dämmerte ihm die entsetzliche Wahrheit. Noch weigerte sich sein Verstand daran zu glauben.
Eine der riesigen Türen wurde geöffnet und das grünschuppige Monster betrag den Raum, der hinter der gläsernen Wand lag. Dem Ungeheuer folgte der blonde Mann, dessen Name er nicht kannte.
Die Vermutung wurde zur Gewißheit, als das Monster neben ihnen stehenblieb.
„Wir sind geschrumpft“, flüsterte Ken. „Wir sind winzig klein geworden.“
Janet nickte. Tränen rannen über ihre Wangen.
Das Monster hob die rechte Pratze. „Wir befinden uns in einer Karaffe“, schrie Ken Griffin.
Die krallenbewehrte Hand des grünen Ungeheuers langte in den Hals der Flasche. Sie kam immer tiefer. Ken versuchte ihr auszuweichen, doch es war vergeblich. Die grüne Pranke drückte ihn sanft zu Boden und eine der Krallen preßte sich um seinen Leib. Er schlug mit Armen und Beinen um sich, doch das half alles nichts. Das Monster holte ihn aus der Flasche, legte ihn auf seine Handfläche und reichte ihn dem blonden Mann, der zufrieden grinste.
Ken saß nun auf der Handfläche des Wissenschaftlers, der die Finger gekrümmt hatte.
Und jetzt wurde es Ken erst bewußt, wie klein er war.
Er war nur halb so groß wie der kleine Finger des Mannes.
„Es hat geklappt“, sagte der Blonde zufrieden. Seine Stimme klang wie Donnergrollen in Kens Ohren. „Das ist der Beweis für meine Theorie. Ich bin sehr zufrieden.“
„Hören Sie mir zu“, sagte Ken mit seiner fast unhörbaren Stimme.
Der Blonde hob ihn hoch.
„Ich will mit Ihnen sprechen“, brüllte Ken, so laut er konnte, doch der Blonde hörte nicht auf ihn. Er packte ihn sanft, ging zur Flasche und steckte ihn hinein.
Danach verließen der Blonde und das Monster den Raum und ließen Ken mit seiner Frau allein.
Ken hockte sich nieder. Er schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht fassen, die Ereignisse überstiegen sein Vorstellungsvermögen.
Aber eines wußte er: sie waren rettungslos verloren. Der Unbekannte konnte mit ihnen tun, was immer er wollte, und sie konnten sich dagegen nicht wehren.

* * * 

Jeff Baker war Reporter. Nach seinem Gehaltsstreifen zu schließen, war er sogar ein guter. Die meisten Leute dachten aber anders von ihm.
Sie hielten ihn für skrupellos, bösartig und gemein. Doch die Meinung der Leute hatte Jeff noch nie sehr interessiert. Er sah sich anders. Er wußte genau über seine Schwächen Bescheid. Und aus diesem Grund hatte er sich ein Image aufgebaut, auf das die meisten hereinfielen.
Er war Starreporter der „Sunday Post“, einer New Yorker Sonntagszeitung, die durch ihre Sex-Gestaltung einen zweifelhaften Ruf gewonnen hatte. Nicht zuletzt durch Bakers Reportagen hatte sich die Auflage innerhalb der vergangenen drei Jahre vervierfacht.
Baker war einunddreißig Jahre alt, fast einsneunzig groß, muskulös und breitschultrig. Sein Haar war schwarz und ziemlich lang. Sein braungebranntes Gesicht konnte man nicht als hübsch bezeichnen. Der Mund war zu groß, die Nase viel zu klein und die grauen Augen standen zu weit auseinander. Ein uninteressantes Gesicht, wenn er ernst blickte, doch dieser Eindruck wurde hinweggewischt, sobald er lächelte. Da kam Leben in seine Gesichtszüge, Falten bildeten sich um seine Augen, und er sah plötzlich faszinierend aus. Er wußte um die Wirkung seines Lächelns, das beinahe Berge versetzen konnte. Und wenn er es notwendig hatte, dann lächelte er.
Er hatte viel gesehen, zuviel für seinen Geschmack. Für ihn hatte es nur eine Möglichkeit gegeben, er hatte sich die Masche des zynischen Mannes angeeignet, den nichts mehr erschüttern konnte, dabei war ihm oft zum Weinen zumute. Kratzte man ein wenig an seinem Image, dann kamen verblüffende Eigenschaften zum Vorschein, aber nur wenige machten sich die Mühe, das komplizierte Innenleben des Jeff Backer zu erforschen.
Eine der Ausnahmen bildete Gwen Dobson.
Sie war ein ungewöhnliches Mädchen, in jeder Beziehung. Groß und schlank, das Haar glatt und von einem fast bläulichen Schwarz, wie es normalerweise nur Indianer haben. Die Haut wie Milchkaffee, die Augen groß und schwarz. Schmale Schultern, die durch den hohen Busen noch schmäler wirkten, eine Wespentaille, knabenhafte Hüften, sehr lange Beine. Das Gesicht wirkte in keiner Weise negroid, obwohl ihre Mutter eine waschechte Negerin war, deren Vorfahren kurz vor Lincolns Regierung als Sklaven aus dem tiefsten Sudan nach den Staaten gebracht worden waren. Ihr Vater war ein spleeniger Ire, voll überschäumenden Temperaments, der sein Geld mit Wäschereien gemacht hatte und sich den Teufel darum scherte, eine Negerin zur Frau zu nehmen. Und aus dieser eigenwilligen Mischung war Gwen entstanden, ein ernstes Mädchen, das selten lachte. Ein Mädchen, das eine Reihe Fähigkeiten hatte und sich von den üblichen jungen Menschen grundlegend unterschied.
Einige Leute lächeln milde, aber spöttisch, wenn man über PSI-Fähigkeiten spricht.
Jeff Baker hatte sich immer äußerst sarkastisch über alle okkulten Dinge geäußert. Telepathie, Telekinese, magische Kräfte, Kontakte mit den Verstorbenen: das war ihm alles recht kindisch vorgekommen.
Bis er Gwen Dobson kennenlernte.
Äußerst unwillig hatte er von seinem Chefredakteur den Auftrag entgegengenommen, eine Artikelserie über den Okkultismus zu schreiben. Hexenzirkel, spiritistische und esoterische Vereinigungen, das lag alles nicht auf seiner Linie.
Er war mit der vorgefaßten Meinung an seinen Auftrag herangegangen, daß dies alles ein Quatsch war, bestenfalls etwas für alte Weiber, die nichts Besseres zu tun hatten.
Anfangs schien alles seinen Vermutungen zu entsprechen. Er hatte an einigen Seancen teilgenommen, die nichts als ein dummer Schwindel gewesen waren.
Alles hatte sich geändert, als er Gwen getroffen hatte.
Sie war als ein Medium angekündigt worden, wie es die Welt bisher noch nicht gesehen hatte. Verständlicherweise war Jeff skeptisch gewesen. Doch sie hatte seine Meinung geändert.
Er konnte sich noch ganz genau an die Sitzung vor drei Monaten erinnern. Sie fand in einem luxuriösen Appartement in der Park Avenue statt. Außer ihm nahmen noch ein halbes Dutzend prominenter Wissenschaftler teil. Und wie üblich wurde alles unternommen, um jeden Trick auszuschalten. Gwen wurde gefesselt, zwei der Wissenschaftler saßen neben ihr, hielten ihre Hände. Der Raum war taghell erleuchtet.
Und dann begann es. Der Tisch bewegte sich. Gegenstände flogen durch die Luft, verformten sich, veränderten völlig ihr Aussehen.
Zu diesem Zeitpunkt war Jeff noch immer nicht überzeugt, daß in Gwen Dobson Fähigkeiten steckten, die völlig ungewöhnlich waren.
Er ließ sich erst überzeugen, als sie ihm Dinge aus seinem Leben erzählte, von denen außer ihm niemand etwas wußte.
Einen Tag nach der Sitzung traf er sie wieder. Da sah er sie schon mit anderen Augen.
Die Artikelserie wurde ganz anders, als er sie ursprünglich geplant hatte. Seine Vorurteile hatte er über Bord geworfen. Dank Gwens Hilfe wußte er zwischen Tricks und echten Fähigkeiten zu unterscheiden.
Die Begegnung mit Gwen wurde für Jeff entscheidend. Er traf sie öfters und für ihn war es eine angenehme Überraschung, als er feststellte, daß sie ihn genauso mochte wie er sie.
Am Flughafen Standiford Field mietete er einen Leihwagen. Er lud ihr Gepäck in den Kofferraum, klemmte sich hinters Steuer und fuhr los.
„Lousville, Kentucky“, sagte er spöttisch. „Hier bin ich aufgewachsen. Sechs Jahre lang war ich nicht mehr hier. Und wenn ich ehrlich sein soll, ich habe es nicht vermißt.“
Gwen sagte nichts. Sie lehnte entspannt im Beifahrersitz des Wagens und blickte aus dem Fenster. Sie trug keinen Schmuck, aber das hatte sie auch nicht notwendig. Die schneeweiße Bluse betonte aufreizend das Braun ihrer Haut. Wie immer verzichtete sie auf den Büstenhalter, was für einige Männer ziemlich verwirrend war, da sie den Blick von der gut gefüllten Bluse nicht wenden konnten. Von Röcken hielt Gwen nicht viel, sie zog Hosen vor, die meist so eng waren, daß man sich fragte, wie sie hineingekommen war.
„Ich finde Louisville recht hübsch“, sagte Gwen, was Jeff ein Grunzen entlockte.
„Ein Drecknest“, meinte er. „Das einzig Gute, das von Kentucky kommt, sind die Pferde und der Whisky.“
Gwen lächelte und sah Jeff flüchtig an, dann blickte sie wieder aus dem Fenster.
Das junge Mädchen wußte fast alles von Jeff. Er war hier geboren, hatte seine Jugend einige Meilen außerhalb Louisvilles verbracht und war mit achtzehn Jahren bei einer Wochenzeitschrift als Reporter eingetreten. Es war eine Pferdesportzeitung gewesen, „The Blood Horse“. Nach zwei Jahren hatte Jeff genug gehabt, er war nach Baltimore übersiedelt und hatte als Pferdesportjournalist bei einer Baltimorer Zeitung begonnen. Dann war er Lokalreporter geworden, nach einem Jahr Kriminalreporter. Vor fünf Jahren war sein Chefredakteur zur „Sunday Post“ nach New York übergewechselt und hatte Jeff mit sich genommen.
Sein Aufenthalt in Louisville war nur teilweise privat. Da Joe Henderson, der Pferdesportreporter der „Sunday Post“, erkrankt war, mußte Jeff einspringen. Er sollte über das am Sonnabend, den 5. Mai, stattfindende 99. Kentucky Derby berichten. Diesen Auftrag wollte er gleichzeitig mit einigen Tagen Urlaub verknüpfen. Gwen war gern bereit gewesen, mit ihm zu fliegen, obwohl sie sich aus Pferderennen herzlich wenig machte.
Jeff fuhr nicht ins Zentrum. Nach zwei Meilen bog er rechts ab, und in wenigen Minuten erreichten sie ein Motel, das den hochtrabenden Namen „Paradise“ trug.
Die Zimmer waren hübsch eingerichtet, das Essen schmeckte hervorragend. Sie gingen zeitig zu Bett und Jeff fand, daß der Name des Hotels nicht einmal so unpassend war.
In Gwens Armen fühlte er sich immer wie im Paradies.

* * * 

Kurz nach neun Uhr am nächsten Morgen waren sie bereits unterwegs. Jeff fuhr aus Louisville in Richtung Bardstown.
Das Land war flach, überall Wiesen, die Kentucky den Namen Blue Grass County verliehen hatten.
Nach fünf Meilen verließ Jeff die Bundesstraße 150 und bog in eine schmale Sandstraße ein.
„Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn du deinen Vater angerufen hättest, Jeff“, sagte Gwen.
Jeff schüttelte den Kopf. „Nein, ich will ihn überraschen. Und vor allem meine Mutter, sie wird sicher Augen machen. Es ist endlos lange her, seit ich sie das letztemal gesehen habe.“
Hinter ihnen stieg der Sand hoch. Weit vor ihnen waren schmale Gebäude zu sehen, die rasch größer wurden. Jeff fuhr durch ein Tor hindurch und verlangsamte die Geschwindigkeit. Vor einem einstöckigen uralten Bau blieb er stehen.
Jeff riß die Wagentür auf und stieg aus. Seine Nasenflügel bebten. Gierig sog er den lange vermißten Geruch ein. Es roch nach frischem saftigen Gras und vor allem nach Pferden.
„Dort ist die Trainingsbahn“, sagte Jeff zu Gwen, die ebenfalls ausgestiegen war. „Das ist das Haus, in dem meine Eltern wohnen, daneben sind die Gebäude für die Bediensteten, anschließend die Stallungen.“
Kein Mensch war zu sehen. Aus den Stallungen klang das Stampfen von Hufen und Gewieher.
Die Tür des Hauses wurde plötzlich geöffnet, und eine dicke Negerin trat hervor. Sie trug ein rosafarbenes bodenlanges Kleid und eine weiße Schürze. Das Gesicht mit den wulstigen Lippen war schwarz wie die tiefste Nacht. Die Negerin glotzte Jeff an, dann schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Ihre Augen rollten. Sie schnaufte laut und griff sich mit beiden Händen an den wogenden Busen.
„Ich träume“, sagte sie.
Jeff stieß ein Lachen aus, sprang die zwei Stufen zum Eingangstor hinauf und packte die Negerin mit beiden Händen um die Hüften. Er hob sie hoch, und sie strampelte mit den Beinen.
„Elaine!“ brüllte Jeff begeistert und drückte der verdutzten Farbigen einen Kuß auf die rechte Wange. Solange er sich erinnern konnte, war sie bei seinen Eltern beschäftigt gewesen, und nur zu deutlich war ihm noch immer bewußt, wie oft sie ihn verdroschen hatte.
„Jeff!“ rief die Negerin entzückt. „Du bist noch immer so verrückt.“
Jeff setzte sie ab. „Wo stecken meine Eltern, Elaine?“
„Sie sind im Wohnzimmer, Jeff. Dein Bruder ist auch da.“
Die Erwähnung seines Bruders ließ Jeffs Gesicht kühl werden.
„Komm mit, Gwen“, sagte elf schließlich und trat ins Haus. Nichts hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert. Die große Halle wirkte noch immer kühl. Der hölzerne Stiegenaufgang, die alten Möbel, die Teppiche, die Pferdebilder an den Wänden, alles war gleich geblieben.
Jeff griff nach Gwens Hand und zog sie mit sich. Er durchquerte die Halle und riß eine Tür auf.
Seine Eltern und sein Bruder saßen um einen kreisrunden Tisch. Alle drei hoben den Kopf und blickten zur Tür.
„Hallo“, sagte Jeff grinsend und trat ein.
Sein Vater griff nach der Brille und setzte sie auf. Seine Mutter kniff die Augen zusammen. Sein Bruder preßte die Lippen unwillig zusammen.
Jeffs Mutter reagierte als erste. Sie sprang auf und umarmte ihren Sohn. Sie war klein, schlank und trotz ihrer 55 Jahre noch immer hübsch. Sechs Jahre lang hatte er sie nicht mehr gesehen.
„Das ist aber eine Überraschung“, sagte sie. Obwohl sie seit mehr als dreißig Jahren in den USA lebte, hatte sie ihren deutschen Akzent nicht verloren.
Henry Baker, Jeffs Vater, drängte seine Frau Erika zur Seite und schüttelte die Hand seines Sohnes. Henry reichte Jeff nicht einmal bis zur Schulter. Er war hager, sein Gesicht braungebrannt und sein Haar schlohweiß.
„Der verlorengeglaubte Sohn kehrt nach Hause zurück“, sagte er und lächelte breit.
„Hallo, Billy“, wandte sich Jeff an seinen Bruder, der ihm mißmutig die Hand reichte. Billy war um drei Jahre jünger als Jeff, und sie hatten sich schon als Kinder nicht verstanden.
Jeff stellte Gwen vor und dann setzten sie sich.
Elaine kam ins Zimmer. Sie stellte ein Tablett mit Mint Juleps ab, das traditionelle Getränk Kentuckys. Die hohen Gläser waren mit einer dicken Eisschicht überzogen, aus der die Krausminze hervorragte.
Jeff griff nach einem Glas, schob einen Strohhalm hinein und kostete.
„Elaines Mint Juleps sind die besten“, sagte Jeff, und Elaine lächelte zufrieden.
Gwen hielt sich bei der Unterhaltung zurück. Von Jeff wußte sie, daß sein Vater seine Frau Erika in New York kennengelernt hatte. Damals war Henry Baker noch Jockey gewesen, nach dem Krieg arbeitete er dann als Trainer. Jeffs Beruf stand schon seit seiner Geburt fest. Er sollte so wie sein Vater Jockey werden. Schon mit drei Jahren ritt er wie ein Routinier. Doch eine unerklärliche Laune des Schicksals ließ ihn plötzlich wachsen. Und damit war der Traum, Jockey zu werden, endgültig vorbei. Bei seinem Bruder Billy war es anders. Er wurde kaum 1,70 m groß und wog nicht mehr als fünfzig Kilo. Er wurde Jockey, ein recht erfolgreicher sogar, dem der Ruhm aber zu Kopf gestiegen war. Billy wurde sehr eingebildet, und die Kluft zwischen den Brüdern hatte sich immer mehr vertieft. Obwohl Billy so wie Jeff in New York wohnte, sahen sie sich nie. Jeder ging seinen eigenen Weg.
Und wie es nicht anders kommen konnte, kam die Sprache auf Pferde. Gwen wunderte sich, mit welcher Verbissenheit die Familie Baker die Chancen der Pferde für das bevorstehende Kentucky Derby diskutierte, obwohl weder ein von Henry Baker trainiertes Pferd im Rennen starten sollte noch Billy Baker einen Ritt in diesem traditionsreichsten Rennen Amerikas hatte. Alle waren sich schließlich einig, daß der Favorit für das Rennen Secretariat hieß.
„Nächstes Jahr habe ich mal wieder ein Pferd im Derby“, sagte Henry Baker.
„Das hast du immer gesagt, Pa“, meinte Jeff. „Und dabei hast du nur dreimal Pferde dafür genannt, die aber nicht gewinnen konnten.“
„Diesmal ist es aber anders“, behauptete Henry stur. „Ich habe einen zweijährigen Hengst im Stall stehen, der erstklassig ist. Ich kann ruhig sagen, daß ich nie zuvor so ein gutes Pferd zum Training bekommen habe.“
„Ist das dein Ernst, Pa?“ fragte Billy.
Henry nickte entschieden. „Ein Fuchshengst“, sagte er. „Sieht nicht besonders hübsch aus. Die Abstammung ist recht mäßig. Der Vater ist Biddeforch. Er gewann von 43 Rennen vier. Die Mutter Truly Royal kam nur dreimal auf die Bahn, lief immer unplatziert. Nach der Abstammung zu schließen sollte Northern Gift ein durchschnittliches Pferd sein. Stimmt aber nicht. Er ist ein unglaublicher Steher. Er lief die Meile in 1:30.“
„Das gibt es nicht“, widersprach Billy. „Das ist völlig unmöglich.“
„Es stimmt aber“, erwiderte Henry. „Dieses Wundertier möchte ich mir mal ansehen“, sagte Billy.

* * * 

Northern Gift war für einen Zweijährigen ziemlich groß. Zwischen den Augen hatte er einen weißen Stern. Er schnaubte, als sie seine Box betraten und wandte ihnen den Kopf zu. Er stieß mit den Nüstern gegen Henry Baker, der ihm ein Stück Zucker gab.
„Sieht wie ein ganz normaler Zweijähriger aus“, stellte Billy sachverständig fest.
„Sam“, rief Henry, und einer der farbigen Stallbursche kam näher. „Sattle Northern Gift. Und sage Tred, er soll Captain Advice satteln.“
Sam nickte, und sie verließen den Stall.
„Captain Advice ist ein guter Fünfjähriger“, sagte Henry. „Gewann heuer schon drei Rennen gegen gute Klasse.“
„Du brauchst mir über Captain Advice nichts erzählen, Pa“, sagte Billy ungeduldig. „Ich kenne ihn gut.“
Henry grinste. „Okay, mein Sohn, du setzt dich auf Captain Advice und ich werde Northern Gift reiten. Und ich garantiere dir, daß du keine Chance hast.“
„Pah“, meinte Billy, „Ein Zweijähriger gegen einen erprobten Fünfjährigen. Und außerdem bin ich im Training, während du höchstens in der Arbeit reitest, das kann...“
„Abwarten, Billy“, sagte sein Vater fröhlich. „Du stoppst die Zeit, Jeff.“
Henry drückte Jeff eine Stoppuhr in die Hand. Henry und Billy zogen sich rasch um. Dann wurden die beiden Pferde gesattelt aus dem Stall geführt und zur Trainingsbahn gebracht. Die Bahn war kreisrund, genau eine Meile lang.
Die Pferde nahmen Aufstellung. Neben dem mächtigen Captain Advice wirkte Northern Gift klein und unfertig.
Jeff gab das Startzeichen. Er stand mit seiner Mutter und Gwen neben dem Startposten.
Die Pferde schossen los. Sie lagen Seite an Seite.
„Billy legt ja ein Höllentempo vor“, stellte Jeff fest. Er blickte auf die Stoppuhr. Mehr als die Hälfte der Strecke hatten sie bereits zurückgelegt, doch der Zweijährige ließ sich nicht abschütteln. Zweihundert Meter vor dem Ziel munterte Henry Baker Northern Gift ein wenig auf. Er schlug ihm mit der flachen Hand auf die Flanke und der junge Hengst streckte sich. Sein Körper schien länger zu werden. Seine Sprünge wurden mächtiger, immer schneller wurde er. Er löste sich von Captain Advice, schob sich an ihm vorbei, führte eine Länge, dann drei, und fünfzig Meter vor dem Ziel war der Vorsprung auf zehn Längen angewachsen. Er ging mit gespitzten Ohren und staubtrocken aus dem Rennen, während Captain Advice schweißbedeckt war und wie eine alte Dampflokomotive schnaubte.
„Die Zeit?“ fragte Billy und sprang aus dem Sattel.
Jeff hielt ihm die Stoppuhr hin. 1 : 30 2/5.
Billy schüttelte den Kopf und schaute Northern Gift an, dem man die Anstrengung des Rennens überhaupt nicht anmerkte. Er knabberte vergnügt an Henrys Hand.
„Das ist einfach unglaublich“, sagte Billy, der es noch immer nicht fassen konnte. „Das ist ja ein Superpferd.“
„Dabei forderte ich ihn gar nicht richtig“, behauptete Henry stolz.
Jetzt erwachte Jeffs Reporterinstinkt. Er witterte eine Story. Sie kehrten ins Haus zurück. Henry hatte die Absicht, Northern Gift in sechs Wochen in New York zu starten. Jeff wollte sich noch vor dem Start mit dem Züchter des Pferdes in Verbindung setzen.
Der Name des Züchters sagte Jeff nicht viel. Er hieß Robert P. Martin, war der Besitzer der Shannondale Farm, die sich in der Nähe von Schoharie, im Staat New York, befand.
Jeff beschloß, irgendwann nach seiner Rückkehr nach New York diesem Besitzer einen Besuch abzustatten.
Noch konnte er nicht ahnen, was dieser Besuch alles auslösen würde. Er wußte nichts von den Schrecken, die das Schicksal für ihn bereithielt.
Jeff fühlte sich während des Mittagessens so vergnügt wie schon lange nicht.
Es fiel ihm nicht auf, wie nachdenklich Gwen war. Ihr Blick wurde immer wieder leer.
Sie spürte eine Drohung, eine Gefahr, die von Minute zu Minute größer wurde.
Ihre Unruhe wurde immer stärker.

* * * 

Ken Griffin wußte nicht, wie lange er sich schon in der Gewalt des Wahnsinnigen befand. Es konnte Tage, Wochen oder Monate her sein.
Zusammen mit seiner Frau war er in einen kleinen Käfig gesperrt worden, der aus einem dichtmaschigen Drahtgeflecht bestand. Der Boden war mit Sand bedeckt und es standen einige winzige Möbel herum, ein Bett, einige Stühle und ein Tisch. Die Stühle waren schwer, er konnte sie allein nicht bewegen, das gelang ihm nur, wenn ihm Janet dabei half. Zweimal täglich bekamen sie einen undefinierbar schmeckenden Brei und Wasser.
Anfangs war Ken wie verrückt im Käfig herumgelaufen, hatte sich gegen die Maschen geworfen, mit den Fäusten dagegen getrommelt, bis sie wund geworden waren. Er hatte sich auf dem Boden gewälzt, geschrien und getobt.
Janet hatte ihr unheimliches Schicksal überraschend gefaßt ertragen. Sie zog sich in eine Ecke des Käfigs zurück und starrte teilnahmslos vor sich hin.
Als sich Ken etwas beruhigt hatte, versuchte er mit Janet zu sprechen, doch sie antwortete nicht. Langsam gewann er den Eindruck, daß seine Frau wahnsinnig geworden war.
Tagelang hatte er außer der rotblonden Frau keinen Menschen zu Gesicht bekommen. Die Frau antwortete nicht auf seine Fragen. Schweigend brachte sie ihnen das Essen und verließ den kleinen Raum, in dem sich der Käfig befand.
Alles kam Ken so völlig absurd vor. Wäre er nur um ein paar Minuten später losgefahren, hätte er niemals den Zusammenstoß mit dem grünschuppigen Monster gehabt, das der verrückte Wissenschaftler Gary nannte. Immer wieder kreisten seine Gedanken um den blonden Mann, der behauptet hatte, daß er einige recht interessante Experimente durchführte. Das hatte Ken ja am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es war ihm völlig unverständlich, wie es dem Wissenschaftler gelungen war, ihn und seine Frau in kaum fingergroße Gestalten zu verwandeln.
Unser Verschwinden muß doch bemerkt worden sein, dachte er. Die Polizei muß doch Spuren gefunden haben, man wird uns suchen. Und wenn sie uns tatsächlich finden? Was dann? In ihrem Zustand war ein normales Leben unmöglich. Und Ken bezweifelte es, daß es eine Möglichkeit gab, daß sie wieder ihre normale Größe erlangten.
Er wurde aus seinen düsteren Gedanken gerissen, als die Tür geöffnet wurde und der blonde Mann eintrat. Er kam langsam näher und beugte sich über den Käfig.
„Wie fühlen Sie sich, Mr. Griffin?“ fragte der Wissenschaftler. Obwohl er seine Stimme gedämpft hatte, klang sie für Ken furchterregend.
„Machen Sie mich wieder normal!“ brüllte Griffin, so laut er konnte.
„Das ist im Augenblick nicht möglich. Ich arbeite an einer Lösung. In ein paar Wochen werde ich soweit sein. Solange müssen Sie sich noch gedulden. Ich werde Sie jetzt untersuchen, Mr. Griffin.“
Die Käfigtür wurde geöffnet und eine riesige Hand griff nach Ken, der ihr auszuweichen versuchte.
„Unterlassen Sie diese dummen Scherze“, sagte der Blonde ungehalten. „Es nützt Ihnen nichts. Sie können mir nicht entkommen. Wenn Sie aber weiterhin wie verrückt herumlaufen, packe ich vielleicht fester zu und zerquetsche Sie dabei.“
Ken blieb stehen. Der Blonde hatte recht. Jetzt ließ er es ohne Gegenwehr zu, daß er aus dem Käfig herausgeholt wurde. Der Wissenschaftler schloß den Käfig und verließ das Zimmer. Im Nebenraum stellte er Ken auf einen kleinen Tisch, wandte sich ab und griff nach einem Zerstäuber, den er vor Ken hinhielt. Eine weiße Wolke schoß hervor und hüllte Ken ein. Ein süßlicher Geruch hing in der Luft, dann brach Ken bewußtlos zusammen.
Als er erwachte, fand er sich im Käfig wieder. Er hatte entsetzlichen Durst. Mühsam schleppte er sich zum Wasserbehälter, ließ sich auf die Knie fallen und trank gierig.
Seine Hände zitterten, als er sich aufrichtete. Er war allein im Käfig. Doch er mußte nicht lange warten, dann tauchte der Blonde wieder auf, öffnete den Käfig und legte die bewußtlose Janet auf das kleine Bett.
„Was haben Sie mit uns getan?“ schrie Ken.
„Ich untersuchte Sie“, sagte der Blonde. „Die Ergebnisse der Untersuchung entsprachen meinen Erwartungen. Sie sind organisch völlig gesund. Ich bin sicher, daß ich in einigen Wochen darangehen kann, Sie rückzuverwandeln, Ihnen Ihre normale Größe zu geben.“
„Und wenn Ihnen das gelingt?“
„Dann lasse ich Sie frei“, sagte der Blonde.
„Und das soll ich Ihnen glauben?“
Der Wissenschaftler lächelte. „Sie mißverstehen meine Motive“, sagte er. „Ich brauchte Menschen zu meinen Experimenten. Sie kamen mir wie gerufen, aber ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten. Ich bin nicht wahnsinnig, wie Sie wahrscheinlich vermuten werden. Ich bin ganz normal. Wenn ich meine Experimente abgeschlossen habe, dann unterziehe ich Sie einer weiteren Behandlung, bei der Sie Ihre Erinnerung verlieren.“
„Aber das ist doch unmenschlich“, schrie Ken.
„Das ist Ihre Meinung“, sagte der Blonde reserviert. „Im Dienst der Wissenschaft müssen Opfer gebracht werden.“
Der Blonde verließ das Zimmer, und Ken ging zu seiner Frau, die noch immer ohne Bewußtsein war.
Ken stapfte auf und ab. Hatte der Wissenschaftler die Wahrheit gesprochen, als er gesagt hatte, daß er sie freilassen würde? Oder hatte er das nur zu seiner Beruhigung gesagt?
Janets Zustand besserte sich. Sie war jetzt nicht mehr so apathisch. Er konnte sich mit ihr unterhalten.
Tage vergingen, doch der Blonde tauchte nicht auf.
Oft hatte Ken mit dem Gedanken gespielt, Selbstmord zu begehen. Er hätte sich die Pulsadern aufbeißen können, doch etwas hielt ihn davon zurück.
Er klammerte sich noch immer an die Worte des Wissenschaftlers. Es war die einzige Hoffnung, die ihm blieb.
Die Tage gingen gleichförmig dahin. Ken wurde immer gereizter. Er stritt fast ununterbrochen mit seiner Frau, einmal schlug er sie.
Irgendwann bekamen sie wieder den Wissenschaftler zu sehen. Er öffnete den Käfig und legte einen bewußtlosen Mann hinein, der um ein Stück größer als Ken war.
„Ich hoffe, daß Sie mir für die Abwechslung dankbar sind“, sagte der Blonde spöttisch. „Sie haben einen Gefährten bekommen.“
Auf Kens Fragen reagierte er nicht.
Janet war interessiert aufgestanden und blieb neben dem Bewußtlosen stehen. Er war so wie sie völlig nackt. Ein breitschultriger Bursche, der höchstens fünfundzwanzig sein konnte. Sein Haar war zerrauft und brandrot. Das Gesicht schmal und mit Sommersprossen übersät.
„Ein Leidensgefährte“, sagte Ken mürrisch.
Der Rothaarige bewegte sich leicht, drehte sich zur Seite und sah Janet an. Er setzte sich auf, schüttelte den Kopf und musterte Ken.
„Ich muß geträumt haben“, sagte der Unbekannte, dann blickte er sich im Käfig um und schüttelte den Kopf.
„Sie haben nicht geträumt“, widersprach Ken. „Sie sind winzig geworden. So groß wie der Finger eines Halbwüchsigen. Wie ist Ihr Name?“
„Burdell Bixby“, erwiderte der Rothaarige automatisch.
Ken stellte sich und seine Frau vor. „Erzählen Sie uns Ihre Geschichte“, bat Ken.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, meinte Burdell und stand auf. Ken bewunderte ihn insgeheim. Er war überrascht, mit welcher Fassung Burdell sein Schicksal trug. „Ich bin Vertreter“, sagte er. „Futter und Düngemittel. Ich war bei einigen Farmern in der Nähe von Cobleskill gewesen, hatte mich etwas verspätet, da ich eine Bekannte getroffen hatte. Ich fuhr nach elf Uhr los. Wollte nach Albany nach Hause. Ich fuhr einige Meilen und stellte fest, daß ich einen Platten hatte. Ich fluchte und machte mich daran, das Rad zu wechseln. Plötzlich hörte ich ein lautes Geräusch, drehte mich um und traute meinen Augen nicht. Aus dem Wald trat ein grünes Monster. Nichts wie fort, war mein einziger Gedanke. Ich rannte los, das Biest hinter mir her. Es packte mich. Ich kämpfte verzweifelt, doch es schlug mich nieder. Ich erwachte in einem kleinen Zimmer und konnte mich nicht bewegen. Dann tauchte ein blonder Kerl auf, der etwas von Experimenten faselte. Ich bekam eine Spritze und wurde unter eine Art Höhensonne gelegt. Dabei schlief ich ein. Als ich erwachte, stellte ich fest, daß ich winzig klein geworden war. Wieder wurde ich bewußtlos. Ich fand mich hier bei Ihnen im Käfig wieder.“
Griffin erzählte Burdell seine Geschichte. Der Vertreter hörte aufmerksam zu.
„Jetzt, da Sie davon sprechen“, sagte Burdell, „erinnere ich mich wieder. Vor ein paar Wochen las ich, daß in einer Schlucht ein ausgebrannter Wagen gefunden wurde. Von den Insassen fehlte aber jede Spur. Ich beachtete diese Meldung aber weiter nicht.“
„Wir wurden am 3. Januar gefangengenommen“, sagte Janet.
„Ich am 10. März“, stellte Burdell fest.
„Dann sind wir mehr als zwei Monate hier“, meinte Ken. Er fixierte Burdell. „Stand irgendwann etwas in einer Zeitung, daß ein Monster gesehen wurde?“
Burdell schüttelte entschieden den Kopf. „Nein“, sagte er. „Das wäre mir aufgefallen.“
„Hm“, bemerkte Ken nachdenklich. „Wahrscheinlich hat das Monster den Auftrag, jeden gefangenzunehmen, der es sieht. Mich wundert, daß der Wissenschaftler das Risiko eingeht und das Monster frei herumlaufen läßt.“
„Er geht kein Risiko ein“, stellte Burdell sachlich fest. „Sollte jemand tatsächlich das Monster sehen und ihm entkommen, kein Mensch würde ihm die Geschichte mit dem Ungeheuer glauben. Ich vermute etwas ganz anderes. Das Monster wird absichtlich ausgeschickt. Es soll Opfer holen, Menschen, die der Verrückte für seine Experimente benötigt.“
„Das müßte doch der Polizei auffallen“, schaltete Janet sich ein.
„Sie sind verschwunden und ich“, meinte Burdell. „Die Polizei wird annehmen, daß wir überfallen und getötet wurden und irgendwo verscharrt sind. Für die Polizei sind das ganz alltägliche Fälle.“
„Sie müssen doch Spuren des Monsters gefunden haben.“
„Das bezweifle ich“, sagte Burdell.

* * * 

Gary, das grünschuppige Monster, schlich durch die Nacht. Es war vorsichtig. Es durfte nicht gesehen werden.
Es war ein Geschöpf, wie es die Welt bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Das Zufallsprodukt eines biologischen Versuchs, der schiefgegangen war.
Das Monster war nur mäßig intelligent, und es hatte keine Ahnung von den Kräften, die in seinem riesigen Körper steckten. Es dachte nicht, dazu war es nicht fähig. Es war nicht mehr als ein Roboter, ein Geschöpf, das bedingungslos seinem Herrn folgte. Es hatte einen Auftrag erhalten, den es erfüllen würde.
Als es die Straße erreicht hatte, blieb es stehen. Es konnte sich nicht mehr daran erinnern, daß es einmal blindlings über eine Straße gelaufen war und dabei ein Auto gerammt hatte. Doch es hatte den Befehl erhalten, zu warten.
Das Ungeheuer versteckte sich hinter einer Baumgruppe und starrte auf die mondbeschienene Straße.
Scheinwerferstrahlen näherten sich, und Gary warf sich zu Boden. Der schwere Sattelschlepper donnerte an ihm vorbei. Als das Motorgeräusch nicht mehr zu hören war, richtete sich das künstlich geschaffene Geschöpf langsam auf. Lauschend hob es den Kopf, doch nur das Rascheln der Blätter und Äste war zu hören.
Es sprang auf die Straße und überquerte sie mit zwei gewaltigen Sprüngen und verschwand im Unterholz.
Mit seinen gewaltigen Tatzen schlug es die Äste zur Seite und rannte einen schmalen Waldweg hoch. Nach einigen Minuten blieb es stehen. Es suchte ein geeignetes Versteck, legte sich auf den Boden und streckte den Kopf vor.
Fünfzig Meter unter ihm lag ein kleines Dorf. In einigen der Häuser brannte Licht.
Geduldig wartete das seltsame Geschöpf.
Mehrere Leute verließen ein Lokal, stiegen in ihre Autos und fuhren los.
Langsam wurde es im Dorf dunkel. Nur mehr zwei Häuser hatten erhellte Fenster.
Das Monster hob den Kopf, als ein alter Ford den schmalen Weg zum Dorf entlangfuhr. Der Fahrer hatte die Scheinwerfer abgeblendet und blieb vor einem einstöckigen Haus stehen. Ein breitschultriger Mann stieg aus. Er trug eine schwarze Lederjacke und eine tief in die Stirn gezogene Kappe. Der Mann sah sich aufmerksam um, dann öffnete er die hintere linke Wagentür und zog ein blondhaariges Mädchen heraus. Die Bewegungen des Mädchens waren unsicher. Um ihre Augen war ein dunkles Tuch gebunden. Der Mann packte sie am rechten Ellbogen und führte sie den schmalen Weg entlang. Neben einem halb verfallenen Brunnen ließ er das Mädchen stehen, sagte etwas zu ihr, kehrte zu seinem Wagen zurück, stieg ein und fuhr fort.
Jetzt kam Bewegung in das Monster. Es wartete, bis der Wagen verschwunden war, dann sprang es hoch, lief zwischen zwei Bäumen hindurch und rannte den Abhang hinunter.
Einige Meter von dem Mädchen entfernt blieb es stehen. Witternd blickte es um sich. Als es nichts Verdächtiges bemerkte, lief es los. Es hob das Mädchen auf und verschwand im Schutz des Waldes.
Das Monster preßte das Mädchen gegen die Brust, es bewegte sich nicht.
Zwanzig Minuten später erreichte das Ungeheuer eine alte Ranch, die von einem hohen Zaun umgeben war. Es drückte das Tor auf. Seine Schritte wurden langsamer, als es sich dem Hauptgebäude näherte. Eine Tür wurde geöffnet und ein breiter Lichtstrahl fiel heraus. Vor der Tür setzte das grünschuppige Geschöpf das Mädchen ab.
„Gut gemacht, Gary“, sagte ein blondhaariger Mann.
Gary stieß ein dumpfes Knurren aus.
„Ich brauche dich nicht mehr, Gary“, sagte der Blonde. „Du kannst schlafen gehen.“
Das Monster wandte sich brummend ab und betrat einen alten Schuppen.
Der Blonde nahm dem Mädchen die schwarze Binde ab, trat einen Schritt zurück und lächelte zufrieden.
„Ich schwor, daß ich mich rächen würde“, sagte der Blonde leise. „Und ich werde es tun.“
Er stieß das Mädchen ins Innere des Hauses, schlug die Tür zu und führte seine Gefangene einen breiten Gang entlang. Sie war noch immer in Trance. Die großen dunklen Augen waren weit aufgerissen, sahen aber nichts. Willenlos ließ sie es zu, daß sie in ein kleines Zimmer gebracht wurde. Der Blonde drückte sie auf einen seltsam geformten Stuhl. Er betätigte einen Knopf, und eiserne Spangen schoben sich aus der Lehne und preßten sich um den Hals und die Taille des Mädchens.
„Wach auf“, sagte der Blonde befehlend. Seine dunkelbraunen Augen flackerten leicht. „Wach auf.“
Der tranceartige Zustand des Mädchens verschwand. Ihre Lider zuckten. Für einen Augenblick schloß sie die Augen und ihre Brust hob sich rascher.
Sie war keine aufregende Schönheit. Ihr Gesicht war annehmbar hübsch. Das seidige Haar fiel locker auf ihre Schultern. Sie trug einen dunkelblauen Pulli, der sich um gut geformte Brüste legte. Ihre schlanken Beine wurden von einem langen Wickelrock bedeckt.
Das Mädchen schlug die Augen auf und ihr Blick fiel auf den Blonden, der breitbeinig vor ihr stand.
„Wir haben uns lange nicht gesehen, Schwester“, sagte der Blonde. „Aber ich habe dich nicht vergessen, Carol.“
„Terry“, flüsterte Carol Tucker fast unhörbar.
„Ich habe noch eine Rechnung mit dir zu begleichen, Carol“, meinte Terry Tucker. „Du hast wohl geglaubt, daß ich inzwischen vergessen habe, was? Aber ich habe nichts vergessen. Ich hatte Zeit, viel Zeit. Ich wollte meine Rache nicht sofort. Ich hatte andere Dinge zu tun, doch jetzt habe ich Zeit. Jetzt kann ich mich dir widmen. Und nicht nur dir.“
„Was hast du vor?“ fragte Carol ängstlich.
„Ich werde dich und Jeff Baker töten“, sagte ihr Bruder. „Auf eine Art, wie noch nie zuvor ein Mensch gestorben ist.“

* * * 

Jeff Baker und Gwen Dobson verfolgten das Kentucky Derby von der Presseloge aus. Es war ein Rennen der Superlative.
Schon um sieben Uhr morgens hatte sich vor den Eingangstoren eine Schlange gebildet. Mehr als 130 000 zahlende Zuschauer hatten sich auf dem Rennplatz Churchill Downs versammelt, um das Rennen persönlich mitzuerleben, obwohl es live im Fernsehen übertragen wurde.
Trotz seiner Niederlage im Wood Memorial galt Secretariat als Top-Favorit. Einige Fachleute gaben Sham, Angel Light und Sheckey Green Chancen. Aber der Großteil der Besucher setzte auf Secretariat.
Einige Minuten vor dem Start war Jeff nicht mehr ansprechbar. Gwen saß neben ihm, auf den Knien hielt sie einen Block und in der rechten Hand einen Bleistift. Sie hatte sich bereit erklärt, als seine Sekretärin zu fungieren. Er wollte ihr den Rennverlauf diktieren.
Gwens Unruhe war in den vergangenen drei Tagen gestiegen. Ihre Ahnung, daß Jeff Gefahr drohte, hatte sich immer mehr verstärkt. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihre Fähigkeiten einzusetzen, war es ihr nicht gelungen, in Erfahrung zu bringen, von welcher Seite ihm Gefahr drohte.
Der Start erfolgte um 17.37 Uhr. Die dreizehn Pferde sprangen aus den Startboxen. Secretariat lag an letzter Stelle. Aber er holte langsam auf. Fünfhundert Meter vor dem Ziel lag er noch acht Längen hinter dem führenden Sheckey Green. Secretariats Jockey Ron Turcotte hob einmal die Peitsche, und der prachtvolle Fuchshengst streckte sich, wurde immer rascher. Sheckey Green fiel zurück, wurde von Sham überholt, doch dann raste Secretariat heran. Noch einmal bekam der Hengst die Peitsche zu spüren, wurde noch rascher, setzte sich neben Sham, dessen Jockey wie verrückt auf sein Pferd einschlug. Doch es nützte nichts. Secretariat überholte Sham und siegte mit drei Längen in einer neuen Rekordzeit für das Kentucky Derby und seine Besitzerin war um 198 800 Dollar reicher, soviel betrug die Siegdotation.
Jeff wartete die Siegerehrung nicht ab. Er betrat die Presseräume, verfaßte seinen Rennbericht samt ausführlichem Kommentar. Nachdem sein Bericht per Fernschreiber an seine New Yorker Redaktion durchgegeben war, verließen sie den Rennplatz.
Jeff wollte noch die 19.10 Uhr-Maschine nach New York erreichen. Er gab den Leihwagen zurück und sie bestiegen das Flugzeug.
Gwen war während des Neunzigminutenflugs geistesabwesend, sie gab nur einsilbige Antworten.
Das Gefühl der drohenden Gefahr wurde für das junge Mädchen immer stärker.
„Was ist mit dir los, Gwen?“ fragte Jeff nach einigen Minuten.
„Ich weiß es nicht“, sagte Gwen schwach. „Ich habe Angst um dich.“
„Angst um mich?“ fragte Jeff überrascht. Er sah sie aufmerksam an.
„Ja, Angst“, wiederholte Gwen leise. „Du weißt über meine Fähigkeiten Bescheid, Jeff. Und ich spüre es ganz deutlich, fast körperlich, daß dir Gefahr droht.“
„Unsinn“, sagte Jeff. Doch er war unsicher geworden. Nur zu gut konnte er sich erinnern, was vor vier Wochen geschehen war. Damals hatte Gwen auch dieses Angstgefühl gespürt. Sie war in Sorge um eine ihrer Freundinnen gewesen. Gwen hatte gefühlt, daß ihr etwas zustoßen würde. Dann hatte sie den Traum gehabt. Sie hatte ihre Freundin gesehen, wie sie ein Gebäude betrat. Eine Bank, doch Gwen hatte den Namen der Bank nicht erkennen können. Und dann war es geschehen. Auf die Bank wurde ein Überfall von zwei maskierten Männern verübt, es kam zu einer Schießerei, und ein Querschläger tötete Gwens Freundin. Drei Tage später hatte sich der Traum bewahrheitet, obwohl Gwen ihre Freundin gewarnt hatte, eine Bank zu betreten. Die Freundin hatte nicht darauf gehört, und der Traum hatte sich erfüllt.
„Du weißt ganz genau, daß es kein Unsinn ist, Jeff“, betonte Gwen. „Ich spüre die drohende Gefahr seit unserem Besuch bei deinen Eltern. Und dieses Gefühl wird immer stärker.“
Jeff steckte sich eine Zigarette an. „Von welcher Seite droht mir Gefahr?“ fragte er.
Gwen hob die Schultern. „Das kann ich eben nicht feststellen“, sagte sie unglücklich. „Du mußt vorsichtig sein.“
Jeff nickte. „Das werde ich sein“, sagte er.

* * * 

Vom Flughafen fuhren sie mit einem Taxi zu Jeffs Wohnung in der 64. Straße. Das uralte Backsteinhaus war dreistöckig und Jeff hatte den ganzen obersten Stock gemietet.
Wie üblich war es im Treppenhaus eiskalt. Jeff öffnete den Briefkasten und klemmte sich achtlos die Post unter den rechten Arm. Das alte Haus hatte keinen Aufzug.
Schweigend stiegen sie die Stufen hoch. Vor der Tür blieb Jeff stehen und sah Gwen fragend an. Sie schüttelte den Kopf und er sperrte die Tür auf.
Seit einem halben Jahr hatte er sich vorgenommen, endlich seine Wohnung umbauen zu lassen. Früher hatte er seine vier Wände mit anderen Augen gesehen, da war er noch auf die technischen Spielereien stolz gewesen, jetzt kam ihm das alles recht kindisch vor.
Das Vorzimmer wirkte wie ein Tanzlokal. Grelle Farben, Lichtquellen und bewegliche Scheinwerfer, die sich automatisch einschalteten. Dazu sanfte Musik, die aus verborgenen Lautsprechern klang.
Jeff ging mißmutig durch das Kaleidoskop der zuckenden Farben, und die Tür zum Wohnzimmer schwang automatisch auf. Gwen folgte ihm. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie sich an Jeffs verrückte Wohnung gewöhnt hatte.
Das Wohnzimmer war riesengroß. Die drei Fenster waren geschlossen. Jeff drehte das Licht an und regelte die Lichtstärke, dann öffnete er eines der Fenster, setzte sich und warf die Post auf den kleinen Tisch.
„Willst du einen Martini, Jeff?“
„Gern“, sagte er und schlüpfte aus seiner Jacke. Er griff nach seiner Post und blätterte sie durch. Einige Zeitschriften, viele bunt bedruckte Werbeprospekte, Bankauszüge und einige Briefe und Ansichtskarten. Er kontrollierte flüchtig die Bankauszüge, brummte, als er bemerkte, daß er wieder einmal viel zuviel Geld im vergangenen Monat ausgegeben hatte, dann sah er die Ansichtskarten an, legte sie zur Seite und öffnete die Briefe. Zwei stammten von ehemaligen Kollegen, die jetzt in Europa arbeiteten. Der dritte Briefumschlag trug keinen Absender. Er war vor zwei Tagen in New York City aufgegeben worden.
Gwen stellte den Martini auf den Tisch. Jeff hob den Kopf und lächelte. Er trank einen Schluck und riß den Briefumschlag auf.
„Lieber Jeff“, begann das Schreiben, „ich versuche Dich seit einigen Tagen zu erreichen. Die Redaktion sagte mir, daß Du nach Louisville gefahren bist. Rufe mich sofort an, wenn Du zurückkommst. Es ist wichtig. Carol.“
Jeff las den Brief nochmals, dabei runzelte er die Stirn.
„Ist etwas, Jeff?“ fragte Gwen interessiert.
„Lies selbst“, sagte Jeff und reichte ihr das Schreiben.
„Wer ist Carol?“ fragte Gwen.
Jeff lehnte sich zurück und schloß die Augen. „Das ist eine lange Geschichte, Gwen“, antwortete er nach einiger Zeit, schlug die Augen auf und trank das Glas leer. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer, die unter Carols Namen stand. Er ließ es zehnmal läuten, doch niemand hob ab. Nachdenklich legte er den Hörer auf.
„Erzähle“, bat Gwen.
Jeff nickte und steckte sich eine Zigarette an. Er inhalierte den Rauch tief und blies ihn ruckartig aus. „Ich lernte Carol Tucker vor etwa einem Jahr in Brasilien kennen“, sagte er. „Kannst du dich noch an die sensationellen Berichte vom Auftauchen eines riesigen roten Affen erinnern, Gwen?“
„Der Affe hieß Harlo“, antwortete das Mädchen.
„Richtig“, sagte Jeff. „Ich bekam den Auftrag, den Affen zu finden. (Siehe Vampir-Roman Nr. 48 — DER ROTE AFFE). Zusammen mit Susan Wood und ihrem Verlobten Carl Ellison flogen wir nach Brasilien. Wir wurden von einem Indianerstamm gefangengenommen und sollten geopfert werden. Da tauchte plötzlich der Riesenaffe auf, zerstörte das Dorf und raubte einige Frauen, darunter auch Susan. Zusammen mit Carl gelang mir die Flucht. Wir schlugen uns durch den Urwald und erreichten ein Haus. Es war ein großes Steinhaus, ziemlich ungewöhnlich für das Amazonasgebiet. Das Haus wurde von Terry Tucker und seiner Schwester Carol bewohnt. Terry war alles andere als begeistert, uns zu sehen, er wollte uns keine Hilfe gewähren, doch Carol überredete ihn dazu. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Ich stellte fest, daß Terry Tucker der Schöpfer des riesigen Affen war. Er hatte ihn geschaffen und Harlo immer wieder ausgeschickt, um Indianerfrauen zu rauben, die Tucker für seine biologischen Experimente brauchte. Carol half mir. Es gelang uns die Flucht. Einige Zeit später kehrte ich mit einigen beherzten Männern zurück. Das Haus war verlassen, von Carl Ellison und Susan Wood fanden wir keine Spur. Wir fingen den Riesenaffen und er wurde nach New York gebracht. Das werte Publikum durfte ihn besichtigen, doch eines Nachts brach Harlo aus. Hinter seinem Ausbruch steckte Terry Tucker, der den Affen auf uns hetzte. Der Affe floh, als er uns nicht erwischen konnte. Er rannte in den Central Park und wurde erschossen.“
„Und was geschah mit Terry Tucker?“
Jeff drückte die Zigarette aus und stand auf. Er ging zur Bar und holte eine Flasche Bourbon heraus, brachte sie zum Tisch und schenkte sich ein Glas ein.
„Das weiß ich nicht“, sagte Jeff. „Tucker war verschwunden. Doch Carl Ellison und Susan Wood tauchten plötzlich bei mir auf. Ihre Gesichter waren völlig ausdruckslos. Sie bewegten sich wie Marionetten. Beide waren hypnotisiert. Carl Ellison sprach plötzlich. Er starrte mich an und sagte: ‚Wir sollen Ihnen etwas ausrichten, Jeff. Terry Tucker läßt Sie schön grüßen. Sie sollen nicht glauben, daß er Sie vergessen hat. Er hat Zeit. Er wird sich rächen, aber es eilt ihm nicht damit. Doch einmal wird er Sie töten. Irgendwann einmal.' Dann schwieg er.“
Gwen hatte sich mit weit aufgerissenen Augen vorgebeugt.
„Aber das war noch nicht alles“, fuhr Jeff fort. „Susan Wood hatte eine Botschaft für Carol. Sie sagte: ‚Und ich soll auch Ihnen etwas ausrichten, Carol. Terry Tucker betrachtet Sie nicht mehr als seine Schwester. Er haßt Sie genauso wie Jeff. Auch Sie werden sterben, irgendwann.' Carl und Susan waren danach noch etwa eine halbe Minute in Trance, dann fiel die Erstarrung von ihnen ab. Beide hatten die Erinnerung verloren. Sie konnten sich nur daran erinnern, daß wir von den Indianern gefangengenommen worden waren. Alles, was danach geschehen war, hatten sie vergessen.“
„Das war vor etwa einem Jahr?“ fragte Gwen.
Jeff nickte. „Carol blieb zwei Monate bei mir“, sagte Jeff. „Wir verstanden uns nicht so besonders. Sie wollte nicht zurück nach Chicago. Sie suchte sich in New York eine Wohnung. Sie studiert Geschichte, glaube ich. Seit einem halben Jahr habe ich nichts mehr von ihr gehört. Und von ihrem Bruder habe ich seit den Botschaften von Carl und Susan nichts mehr gehört und gesehen. Die ersten Wochen nach der Warnung war ich vorsichtig, doch seit einigen Wochen hatte ich nicht mehr an die damaligen Ereignisse gedacht. Bis heute.“
Jeff hob Carols Brief hoch und wählte noch mal ihre Nummer, doch auch diesmal meldete sich niemand.
„Ich fürchte“, sagte Jeff leise, „daß Carol in Gefahr ist. Sonst könnte ich mir nicht vorstellen, weshalb sie sich mit mir in Verbindung setzen will.“
„Wenn das stimmt“, flüsterte Gwen, „dann stimmt auch meine Ahnung, Du schwebst in Gefahr, Jeff.“
Der Reporter strich sich über die Lippen. Gwens Vermutung leuchtete ihm ein. Er traute es Terry Tucker durchaus zu, daß er Carol und ihn töten wollte.
Ein Jahr war vergangen, in dem sich Terry Tucker einen sicheren Unterschlupf gebaut haben konnte. Und Tucker war nur von einem Wunsch beseelt: er wollte seine biologischen Experimente durchführen. Es war ihm gelungen, einen riesigen Affen zu schaffen, ein Wesen, das ihm aufs Wort gehorcht hatte. Jeff wußte von Carol, daß Terry völlig neue Geschöpfe hervorbringen wollte. Es war ihm gelungen, Menschen völlig willenlos zu machen und ihr Gedächtnis wie ein Magnetband zu löschen.
Terry Tucker stellte eine Bedrohung dar. Nicht nur für Carol und ihn, sondern für alle Menschen.
Ein Jahr lang hatte er Zeit gehabt, seine Experimente durchzuführen, und niemand konnte ahnen, welche Erfolge er aufzuweisen hatte.
„Du mußt dich in Sicherheit bringen, Jeff“, sagte Gwen.
Jeff stand langsam auf. „In Sicherheit bringen“, wiederholte er leise. „Die gibt es nirgends. Außerdem ist es nicht meine Art zu fliehen. Ferner steht es noch gar nicht fest, daß Terry Tucker etwas mit Carols Brief zu tun hat.“
„Das liegt aber doch sehr nahe“, meinte Gwen.
Jeff hob die Schultern. „Eine Flucht bringt auf keinen Fall etwas ein. Sie würde alles nur verzögern. Es bleibt mir nur eine Wahl.“
„Und die ist?“
„Ich muß mich Terry Tucker zum Kampf stellen“, antwortete Jeff grimmig. „Ich werde versuchen herauszufinden, wo er sich versteckt hält. Ich muß ihm zuvorkommen.“
„Und wie willst du das anstellen, Jeff?“
„Das weiß ich im Augenblick nicht“, erwiderte er seufzend. „Jetzt fahre ich mal zu Carols Wohnung.“
„Sie ist nicht zu Hause“, gab Gwen zu bedenken.
„Ich probiere es auf jeden Fall. Ist sie tatsächlich nicht zu Hause, dann hinterlasse ich eine Nachricht, daß sie mich ab sofort erreichen kann.“
„Ich komme mit“, sagte Gwen.
Jeff hatte nichts dagegen.

* * * 

Carol wohnte in der 23. Straße, unweit der Hudson Street. Ein altes Haus, das eben renoviert wurde. Sie warteten, bis das Taxi um die Ecke verschwunden war, dann gingen sie zum Haustor. Jeff sah sich die Namensschilder an. Schließlich fand er Carols Namen. Ohne viel Hoffnung drückte er auf den Knopf neben dem Namensschild. Zu seiner größten Überraschung hörte er das Knacken der Sprechanlage.
„Ja, wer ist da?“
Es war Carols Stimme, da gab es keinen Zweifel. „Hier ist Jeff. Ich kam heute nach Hause und fand deinen Brief. Ich versuchte dich telefonisch zu erreichen, doch…“
„Ich war spazieren.“ Carols Stimme klang reserviert.
Jeff zog die Brauen hoch und sah Gwen an. „Ich will mit dir sprechen, Carol“, sagte er.
„Um diese Zeit?“
„Ja“, antwortete Jeff.
„Ich wollte gerade schlafen gehen“, meinte Carol unfreundlich. Der Türsummer ertönte, und Jeff öffnete die Tür, hielt sie auf und ließ Gwen eintreten. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Jeff drückte auf den Lichtschalter, und sie gingen zum Aufzug.
„Da stimmt irgend etwas nicht“, stellte Jeff fest, als sich der Aufzug in Bewegung setzte. „Sie schreibt einen Brief, daß ich sie dringend anrufen solle, da es wichtig sei. Und jetzt ist sie alles andere als erfreut, daß ich mich bei ihr melde.“
Sie fuhren in den 6. Stock, stiegen aus, und nach kurzem Suchen hatte Jeff Carols Wohnung gefunden. Bevor er noch klingeln konnte, wurde die Tür geöffnet und Carol stand vor ihnen. Sie trug einen weinroten Morgenrock und Holzpantoffel.
„Hallo, Carol“, sagte Jeff. Carol nickte und sah Gwen an. „Das ist Gwen Dobson.“ Wieder nickte Carol, trat einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür weiter.
„Kommt herein“, sagte sie. „Ihr müßt meinen Aufzug entschuldigen, aber ich wollte eben zu Bett gehen.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, sagte Jeff.
Sie betraten das Wohnzimmer und setzten sich.
„Was hat dein Brief zu bedeuten, Carol?“ fragte Jeff.
„Davon hast du schon vorher gesprochen, Jeff“, meinte Carol und lehnte sich zurück. „Ich habe dir keinen Brief geschrieben.“
„Und was ist das?“ fragte der Reporter und reichte Carol das Schreiben. Sie las es verwundert und gab es Jeff zurück.
„Es ist meine Handschrift“, sagte sie. „Aber ich habe dir nicht geschrieben. Ich wüßte nicht, weshalb ich dir hätte schreiben sollen.“
„Ich dachte, daß sich dein Bruder vielleicht...“
Carol lachte. „Nein, Terry hat sich bei mir nicht gemeldet.“
Jeff steckte sich eine Zigarette an, Carol kam ihm zurückhaltend vor. doch sie war schon immer scheu gewesen. Aber irgendetwas stimmte nicht.
„Wer hat dann den Brief geschrieben?“
„Keine Ahnung“, sagte Carol. „Irgendjemand hat sich einen Scherz erlaubt. Nachdem ihr nun schon mal da seid, wollt ihr etwas trinken?“
„Gern“, bemerkte Gwen. „Ein Kaffee wäre nicht übel.“
Jeff blickte Gwen erstaunt an. Er wußte, daß sie sich nicht viel aus Kaffee machte und am Abend nie einen trank.
Carol stand auf. „Für dich auch Kaffee, Jeff?“
Jeff nickte und Carol ging aus dem Zimmer.
„Seit wann trinkst du..“
„Ich wollte, daß Carol uns allein läßt“, unterbrach ihn Gwen rasch. „Sie wurde hypnotisiert.“
„Bist du da sicher?“
„Ganz sicher“, sagte Gwen. „Wir müssen vorsichtig sein, Ich würde empfehlen, daß wir den Kaffee nicht trinken.“
„Das würde doch auffallen“, widersprach Jeff. „Zuerst bestellen wir einen und dann trinken wir ihn nicht.“
„Wir dürfen kein Risiko eingehen, Jeff“, betonte Gwen. „Vielleicht schüttet sie etwas hinein.“
„Das ist doch Unsinn“, meinte Jeff. „Warum sollte sie...“
„Wer hat sie hypnotisiert?“
„Hm“, sagte Jeff und hob nachdenklich die Brauen.
Carol trat ins Zimmer. „Der Kaffee ist in fünf Minuten fertig.“ Aus einem Schrank holte sie drei Tassen und stellte sie auf den Tisch. „Es ist schon eine Ewigkeit her, seit wir uns gesehen haben, Jeff.“ Carol lächelte und setzte sich.
„Das kann man wohl sagen“, bestätigte Jeff. „Ich dachte oft an dich“, log er unverschämt. „An dich und deinen Bruder. Erinnerst du dich noch an seine Warnung?“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortete Carol. „Aber sprechen wir nicht über meinen Bruder. Die Erinnerung an ihn ist nicht besonders angenehm für mich.“
„Das kann ich mir denken“, sagte Jeff.
Carols Bewegungen kamen ihm unsicher vor. Sie wußte nicht, was sie mit den Händen tun sollte. Und ihre dunklen Augen flackerten seltsam. Ihr Blick wirkte glasig.
„Studierst du immer noch, Carol?“
Das Mädchen legte die Hände auf die Knie. „Ja, ich studiere noch immer.“ Ihre Stimme klang jetzt seltsam verzerrt. „Ich bin sofort zurück. Der Kaffee wird jetzt fertig sein.“
Sie sprang auf und ging rasch aus dem Zimmer.
Jeff drückte die Zigarette aus. „Sie wirkt tatsächlich seltsam“, meinte er.
„Ich werde versuchen, Carol aus der Hypnose zu lösen“, sagte Gwen. „Dazu brauche ich aber möglicherweise deine Hilfe, Jeff.“
„Was soll ich tun?“
„Du mußt sie festhalten. Ich sage dir...“ Sie brach ab, als Carol mit dem Kaffee ins Zimmer trat. Carol stellte ein Kännchen Milch und Zucker auf den Tisch, dann schenkte sie den Kaffee ein. Sie stellte die Kanne ab, wandte Jeff das Gesicht zu und legte die rechte Hand auf seine Schulter.
Jeff hob den Kopf. Er sah in Carols Augen, die zu flimmern begannen. Er wollte sich abwenden, doch der zwingende Blick war zu stark. Die Augen schienen riesig zu werden. Jeff wollte etwas sagen, doch seine Zunge war wie gelähmt. Seine Augen wurden starr.
Carol wandte sich ab und blickte Gwen an. Wieder wurden ihre Augen groß.
Gwen ertrug Carols hypnotischen Blick. Sie gab sich aber den Anschein, als würde sie sich beeinflussen lassen. Ihre Augen wurden leer und sie saß unbeweglich da.
Carol trat zu einem Schrank, öffnete ihn und holte ein kleines Fläschchen heraus. Sie öffnete es, ging zum Tisch und ließ fünf Tropfen einer glasklaren Flüssigkeit in Jeffs Tasse fallen. Sie rührte den Kaffee langsam um, verschloß das Fläschchen, ging zum Schrank und stellte es zurück, dabei wandte sie Gwen den Rücken zu.
Gwen reagierte sofort. Sie tauschte die Kaffeetassen aus. Als sich Carol setzte, war Gwen wieder reglos wie eine Statue. Sie beobachtete Carol aus den Augenwinkeln. Das blonde Mädchen beugte sich zu Jeff und sah ihm in die Augen. Plötzlich konnte sich Jeff wieder bewegen. Dann schaute Carol Gwen an.
Jeff schüttelte verwundert den Kopf. Undeutlich erinnerte er sich an Gwens Warnung, daß er den Kaffee nicht trinken sollte. Als er aber sah, daß Carol aus ihrer Tasse trank, folgte er ihrem Beispiel.
Gwen wartete, bis Carol ihre Tasse leer getrunken hatte, dann beugte sie sich vor.
„Carol“, sagte Gwen laut. „Was haben Sie in Jeffs Tasse gegeben?“
Carol blickte Gwen verwundert an. „Nichts“, antwortete sie scharf. „Was hätte ich...“
„Sie holten aus einem Schrank ein kleines Fläschchen und schütteten davon...“
„Das ist eine Lüge“, rief Carol wütend.
„Außerdem versuchten Sie mich zu hypnotisieren, Carol“, sprach Gwen ruhig weiter. „Aber bis jetzt ist es noch keinem Menschen gelungen, mich zu hypnotisieren. Bei Jeff hatten Sie mehr Erfolg. Er fiel in Trance.“
„Sie phantasieren“, sagte Carol wütend.
Gwen lächelte. „Sie merkten es nicht, daß ich die Tassen vertauschte, Carol. Sie tranken den Kaffee, der für Jeff bestimmt war. Und jetzt bin ich äußerst neugierig, was mit Ihnen geschehen wird.“
„Was sagst du da?“ fragte Jeff erregt.
Carol schloß die Augen. Ihre Finger zitterten. Sie atmete rascher. Ihre Stirn war plötzlich schweißbedeckt.
„Stimmt das alles wirklich, was du eben erzählt hast, Gwen?“
Das junge Mädchen nickte. „Wir dürfen Carol nicht aus den Augen lassen. Sie verändert sich.“
Rote Flecken zeichneten sich auf Carols Wangen ab. Speichel tropfte über ihre Lippen, die fast durchsichtig geworden waren. Carol keuchte. Sie schlug wild mit den Armen um sich. Dann sprang sie plötzlich kreischend auf. Ihre Augen glühten. Ihre Lippen verzerrten sich, das Gesicht fiel ein. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sie sich völlig. Sie riß sich den Morgenrock vom Leib.
Jeff sprang auf.
Carols Körper war mit einem roten Pelz bedeckt. Mit einem wütenden Fauchen sprang sie Jeff an, der einen Schritt zur Seite wich und die rechte Faust vorschnellen ließ. Er traf Carol in den Nacken und sie fiel zu Boden.
„Wir müssen sie fesseln“, rief Gwen.
Carol verwandelte sich weiterhin. Jetzt waren ihre Beine und Arme mit dem roten Pelz bedeckt. Ihre Hände und Füße wurden zu Klauen. Sie stieß einen unmenschlichen Schrei aus und sprang auf.
Jeff packte einen Stuhl, hob ihn hoch und schlug damit auf Carol ein.
Gwen rannte zum Fenster und riß den Vorhang herunter.
Carol richtete sich auf und versuchte Jeff zu erreichen. Er wehrte sie mit dem Stuhl ab, und das Mädchen brüllte wütend.
Gwen näherte sich ihr langsam. Als Carol wieder lossprang, schleuderte Gwen den Vorhang über Carols Kopf. Carol verfing sich in dem Stoff, taumelte, und in diesem Augenblick schlug Jeff mit aller Kraft zu. Ein Stuhlbein traf Carol am Kopf. Sie bäumte sich auf und brach zusammen.
„Rasch!“ rief Gwen. „Wir müssen sie fesseln.“
Carol bewegte sich leicht. Jeff kniete neben ihr nieder und öffnete seinen Gürtel. Gwen half ihm. Sie drehten Carol auf den Bauch, packten ihre Arme, und Jeff schlang den Gürtel um ihre Handgelenke.
„Das wird nicht lange halten“, sagte er. „Wir brauchen eine starke Schnur.“
Gwen sah sich in der Wohnung um, während Jeff den Vorhang von Carols entstelltem Kopf zog und ihn in Streifen riß. Er packte die pelzbedeckten Beine des Mädchens und band sie knapp unter den Knien zusammen. Gwen hatte eine starke Nylonschnur im Badezimmer gefunden.
Damit fesselten sie das noch immer bewußtlose Mädchen.
„Hoffentlich halten die Fesseln“, sagte Jeff keuchend.
Jetzt hatte er Zeit, Carol näher zu betrachten. Und was er zu sehen bekam, gefiel ihm gar nicht. Sie war von der Stirn bis zu den Fußsohlen mit einem rötlichen Pelz bedeckt. Das Gesicht hatte nichts Menschliches mehr an sich.
Jeff wandte sich schaudernd ab. Hätte er den Kaffee getrunken, den Carol für ihn präpariert hatte, dann wäre er zu diesem scheußlichen Monster geworden und sicherlich auf Carol und Gwen losgegangen.
Carol riß die Augen und das Maul auf. Ein tiefes Brummen kam über ihre wulstigen Lippen, die sie weit hochzog und scharfe Zähne entblößte. Wütend riß sie an ihren Fesseln, die aber zum Glück hielten. Doch sie ließ nicht locker. Immer wieder versuchte sie sich zu befreien.
„Wir müssen die Polizei verständigen“, sagte Jeff. Er ging zum Telefon und hob den Hörer ab. „Ich werde...“
Carol stieß einen lauten Schrei aus, dann bäumte sich ihr Körper auf und sie brach zusammen. Ihre Beine zuckten noch einige Sekunden, dann bewegte sie sich nicht mehr.
Jeff legte den Hörer auf und kniete neben Carol nieder. Ihr Körper streckte sich und der Pelz fiel ihr büschelweise aus. Die Krallen wurden wieder zu menschlichen Händen und Füßen. Das Gesicht verwandelte sich zurück. Eine Minute später lag Carol vor Jeff, so wie er sie kannte.
„Der Anruf bei der Polizei hat sich wohl erübrigt“, sagte Gwen.
Jeff nickte. Er hob die bewußtlose Carol auf und legte sie auf die Couch. Er breitete ihren Morgenrock über sie und trat einen Schritt zurück. Carols Gesicht war entspannt. Sie atmete regelmäßig.
„Was nun?“ fragte Jeff.
„Wir warten“, meinte Gwen und setzte sich. „Sobald sie wach ist, werde ich versuchen, sie aus der Hypnose zu wecken.“
„Ohne dich wäre ich verloren gewesen“, sagte Jeff leise. Seine Hände zitterten, als er sich eine Zigarette anzündete. „Wäre ich allein zu Carol gegangen, dann hätte ich nicht bemerkt, daß sie mich hypnotisiert hätte. Ich hätte den Kaffee getrunken, mich in ein Monster verwandelt und wäre auf sie losgegangen. Wahrscheinlich hätte ich sie getötet. Die Verwandlung hat nicht einmal fünf Minuten angehalten. Ich hätte mich zurückverwandelt und wäre vor der toten Carol gestanden. Ein teuflischer Plan. Kein Mensch hätte mir die Geschichte von dem Ungeheuer geglaubt.“
„Was hättest du dann getan, Jeff?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Wahrscheinlich die Polizei verständigt.“ Er zögerte einen Augenblick. „Nein, das hätte ich nicht getan. Die Polizei hätte mich für den Mörder gehalten. Ich hätte keine Chance gehabt.“
„Du wärst aus der Wohnung verschwunden“, stellte Gwen fest, „und hättest versucht, Terry Tucker zu finden. Und damit rechnete Carols Bruder. Denn eines steht wohl eindeutig fest, der Plan stammt von Terry Tucker. Es muß mir gelingen, Carol zum Sprechen zu bringen.“
„Hoffentlich hast du damit Erfolg.“
Carol bewegte sich. Sie seufzte und drehte sich zur Seite. Sie war noch immer gefesselt.
„Sollen wir ihr nicht die Fesseln lösen?“
Gwen schüttelte den Kopf. „Nein, wir wissen nicht, ob sie sich nicht noch einmal in die rote Bestie verwandelt.“
Carol öffnete die Augen und sah Jeff verständnislos an. Sie befeuchtete sich die Lippen und wollte sich aufsetzen, doch die Fesseln hinderten sie daran.
„Bleiben Sie ruhig liegen“, sagte Gwen sanft.
„Laßt mich los“, rief Carol.
„Hören Sie mir zu, Carol“, sagte Gwen. „Sie wurden von Ihrem Bruder hypnotisiert. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja“, antwortete Carol, „aber ich glaube Ihnen kein Wort. Meinen Bruder sah ich vor einem Jahr das letztemal.“
„Sie müssen mir glauben“, bat Gwen. Ihre Stimme klang sanft und einschmeichelnd.
Jeff hielt sich im Hintergrund. Er wußte, was Gwen beabsichtigte. Sie wollte Carol beruhigen, doch daß ihr das gelingen würde, das bezweifelte er. Er hatte sich mit Gwen vor einiger Zeit eingehend über Hypnose unterhalten.
„Wir wollen Ihnen helfen, Carol“, sprach Gwen weiter. Sie öffnete ihre Handtasche und holte einen kleinen runden Spiegel heraus. „Entspannen Sie sich, Carol.“
„Ich will nicht“, schrie das blonde Mädchen wütend. „Ich will, daß ihr mich losbindet.“
Gwen ließ sich nicht beeinflussen. Sie sprach beruhigend auf Carol ein, dann drehte sie den Handspiegel so, daß das Licht der hohen Stehlampe hineinfiel. Carol schloß die Augen und ihr Mund verzerrte sich unwillig.
Die Farbige legte nach einiger Zeit den Spiegel auf den Tisch und blickte Jeff an. „Du mußt mir helfen“, sagte sie. „Mit normalen Mitteln komme ich nicht zum Ziel. Ich muß meine PSI-Fähigkeiten anwenden, so ungern ich es auch tue.“
„Was soll ich tun?“ fragte Jeff.
„Stell dich hinter Carol und halte ihren Kopf fest. Sie darf sich nicht bewegen.“
Jeff gehorchte. Er zog sich einen Stuhl heran und packte Carols Kopf. Sie versuchte ihn zu beißen.
„Laßt mich los!“ brüllte Carol mit überschnappender Stimme.
Jeff preßte eine Hand um Carols Kinn, die andere legte er auf ihre Stirn und drückte den Kopf fest auf die Couch. Gwen setzte sich zu Carol. Sie schloß die Augen und entspannte sich. Sie ließ die Arme locker herunterhängen und senkte den Kopf. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie sich selbst in Trance versetzt. Sie atmete langsamer, nach einer halben Minute setzte ihr Atem aus. Ihre volle Brust hob sich nicht mehr.
Jeff schaute seine Freundin fasziniert an. Mehr als fünf Minuten vergingen, in denen Gwen nicht ein einziges Mal atmete. Plötzlich bewegte sie sich. Sie streckte die Arme aus und wandte sich Carol zu, die von Minute zu Minute ruhiger geworden war. Gwens schlanke Hände strichen über Carols Gesicht, berührten dabei Jeffs Hände, der noch immer Carols Kopf hielt. Jeff schien es, als würden Funken von Gwens Fingern auf die seinen überspringen. Gwen schob seine Hände zur Seite. Carol bewegte sich nicht mehr. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Gesicht wurde leer. Gwen preßte beide Hände gegen Carols Schläfen und ließ sie ruhig dort liegen.
„Carol, atmen Sie ruhig und tief“, forderte Gwen. Ihre Stimme klang einschmeichelnd. „Carol, Ihre Augenlider werden schwer, immer schwerer. Carol, Sie werden gleich einschlafen.“
Gwen wartete einige Sekunden, dann strich sie mit beiden Händen über Carols Stirn.
„Sie schlafen ruhig, Carol“, sagte sie. „Atmen Sie tief ein.“
Gwen löste ihre Hände von Carols Gesicht und schlug den Morgenrock zur Seite. Carols Brust hob sich regelmäßig. Gwen fühlte Carols Puls, dann nickte sie zufrieden, schließlich beugte sie sich über das tief schlafende Mädchen und hob das rechte Lid.
„Was nun?“ fragte Jeff.
„Wir lassen sie einige Minuten tief schlafen“, meinte Gwen.
Jeff ging ruhelos im Zimmer auf und ab, während Gwen ruhig neben Carol sitzen blieb und sie nicht aus den Augen ließ.
Nach zehn Minuten versetzte sich Gwen wieder in einen autohypnotischen Zustand, preßte ihre Hände gegen Carols Stirn und Schläfen.
„Ich zähle jetzt bis zehn“, sagte Gwen. „Wenn Sie die Zahl zehn vernehmen, dann werden Sie aufwachen und sich an alles erinnern können, was in den vergangenen Wochen geschehen ist. Ich beginne jetzt zu zählen. Eins, zwei...“
Als Gwen zehn sagte, stand sie langsam auf und setzte sich Carol gegenüber auf einen Stuhl.
Carol bewegte sich, schlug die Augen auf und gähnte.
„Ich glaube, wir können ihr jetzt die Fesseln lösen“, meinte Gwen. „Carol, sehen Sie mich an.“ Carol folgte. „Wissen Sie, wer ich bin?“
„Ja“, sagte Carol. „Sie sind Gwen Dobson. Sie kamen zusammen mit Jeff zu mir und...“ Carol riß die Augen auf. Entsetzt blickte sie sich um, erst als ihr Blick auf Jeff fiel, beruhigte sie sich.
„Können Sie sich erinnern, einen Brief an Jeff geschrieben zu haben?“ fragte Gwen.
„Ja, ich erinnere mich“, sagte Carol. „Ich hatte Angst. Mit mir geschahen die seltsamsten Dinge. Ich ahnte, daß mein Bruder dahinter steckte. Und es stimmte.“
„Wissen Sie, wo sich Ihr Bruder befindet, Carol?“
„Nein, das weiß ich leider nicht.“
Gwen stand auf. „Ich löse jetzt Ihre Fesseln, Carol. Sie wissen, weshalb wir Sie fesseln mußten?“
„Ja, ich verwandelte mich“, sagte Carol leise. „Ich ging auf Jeff los. Aber ich wollte nicht. Mir blieb keine andere Wahl. Ich wollte auch nicht die Tropfen in den Kaffee schütten, aber ich konnte nicht anders.“
Sie lösten die Fesseln, Carol massierte ihre schmerzenden Glieder und schlüpfte in den Morgenrock.
„Und jetzt der Reihe nach, Carol“, sagte Jeff. „Erzähle von Anfang an.“
„Alles begann vor fünf Tagen“, berichtete Carol. „Ich wollte einen Bekannten treffen und hatte mich verspätet. Ich nahm mir ein Taxi und fuhr in die Lexington Avenue.“

* * * 

Das Taxi blieb vor der Bickfords Cafeteria stehen. Carol gab dem Fahrer zwei Dollar, öffnete die Wagentür und stieg aus. Es regnete leicht und sie lief die wenigen Meter zum Restauranteingang, drückte die Tür auf, blieb stehen und sah sich um. Das Lokal war ziemlich voll. Nach kurzem Suchen entdeckte sie Ted Monroe, der ihr zuwinkte. Sie lächelte, ging zwischen den Tischreihen hindurch und setzte sich.
„Entschuldige, es ist später geworden, als...“ Sie brach plötzlich ab und riß die Augen weit auf.
„Was ist, Carol?“ fragte Ted.
„Der Mann am Nebentisch“, sagte Carol mit versagender Stimme.
„Was ist mit ihm?“
„Mein Bruder“, flüsterte Carol. „Es ist mein Bruder.“
Ted sah sie verwirrt an. „Der weißhaarige Mann soll dein Bruder sein?“
„Da sitzt kein weißhaariger Mann“, erwiderte Carol. „Mein Bruder ist dreißig Jahre alt und sein Haar ist blond. Du mußt ihn doch sehen, er trinkt gerade einen Schluck Bier.“
„Tut mir leid, Carol“, meinte Ted. „Der Mann, der sein Bier trinkt, hat schneeweißes Haar und ist mindestens sechzig Jahre alt.“
Carol blickte nochmals zum Nebentisch. Sie hatte sich getäuscht. Es saß tatsächlich ein alter Mann dort.
„Ich verstehe das nicht“, sagte Carol leise. „Ich hätte schwören können, daß...“ Sie brach verwirrt ab. Ich habe Halluzinationen, dachte sie.
„Macht nichts“, bemerkte Ted.
Carol war ziemlich geistesabwesend. Sie bestellte ein Lachsbrötchen und trank ein kleines Bier dazu.
Als sie die Cafeteria eine halbe Stunde später verließen, hatte sich Carol wieder etwas gefangen, doch ihre Gedanken kreisten weiter um ihren Bruder. Nur zu deutlich war ihr seine Drohung bewußt. Er würde sich rächen, das ahnte sie.
Sie gingen zu Teds Wagen, stiegen ein. Ein Mann überquerte die Straße, dabei wandte er Carol das Gesicht zu. Er grinste, und das junge Mäd-chen zuckte erschreckt zusammen.
Es war ihr Bruder. Er winkte ihr spöttisch zu, dann war er verschwunden.
„Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen“, sagte Ted lachend.
Carol antwortete nicht.
Ted startete und fuhr los. Sie waren bei Freunden in der Third Avenue eingeladen. Nach längerem Suchen fand Ted endlich einen Parkplatz.
Sie hakte sich bei ihm ein. Carol hatte Ted vor ein paar Wochen kennengelernt und sich in ihn verliebt. Sie verstand sich großartig mit ihm, doch zu ihrem größten Bedauern war sie für ihn nicht mehr als ein nettes Mädchen, mit dem er sich gelegentlich traf und eine Nacht verbrachte.
Sie traten in die Halle, und Carol wurde noch bleicher. Einer der Fahrstuhlführer sah wie ihr Bruder aus.
Ich werde verrückt, dachte sie. Ich schnappe über. Ich sehe überall meinen Bruder. Sie zitterte am ganzen Leib.
„Carol, ist dir nicht gut?“ fragte Ted besorgt.
„Ich fühle mich nicht besonders“, antwortete sie.
Sie war froh, als sie den Aufzug verlassen konnte. In Claire Hendersons Wohnung ging es schon hoch her. Mehr als zwanzig Studenten hatten sich versammelt, die meisten saßen auf dem Boden, tranken Bier aus Flaschen und aßen Brote.
Carol setzte sich, nahm ein Weinglas. Meistens beteiligte sie sich nicht viel an den Gesprächen ihrer Freunde, doch heute brachte sie den Mund überhaupt nicht auf. Sie trank das Glas leer. Und plötzlich spürte sie, wie ihr übel wurde. Sie stand schwankend auf, der Schweiß rann in Strömen über ihr Gesicht. So schnell wie möglich stürmte sie in die Toilette. Sie übergab sich, schloß die Augen und lehnte sich gegen die Wand.
Sie trat vor den Spiegel und stieß einen Entsetzensschrei aus. Ihre Hände verkrallten sich im Waschbecken. Ihre Haut war blau, dunkelblau. Sie glaubte ohnmächtig zu werden, schloß die Augen und fiel auf die Klosettschüssel. Sie blieb einige Minuten sitzen, stand langsam auf und blickte nochmals in den Spiegel. Ihre Haut war weiterhin blau.
Sie wusch sich die Hände und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
An der Tür wurde geklopft. „Bist du drinnen, Carol?“ hörte sie Teds Stimme.
„Ja“, antwortete sie. „Mir ist übel.“
„Mach auf, Carol.“
Ich muß mir Gewißheit verschaffen, dachte sie. Ich muß wissen, ob meine Haut tatsächlich blau geworden ist, oder ob ich wieder nur eine Halluzination habe.
Sie öffnete die Tür.
„Du siehst wirklich nicht gut aus, Carol“, meinte Ted. „Dein Gesicht ist ja schneeweiß.“
Sie blickte wieder in den Spiegel. Ted hatte recht, ihr Gesicht war weiß.
„Ich gehe nach Hause“, sagte Carol mit zittriger Stimme. „Ich fühle mich miserabel.“
„Ich bringe dich heim, Carol.“
„Das ist nicht notwendig“, sagte sie rasch. Sie wollte nur eins: möglichst schnell fort und allein sein.
Fluchtartig verließ sie das Haus, doch Ted folgte ihr. Er begleitete sie. Plötzlich war sie froh, daß er in ihre Wohnung kam. Unterwegs hatte sie festgestellt, daß sie sich fürchtete, allein zu sein. Sie brühte einen starken Tee, und ihre angespannten Nerven beruhigten sich. Nach einer Stunde fühlte sie sich wieder ganz in Ordnung. Sie lachte sogar einige Male.
Als Ted sie in seine starken Arme nahm, hatte sie nichts dagegen, ganz im Gegenteil, sie genoß seine warmen Lippen und seine fordernden Hände. Mit geschlossenen Augen gab sie sich seinen Zärtlichkeiten hin. Seine Hände öffneten ihre Bluse und umspannten die festen Brüste. Das wohlige Prickeln verstärkte sich, und sie erwiderte seine Küsse. Er strich durch ihr Haar und sie öffnete die Augen.
Sie schrie, stieß Ted zurück, der sich in ihren Bruder verwandelt hatte. Terry saß neben ihr und schaute sie böse an.
„Bist du übergeschnappt?“ fragte Ted wütend.
„Geh, bitte, geh“, flüsterte Carol. Noch immer glaubte sie, ihren Bruder vor sich zu sehen.
„Jetzt reicht es mir aber, Carol“, sagte Ted ungehalten. Er stand auf, verließ das Zimmer, und sie hörte noch, wie er die Wohnungstür zuschlug.
Carol warf sich auf die Couch und schluchzte hemmungslos. Eine halbe Stunde später schluckte sie zwei Schlaftabletten, kroch ins Bett und schlief ein.
Am nächsten Tag hatte sie Angst, die Wohnung zu verlassen. Das Telefon läutete einige Male, doch sie ging nicht hin. Endlich, am späten Nachmittag, entschloß sie sich doch, die Wohnung zu verlassen.
Doch es war so wie am Vortag. Überall glaubte sie ihren Bruder zu sehen. Der Verkäufer im Supermarkt, der Busschaffner, der Hausmeister, sie alle waren ihr Bruder.
Wie von Furien gehetzt raste sie nach Hause.
Sie drehte den Fernseher an, doch auch da änderte sich der Nachrichtensprecher, nahm die Gestalt ihres Bruders an. Sie drehte den Fernseher wieder ab.
Ich brauche Hilfe; dachte sie. Soll ich zu einem Arzt gehen? Sie verwarf den Gedanken, entschloß sich nach einiger Zeit, Jeff Baker anzurufen, doch sie konnte ihn nicht erreichen. Er war nicht in New York.
In der Nacht wachte sie öfters auf. Immer glaubte sie, daß ihr Bruder neben ihrem Bett saß und sie anstarrte. Sie schluckte eine Handvoll Schlaftabletten. Sie schlief bis Mittag durch, schrieb dann einen Brief an Jeff, warf ihn in den nächsten Briefkasten.
Sie beschloß, in den nächsten Tagen ihre Wohnung nicht mehr zu verlassen. Sie hatte panische Angst. Jede Stunde rief sie in Jeffs Wohnung an.
Immer wieder läutete das Telefon. Sie wollte nicht abheben, doch schließlich siegte ihre Neugierde. Außerdem hoffte sie, daß es Jeff war, der sie anrief. Sie hob den Hörer ab, doch es war nur eine Freundin, die sich erkundigte, wie es ihr gehe. Enttäuscht legte Carol den Hörer auf.
Eine Viertelstunde später läutete das Telefon wieder.
Ihr setzte fast das Herz aus, als sie die Stimme erkannte.
„Ich bin es, Carol“, sagte ihr Bruder. „Du denkst doch noch an mich?“
„Ja“, hauchte Carol. „Was hast du vor, Terry?“
„Erinnere dich an die Nachricht, die ich dir vor einem Jahr durch Susan Wood bestellen ließ. Bald ist es soweit. Ich werde mich rächen.“
Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte Terry aufgelegt.
Carol sperrte die Tür ab, ließ den Schlüssel stecken und schloß alle Fenster.
Warum meldet sich Jeff nicht? fragte sie sich immer wieder. Ruhelos ging sie im Zimmer auf und ab. Soll ich mich mit der Polizei in Verbindung setzen?
Langsam wurde es dunkel. Sie saß in der Dunkelheit, eine Flasche Gin vor sich, die sie immer wieder an ihre Lippen setzte. Gegen elf Uhr war sie völlig betrunken, sie schlief auf der Couch ein.
Sie schreckte hoch, als sie das Öffnen einer Tür hörte. Schritte kamen näher, verstummten vor der Wohnzimmertür.
Carol stand rasch auf. Sie war hellwach. Die Tür wurde langsam geöffnet und ein dunkler Schatten trat ins Zimmer.
Sie griff nach der Flasche auf dem Tisch.
Plötzlich war ein grelles Licht im Zimmer. Geblendet schloß sie die Augen. Die altmodische Standuhr schlug einmal.
Sie konnte sich nicht bewegen, irgendetwas griff nach ihr. Unverständliche Befehle strömten auf sie zu, dann brach sie zusammen.
Es war heller Tag, als sie erwachte. Sie fühlte sich müde und konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Sie aß nichts. Sie saß nur da, bewegte sich nicht.
Nach 18 Uhr stand sie auf und zog sich um. Sie schlüpfte in einen blauen Pulli und einen langen Wickelrock, nahm eine Umhängetasche und verließ ihre Wohnung.
Ein fremder Zwang trieb sie vorwärts. Mit der Subway fuhr sie bis zur Endstation in der 207. Straße. Sie verließ den Bahnhof. Es war dunkel geworden. Sie durchquerte den Inwood Hill Park und blieb vor der Auffahrt zur Henry Hudson Bridge stehen.
Ein alter Ford wartete mit laufendem Motor. Sie stieg ein und der Wagen fuhr los.
Als sie New York hinter sie gelassen hatte, band ihr der Fahrer ein dunkles Tuch vor die Augen.

* * * 

Gwen und Jeff hatten aufmerksam zugehört.
„Wohin wurdest du gebracht, Carol?“ fragte Jeff.
„Das weiß ich eben nicht“, antwortete Carol. „Ich konnte nichts sehen.
Irgendwann hielt der Wagen, der Fahrer holte mich heraus und führte mich ein paar Meter weiter. Dann ließ er mich stehen und sagte etwas zu mir. Ich weiß aber nicht mehr, was er sagte. Dann setzt meine Erinnerung völlig aus. Ich wurde in einem weißen Zimmer wach. Ich war auf einem Stuhl festgebunden und vor mir stand Terry. Über der Tür hing eine Uhr. Es war genau 1.10 Uhr.“
Carol steckte sich eine Zigarette an.
„Terry sagte mir, daß er sich jetzt rächen würde. Jeff, du solltest durch meine Hand sterben. Terry erzählte mir von seinen Versuchen. Unheimliche Experimente. Er hat sich weiterhin mit Hypnose beschäftigt, sie perfektioniert. Außerdem schuf er unheimliche Monster, machte Tierversuche, wollte Wundertiere züchten. Und Menschen, die er ganz nach seinem Belieben ändern konnte.“
„Erzähle weiter, Carol.“
Das Mädchen nickte. Sie rauchte hastiger. „Terry ist völlig wahnsinnig geworden. Stolz zeigte er mir einen Käfig, so ein Ding, in dem man Mäuse hält. Ich traute meinen Augen nicht. In dem winzigen Käfig befanden sich zwei Männer und eine Frau. Sie waren nicht größer als mein kleiner Finger. Terry war es gelungen, die drei Menschen schrumpfen zu lassen. Außerdem erzählte er mir etwas von einem riesigen Monster, das er Gary nannte. Dieses Monster bekam ich aber nicht zu sehen. Er sagte aber, daß er es, ähnlich wie vor einem Jahr Horla, ausgeschickt hatte, damit es ihm Menschen bringen sollte. Das habe er aber jetzt nicht mehr nötig, da er genügend Helfer habe, völlig willenlose Menschen, die seine Befehle widerspruchslos erfüllen. Er erzählte mir von seinen Plänen. Er wolle ganze Städte in seine Gewalt bekommen. Dazu hat er eine Hypnosemaschine erfunden, die alle Menschen zu seinen Sklaven machen wird.“
Carol schloß die Augen, dann schüttelte sie den Kopf.
„Schließlich sagte mir Terry, was er mit mir vorhabe. Ich würde nach New York zurückgebracht werden. Er wußte, daß du in Louisville bist. Und er wußte auch, daß ich dir einen Brief geschrieben habe. Sobald du bei mir auftauchen würdest, sollte ich dich hypnotisieren und dir einige Tropfen einer Flüssigkeit in dein Getränk schütten. Daraufhin würdest du dich in wenigen Minuten in eine Bestie verwandeln, die mich zerreißen würde. Ich wehrte mich, doch es war nutzlos. Er versetzte mich in Trance und ich mußte gehorchen. Ich wurde zurück in meine Wohnung gebracht. Den Rest kennst du.“
„Sein Plan ging aber nicht auf“, meinte Gwen. „Ihr Bruder mußte doch auch damit rechnen, daß Jeff nicht allein zu Ihnen kommen würde.“
„Das kalkulierte er auch ein“, sagte Carol. „Es spielt für ihn keine Rolle, wenn Unschuldige getötet werden. Und noch eines. Er sagte mir, daß ich ständig beobachtet werden würde.“
Jeff überlegte kurz. In seinem Gehirn nahm langsam ein Plan Gestalt an.
„Terry war so sicher, daß sein Plan klappen würde, daß er dir alles erzählte“, stellte Jeff fest. „Sein Plan hätte auch geklappt, wenn Gwen nicht mitgekommen wäre. Sie erkannte sofort, daß du hypnotisiert warst.“
„Was willst du jetzt tun, Jeff?“
Jeff grinste. „Wir werden so tun, als hätte Terry Erfolg gehabt. Ab sofort bist du tot, Carol.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte Carol.
Jeff seufzte. „Das ist deine Chance, Carol. Wenn dein Bruder glaubt, daß du tot bist, dann wird er sich nicht mehr um dich kümmern.“
„So einfach ist das nicht“, meinte Carol. „Er hat überall Helfer. Du kannst sicher sein, daß er irgendeinen seiner Leute in meine Wohnung schickt, der feststellen soll, ob ich tatsächlich tot bin.“
„Stimmt“, mußte Jeff widerwillig zugeben. „Wenn wir wenigstens wüßten, wo sich dein Bruder befindet. Es kann nicht weit von New York City sein. Du wurdest gezwungen zur Hudson Bridge zu fahren. Das würde bedeuten, daß du in Richtung Norden gebracht wurdest. Wie war die Straße, auf der du fuhrst?“
„Ich sah nichts“, sagte Carol unglücklich. „Aber der Fahrer fuhr ziemlich rasch. Es muß eine ziemlich gut ausgebaute Straße gewesen sein, die fast schnurgerade verlief, da ich mich nicht erinnern kann, daß ich auf dein Sitz hin und her geschleudert wurde.“
„Das ist immerhin schon etwas“, bemerkte Jeff zufrieden. „Da kommt eigentlich nur der Highway 87 in Frage, der nach Albany führt.“
Gwen kniff die Augen zusammen: „Carol, Sie sagten etwas von Tierversuchen, die Ihr Bruder unternommen hat. Welche Tiere verwendete er da?“
„Alle möglichen. Ratten, Mäuse, Hasen, Rinder, Schafe und Pferde.“
„Pferde!“ brüllte Jeff. Er blickte Gwen an, die eifrig nickte. Beide hatten den gleichen Gedanken. „Das Wunderpferd, das mein Vater zum Training bekommen hat.“
„Ich verstehe nicht, was...“
„Mein Vater bekam einen zweijährigen Hengst zum Training. Ein ungewöhnlich schneller Vollblüter. Und möglicherweise steckt dahinter dein Bruder. Der Züchter besitzt eine Farm in der Nähe von Schoharie. Und das ist nur wenige Meilen von Albany entfernt.“
„Das kommt mir doch zu unwahrscheinlich vor“, sagte Carol.
„Mir nicht“, meinte Gwen. „Sie sagten etwas von drei Menschen, die Ihr Bruder winzig klein gemacht hat. Erwähnte er dabei irgendwelche Namen?“
„Ja“, sagte sie. „Einer der winzigen Männer tobte. Seine Stimme war kaum zu hören, da brüllte ihn mein Bruder an. ‚Halten Sie endlich den Mund, Griffin', schrie er.“
„Sonst noch ein Name?“
„Nein“, antwortete Carol. „Terry brachte den Käfig aus dem Zimmer.“
„Aber das sollte uns weiterhelfen“, sagte Jeff erfreut. „Es wird sich feststellen lassen, ob in den vergangenen Wochen ein Mann namens Griffin verschwunden ist.“
„Das ist alles recht gut und schön, Jeff. Aber wir schweben noch immer in Gefahr. Wenn mein Bruder erfährt, daß sein Plan nicht geklappt hat, dann...“
„Er wird glauben, daß du tot bist“, behauptete Jeff.
„Aber ich sagte dir doch, daß mich Terry beobachten läßt“, schrie Carol, der die Nerven durchgingen.
„Beruhige dich“, meinte Jeff. „Wir brauchen Hilfe. Ich werde Charles Ryan anrufen.“
„Wer ist das?“ fragte Gwen.
„Ein FBI-Agent“, antwortete Jeff.
„Du willst den FBI einschalten?“ Gwen wunderte sich. „Sie werden dir doch kein Wort glauben.“
„Abwarten“, sagte Jeff. „Ein Versuch kann nicht schaden.“
Er holte sein Notizbuch aus der Tasche und griff nach dem Telefon. Er wählte Ryans Nummer. Es dauerte ziemlich lange, bis der Hörer abgehoben wurde. Eine ungehaltene Stimme brummte ‚Hallo'.
„Ich habe dich doch nicht aufgeweckt, Charles?“ fragte Jeff.
„Wer spricht?“
„Jeff Baker.“
„Herr im Himmel, du rufst immer zu den unmöglichsten Zeiten an. Zwei Uhr vorbei. Dabei habe ich einen anstrengenden Tag vor mir. Was willst du, Jeff?“
„Zieh dich an, Charles, und komm in die 23. Straße, Nummer 38. Ruf von einem Automaten an, wenn du in der Nähe bist. Vor dem Haustor tust du so, als würdest du aufsperren, aber das Haustor wird offenstehen. Dann fährst du mit dem Aufzug in den sechsten Stock. Verstanden?“
„Du mußt wahnsinnig geworden sein, Jeff“, brüllte der FBI-Agent ungehalten. „Ich denke nicht daran.“
„Es ist dringend, Charles.“
„Warum diese Heimlichtuerei?“
„Erinnerst du dich noch an den roten Affen, Charles?“
„Ja, den werde ich nicht vergessen.“
„Den Namen Terry Tucker hast du auch nicht vergessen?“
„Nein, den Burschen suchen wir noch immer. Er ist spurlos verschwunden.“
„Er wollte heute seine Schwester töten“, sagte Jeff. „Ich hoffe, daß dich das jetzt endlich aus dem Bett treibt.“
„Das tut es. Ich bin in einer halben Stunde bei dir.“
„Ruf an. Das Haus wird beobachtet, und der Beobachter soll den Eindruck gewinnen, als wärst du ein Hausbewohner. Hast du verstanden?“
„Verstanden“, wiederholte Charles Ryan und legte den Hörer auf.
„Ryan wird uns helfen“, bemerkte Jeff zu Carol. „Kannst du dich noch an ihn erinnern?“
Carol nickte. „Nach dem Tod des roten Affen wollte er alles von mir über meinen Bruder wissen. Sie suchten Terry, fanden ihn aber nicht.“
„Ryan weiß über alles Bescheid. Und er weiß auch ganz genau, welche Gefahr Terry Tucker darstellt.“

* * * 

Charles Ryan kam fünfundzwanzig Minuten später. Er war ein kleiner Mann, Ende der Dreißig, der zum Dickwerden neigte. Sein gut geschnittener Anzug konnte seinen Bauchansatz nicht verdecken. Aus dem rosigen Gesicht sprang eine Knollennase hervor, sein kurz geschnittenes Haar war von Silberstreifen durchzogen. Auf die Idee, daß Ryan ein einflußreicher FBI-Beamter sei, wäre kein Mensch gekommen, viel eher hätte man ihn für einen Pastor halten können.
Ryan begrüßte Carol herzlich, schüttelte Jeffs Hand und ließ sich Gwen vorstellen, die er eingehend betrachtete. Was er zu sehen bekam, schien ihm zu gefallen.
Carol hatte Kaffee gekocht und Ryan trank eine Tasse, während er Jeff zuhörte, der ihm detailliert alles erzählte. Ryan machte sich immer wieder Notizen und zog an seiner Pfeife. Der FBI-Beamte untersuchte die roten Haare, die noch immer auf dem Boden herumlagen, und roch am Fläschchen. Danach hörte er sich Carols Bericht an.
„Eine phantastische Geschichte“, sagte Ryan, als Carol mit ihrer Erzählung fertig war. „Im vergangenen Jahr suchten wir nach Terry Tucker, doch wir bekamen keine Informationen, wo er sich aufhalten konnte. Ich hoffte, daß er die Staaten verlassen hätte, aber das war ein Irrtum. Wir gaben keine Informationen an die Öffentlichkeit weiter, aber uns allen war und ist bewußt, welch eine Gefahr Terry Tucker darstellt. Wir müssen ihn unbedingt unschädlich machen. Er muß gefangengenommen werden. Wir müssen dabei aber äußerst vorsichtig vorgehen. Tucker ist ziemlich mißtrauisch. Wenn er ahnt, daß wir uns auf seine Spur gesetzt haben, traue ich es ihm durchaus zu, daß er wieder verschwindet.“
„Das ist auch meine Meinung“, betonte Jeff. „Ich habe mir alles ganz genau überlegt. Wir müssen Terry Tucker täuschen. Und ich habe auch einen Plan, wie es uns gelingen kann.“
„Erzähle“, bat Ryan.
Jeff entwarf seinen Plan und Ryans Augen weiteten sich, je länger Jeff erzählte.
„Damit kommen wir nicht durch“, widersprach Ryan. „Dein Plan kann nicht funktionieren.“
„Er muß klappen“, sagte Jeff stur. „Oder hast du einen besseren Vorschlag? Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Das Haus wird beobachtet. Ich muß bald von hier verschwinden, sonst wird der Beobachter mißtrauisch.“
Ryan knabberte auf dem Pfeifenstiel herum. Er klopfte nervös mit der rechten Hand auf die Tischplatte. Dann seufzte er. Er griff nach dem Telefon und rief seinen Vorgesetzten an, dem er kurz Bericht erstattete und ihm Jeffs Plan unterbreitete. Dann legte er den Hörer auf.
„Jetzt müssen wir warten“, meinte Ryan und stopfte seine Pfeife. Zwanzig Minuten später läutete das Telefon. Es war Ryans Vorgesetzter, der für die erste Stufe des Plans grünes Licht gab.
„Ich glaube noch immer nicht, daß wir damit Terry Tucker täuschen können“, sagte Ryan.
„Ein Versuch kann nicht schaden“, bemerkte Jeff. „Hast du irgendwo Verbandszeug, Carol?“
„Im Badezimmer. Ich hole es.“
Jeff wickelte eine Mullbinde um Gwens Gesicht und um ihre Hände.
„Falls tatsächlich ein Beobachter vor dem Haus steht“, sagte Jeff, „dann hat er mich zusammen mit Gwen das Haus betreten sehen. Er wird an Tucker den Bericht weitergeben, daß ich zusammen mit dem Mädchen herausgekommen bin. Das Mädchen war verbunden. Tucker wird nun vermuten, daß ich nicht nur auf Carol, sondern auch auf Gwen losging und sie dabei verletzte. Das ist auch eine ausreichende Erklärung, weshalb ich so lange in Carols Wohnung geblieben bin.“
Zufrieden blickte Jeff seine Freundin an, die schwach lächelte.
Wieder läutete das Telefon. „Es ist soweit“, sagte Ryan. „Ihr verlaßt nun die Wohnung, nehmt euch ein Taxi und fahrt nach Hause. Von daheim aus rufst du mich sofort an. Verstanden?“
Jeff nickte. „Alles Gute, Carol“, sagte der Reporter und küßte sie auf die Stirn. „Paß auf Carol gut auf, Charles.“
„Viel Glück“, erwiderte Carol leise.
„Ihr werdet es gebrauchen können.“
Jeff nickte Carol und Charles zu und nahm Gwen bei der Hand. Gemeinsam verließen sie die Wohnung, stiegen in den Aufzug und warteten vor der Haustür, bis sie das Heulen der Sirene hörten. Jeff öffnete die Tür, hielt weiterhin Gwens rechtes Handgelenk. Sie stürzten auf die Straße. Es war noch dunkel. Jeff zerrte Gwen mit sich, die einen unsicheren Eindruck zu erwecken versuchte. Sie taumelte und Jeff mußte sie stützen. Der Verkehr war schwach. Jeff blickte sich einmal um.
Ein Streifenwagen hielt vor dem Haus Nummer 38. Ein Polizist stieg aus und blieb vor dem Haustor stehen.
Jeff und Gwen überquerten die 23. Straße und bogen in die Ninth Ave-nue ein. Jeff stützte Gwen immer noch. Endlich kam ihnen ein Taxi entgegen. Jeff winkte es heran und sie stiegen ein.
Zehn Minuten später waren sie in Jeffs Wohnung.

* * * 

Carol Tucker hatte sich im Badezimmer eingesperrt, während Charles Ryan im Wohnzimmer wartete. An der Tür wurde geläutet und Ryan öffnete. Ein uniformierter Polizist stand vor ihm.
Ryan zeigte ihm seine Marke. Der Polizist salutierte.
„Sie bleiben vor der Tür stehen“, sagte Ryan. „In wenigen Minuten erwarte ich die Mordkommission.“
Fünf Minuten später trafen einige Beamte des Spurensicherungsdienstes ein. Die Männer waren in den Plan eingeweiht. Zwei Detektive der Mordkommission Manhattan Ost kamen zusammen mit dem Polizeiarzt. Einige Minuten später tauchte noch ein Beamter des Staatsanwaltes auf.
Alles lief genauso ab wie bei jedem Mordfall, der der Polizei gemeldet wurde. Nur war diesmal ein kleiner Unterschied dabei: es gab keinen Toten.
Die Spurensicherungsleute nahmen die Haare und das Fläschchen mit, schossen einige Fotos.
Dann kam der schwierigste Moment des Täuschungsmanövers. Carol mußte unbemerkt fortgebracht werden.
Sie wurde in einen Sarg gelegt, der einige Luftlöcher aufwies. Der Sarg wurde aus dem Haus gebracht.
Ryan ging kein Risiko ein. Alles mußte stimmen. Die Spurensicherungsleute hatten diesmal eine neue Aufgabe. Sie mußten Spuren verursachen. Nachdem sie gegangen waren, sah es im Wohnzimmer fürchterlich aus. Der Tisch war zertrümmert und auf dem Boden und einigen Einrichtungsgegenständen waren Blutspuren zu sehen.
Die beiden Detektive gingen routinemäßig vor. Sie hatten einen Mordfall zu lösen, der rein fiktiv war.
Ein junges Mädchen namens Carol Tucker war in ihrer Wohnung tot aufgefunden worden. Bestialisch zerrissen, so als hatte sie ein Raubtier angefallen. Man hatte Blutspuren gefunden, die von zwei verschiedenen Menschen stammten.
Der Tat dringend verdächtigt wurden ein dreißigjähriger schwarzhaariger Mann und eine junge hübsche Farbige.
Diese Meldung bekam auch die Presse.
In den Achtuhrnachrichten wurde am Schluß über den Mord berichtet.
Der erste Teil von Jeffs Plan war abgeschlossen. Es fragte sich nur, ob Terry Tucker auf diesen Trick hereinfiel. Aber es war anzunehmen.
Sein Beobachter hatte das Eintreffen der Polizei gesehen. Er hatte gewartet, bis die Polizisten das Haus verlassen hatten. Gegen Mittag betrat er das Haus, fuhr in den sechsten Stock und blieb vor der versiegelten Tür stehen. Vorsichtig löste er das Siegel, öffnete die Tür, trat ein und sah sich rasch um. Er entdeckte die Verwüstung im Wohnzimmer, sah die Blutspuren und verließ das Haus.
Zwanzig Minuten später gab er seinen Bericht an Terry Tucker weiter.
Jeff hatte einen Teilerfolg errungen, nicht mehr. Aber vorerst war Carol in Sicherheit.

* * * 

„Meine Herren“, sagte Charles Ryan und stand langsam auf. „Sie haben nun genügend Zeit gehabt, die Unterlagen zu studieren. Ich möchte jetzt gern Ihre Meinung dazu wissen.“ Ryan blickte sich in der Runde um. Außer ihm saßen noch sechs Männer um den kreisrunden Tisch.
Die Mappen wurden zusammengeklappt und die sechs Männer blickten Ryan aufmerksam an.
„Die Unterlagen sind recht interessant, Mr. Ryan“, ließ sich Bernard Simpson, ein leitender Beamter des Verteidigungsministeriums, vernehmen, „aber ich vermisse die Beweise. Sie berufen sich auf die Aussagen von Jeff Baker, Gwen Dobson und Carol Tucker. Wenn ich nicht über den Fall mit dem roten Affen genau Bescheid wüßte, dann hätte ich diese Berichte überhaupt nicht studiert. Aber Ihre Schlußfolgerungen, Mn Ryan, scheinen mir doch ein wenig gewagt zu sein. Sie tun ja geradezu so, als wäre dieser Terry Tucker der gefährlichste Gegner der USA.“
„Das ist er auch“, behauptete Ryan grimmig.
„Ich hätte auch gern einige Beweise“, schaltete sich George Crouther vom Innenministerium ein.
Ryan lächelte schwach, er wechselte einen raschen Blick mit dem Leiter des FBI-Büros in NYC. John Liggett nickte Ryan zu.
„Carol Tucker berichtete uns, daß sich drei Leute in der Gewalt ihres Bruders befinden, die er zu kaum fingergroßen Geschöpfen schrumpfen ließ.“
„Das kommt mir reichlich unwahrscheinlich vor“, meinte Thomas Parham.
Ryan ließ sich nicht beirren. „Carol nannte einen der Namen, Griffin. Wir ließen das nachprüfen.“ Ryan griff nach einem Blatt Papier. „Am 3. Januar verschwanden Ken und Janet Griffin unter mysteriösen Umständen. Griffin war Anwalt in Albany. Er war zusammen mit seiner Frau auf einer Party gewesen und wurde seit dem 3. Januar nicht mehr gesehen. Sein Wagen, ein dunkelroter Mustang, wurde in einer Schlucht gefunden, völlig ausgebrannt. Die Schlucht liegt auf der Strecke zwischen Middleburg und Schoharie. An diesem Fall war gleich zu Beginn einiges mysteriös. Aber die Griffins sind nicht die einzigen, die unter seltsamen Umständen verschwanden. Hier haben Sie eine Aufstellung von zwölf Personen, die alle innerhalb der vergangenen sechs Monate in einem bestimmten Gebiet verschwunden sind.“
Ryan trat vor eine Karte, die an der Wand hing und den Staat New York zeigte. Mit einem dicken Filzschreiber zog er eine Linie, die die Orte Cobleskill, Middleburg, Schoharie, Sharon und Sloansville verband.
„Alles deutet darauf hin, daß sich Terry Tucker in diesem Gebiet aufhält“, sprach Ryan weiter. „Ich gebe Ihnen nun...“
Er brach ab, als die Tür geöffnet wurde. Ein fünfzigjähriger Mann, der einen weißen Mantel trug, trat ein. Er verbeugte sich leicht. „Professor Patrick Pringle“, stellte ihn Ryan vor.
„Die Anwesenden sind über alles informiert?“ fragte Pringle. Ryan nickte. Der Professor setzte sich und faltete die Hände. Sein hageres Gesicht war ernst.
„Meine Herren“, begann Pringle. „Ich bekam ein kleines Fläschchen mit einer glasklaren Flüssigkeit. Von Ryan wurde ich darauf hingewiesen, welche Reaktionen diese unbekannte Flüssigkeit auslösen soll. Wir nahmen einige Tierversuche vor. Wir gaben das Mittel Ratten, Meerschweinchen und Affen ein. Die erwartete Reaktion blieb aus. Die Tiere veränderten sich nicht. Schließlich erklärte sich einer meiner Mitarbeiter zu einem Versuch bereit, auf eigenes Risiko. Wir trafen alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Der Mann wurde auf einem Bett festgebunden. Es war für ihn unmöglich, sich zu befreien. Sicherheitshalber verließen wir das Zimmer, nachdem wir ihm drei Tropfen der Flüssigkeit zu trinken gegeben hatten. Alles wurde von einer Fernsehkamera aufgezeichnet.“
„Was war das Ergebnis?“ fragte Simpson.
„Das sollen Sie selbst sehen, meine Herren“, erwiderte der Professor. Ryan trat zu einem Fernsehapparat und schaltete ihn ein. In Großaufnahme war ein nackter Mann zu sehen, der auf ein Bett festgeschnallt war. Plötzlich atmete er keuchend. Überall auf seinem Körper und im Gesicht erschienen dunkelrote Flecken. Schweiß rann über seine Stirn. Die Züge des Mannes verzerrten sich.
Er riß die Augen auf, die glühend rot wurden. Und dann bildete sich an seinem ganzen Körper ein roter Pelz. Das Gesicht verzerrte sich immer mehr, wurde zu einer grauenhaften Fratze. Die Finger und Zehen verwandelten sich in Krallen.
Der Professor schaltete den Apparat aus.
Im Zimmer herrschte Schweigen, nur das erregte Atmen der Männer war zu hören.
„Genügt Ihnen dieser Beweis, meine Herren?“ fragte Ryan.
Nicken war die Antwort.
„Wir untersuchten die Flüssigkeit“, sprach Pringle weiter. „Wir konnten aber nichts feststellen. Bis jetzt ist es uns nicht gelungen, sie zu analysieren. Von der Wirkung des Mittels konnten Sie sich selbst überzeugen. Und ich überlasse es Ihrer Phantasie sich vorzustellen, was geschehen würde, sollte dieses Mittel in Getränke oder Speisen kommen. Es wäre einfach undenkbar. Die Wirkung hält zwar nicht lange an, aber bei entsprechend größerer Dosierung...“
„Danke, Professor“, sagte Ryan.
Pringle stand auf, verbeugte sich leicht und verließ das Zimmer.
„Sind jetzt alle überzeugt, daß Terry Tucker eine große Gefahr darstellt?“
„Das sind wir“, sagte Simpson. „Er muß unbedingt festgenommen werden. Haben Sie Vorschläge, Mr. Ryan?“
„Zuerst spielte ich mit dem Gedanken, das ganze Gebiet umstellen zu lassen“, antwortete der FBI-Agent. „Doch das ist sinnlos. Das würde Tucker nur warnen. Wir dürfen nicht vergessen, daß er über unglaubliche Hypnosefähigkeiten verfügt. Es wäre für ihn leicht, zu fliehen. Wir müssen ihn in Sicherheit wiegen. Nichts darf darauf hindeuten, daß wir seine Gefährlichkeit erkannt haben.“
„Wie wollen Sie ihn dann erwischen?“ fragte David Mace und beugte sich vor.
„Terry Tucker muß annehmen, daß seine Schwester Carol tot ist“, sagte Ryan. „Er glaubt, daß sein Plan aufgegangen ist. Einen Teil seiner Rache hat er befriedigt. Er wird sich jetzt ganz auf Jeff Baker konzentrieren. Baker ist unser Lockvogel. Mit Bakers Hilfe werden wir Terry Tucker fangen.“
„Haben Sie darüber schon mit Baker gesprochen, Mr. Ryan?“
Ryan nickte. „Dieser Vorschlag kam von Baker. Er erklärte sich bereit, als Lockvogel zu fungieren.“
„Hm“, brummte Mace. „Und wie stellen Sie sich das alles vor?“
„Ich werde es Ihnen erklären“, sagte Ryan.
Sie hörten ihm schweigend zu. Mehr als zwei Stunden lang disku¬tierten sie, machten Verbesserungsvorschläge, bis der Plan endgültig angenommen wurde.

* * * 

Jeff und Gwen hatten einige Stunden geschlafen, sich geduscht und ein ausgiebiges Frühstück zu sich genommen. Jeff hatte zweimal mit Charles Ryan telefoniert. Carol war in Sicherheit gebracht worden.
„Dein Plan ist Wahnsinn“, sagte Gwen. Sie trug einen eng anliegenden Pulli und schwarze Hosen. Das lange Haar fiel glatt über ihre Schultern.
Jeff konnte sich an ihr nicht satt sehen.
„Schau mich nicht so an, Jeff“, bat Gwen. „Wir müssen ernsthaft miteinander sprechen.“
„Ich will nichts mehr von Terry Tucker hören, Gwen“, sagte Jeff ungeduldig.
Gwen lächelte schwach. „Manchmal kommst du mir wie ein kleiner Junge vor. Du glaubst, daß man dich nicht sehen kann, wenn du dir die Hände vors Gesicht hältst.“
„Was soll ich denn tun?“ fragte Jeff gereizt. „Deiner Meinung nach sollte ich mich ins nächste Flugzeug setzen und mich irgendwo verstecken.“
„Die Polizei wird Tucker finden“, meinte Gwen. „Es ist nicht notwendig, daß du den Helden spielst.“
Jetzt explodierte Jeff. „Ich spiele keinen Helden“, brüllte er. „Glaubst du, mir macht die ganze Sache Spaß? Du hältst mich wohl für einen Masochisten, aber das bin ich nicht. Ich habe keine Lust, mein ganzes weiteres Leben vor Terry Tucker davonzulaufen. Irgendwann erwischt er mich einmal. Er ist raffiniert. Er hat verrückte Ansichten, vielleicht ist er auch wahnsinnig, aber er ist intelligent, das darf man nicht vergessen. Kannst du mich nicht verstehen, Gwen? Ich muß mich zum Kampf stellen. Und die Chancen sind nicht einmal so schlecht, daß ich mit dem Leben davonkomme. Ich weiß, was mich erwartet.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, meinte Gwen. „Du willst Terry Tucker geradezu herausfordern. Warum bleibst du nicht einfach zu Hause und wartest, was er tun wird?“
„Spiel nicht naiv“, sagte Jeff scharf. „Du weißt ganz genau, daß Tucker im Hintergrund bleiben wird. Vielleicht schickt er einige seiner Helfer aus, die mich hypnotisieren und zu ihm bringen werden. Damit ist uns aber nicht gedient. Ryan ahnt, in welchem Gebiet sich Tucker aufhält. Und ich werde hinfahren.“
„Und er wird dich gefangennehmen“, stellte Gwen fest.
„Jetzt reicht es mir aber!“ schrie Jeff und sprang wütend auf. „Du bist eine Schwarzseherin, Gwen.“
„Nein, das bin ich nicht. Du bist stur und unbelehrbar. Aber vielleicht liebe ich dich aus diesem Grund.“
Jeff beruhigte sich etwas.
„Ich komme mit“, sagte Gwen.
Jeff blickte sie lange an, dann schüttelte er entschieden den Kopf. „Das kommt nicht in Frage“, widersprach er heftig. „Das ist viel zu gefährlich.“
„Ich habe keine Angst“, behauptete Gwen. „Und ich habe von Terry Tucker nichts zu befürchten.“
„Das wage ich stark zu bezweifeln. Wenn er dich bei mir findet, dann wird er dich auch töten.“
„Das wollen wir abwarten“, meinte Gwen. „Ich werde dich beschützen.“
„Das besorgt die Polizei.“
„Sie kann zu spät kommen, Jeff. Ich bin immun gegen hypnotischen Einfluß, du aber nicht. Das Gebiet, in dem sich Terry Tucker wahrscheinlich aufhält, ist ziemlich groß. Und die Polizei kann nicht offen auftreten. Sie muß abwarten. Was geschieht, wenn dich Tucker gefangen nimmt und dich sofort tötet?“
„Das wird er nicht tun“, sagte Jeff. „So wie er von Psychologen eingeschätzt wird, verhält er sich anders. Er wird mir seine Überlegenheit beweisen wollen.“
„Das mag schon stimmen, aber was geschieht, wenn er merkt, daß du nur ein Lockvogel bist?“
„Wie soll er das merken?“
Gwen seufzte. „Er braucht dich doch nur zu hypnotisieren und erfährt sofort, was für ein Plan entworfen wurde.“
Jeff setzte sich. Er rieb sich das Kinn, Gwen hat recht, dachte er. Er suchte nach einer Möglichkeit, wie er diese Schwäche in ihrem Plan ausmerzen konnte, doch ihm fiel nichts ein.
Gwen mixte einen Drink und reichte ihn Jeff.
„Rufe Ryan an, Jeff“, bat Gwen. „Und sage ihm, daß ich morgen mit dir fahre.“
„Ich will es nicht“, sagte Jeff mürrisch. „Und Ryan wird damit auf keinen Fall einverstanden sein.“
„Ich werde selbst mit ihm sprechen“, entschied Gwen.
Gwen unterhielt sich länger als eine halbe Stunde mit Ryan. Sie brachte ihre Argumente vor, doch Ryan wollte nichts davon wissen, daß sie mit Jeff mitfahren sollte. Aber Gwen ließ nicht locker. Und schließlich hatte sie Ryan soweit, er willigte ein.

* * * 

Terry Tucker war sehr zufrieden. Sein Plan war gelungen. Der Bericht eines seiner Beobachter hatte gestimmt. Seine Schwester war tot. Alles war so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.
Als nächster war Jeff Baker an der Reihe.
Terry überlegte, was wohl in Baker vorgehen mußte. Aus dem Bericht seines Beobachters wußte er, daß Baker nicht allein zu Carol gegangen war. Er hatte ein farbiges Mädchen bei sich gehabt, das verletzt worden war.
Tucker hatte vor einer halben Stunde einen Bericht bekommen, daß Jeff Baker und seine Freundin den ganzen Tag lang nicht die Wohnung verlassen hatten.
Er beschloß abzuwarten. Tucker war sicher, daß sich Baker niemals an die Polizei wenden würde. Aber es war nicht auszuschließen, spann Tucker den Gedanken weiter, daß sich die Polizei mit Baker in Verbindung setzen würde. Bis jetzt war noch nichts in den Nachrichten erwähnt worden, daß es sich bei der toten Carel Tucker um die Schwester jenes Wissenschaftlers handelte, der den roten Affen geschaffen hatte.
Tucker wurde nervös. Er ärgerte sich, daß er diesen Gedanken nicht schon früher gehabt hatte. Wenn sich die Polizei tatsächlich an Baker wandte, dann konnte er sich vielleicht verraten und sein schöner Plan würde ins Wasser fallen. Das durfte nicht geschehen. Das mußte er verhindern.
Er drehte das Radio an und hörte die Nachrichten. Vom Mord an Carol Tucker wurde nichts mehr erwähnt. Aber ein Mord war in New York ja nichts Außergewöhnliches. Carols Tod war einer unter vielen, die sich täglich ereigneten.
Unwillig drehte er das Radio ab und stand auf.
Seine Experimente hatte er fast abgeschlossen. In einigen Tagen wollte er seinen Schlupfwinkel verlassen. Er hatte viele Pläne, die er in die Tat umsetzen wollte. Aber nicht in den USA. Er wollte nach England fliegen.
Immer wieder wanderten seine Gedanken zu Jeff Baker, mit dem er etwas ganz Spezielles vorhatte.
Er betrat den Raum mit dem kleinen Käfig, in dem die drei geschrumpften Menschen gefangen waren.
Eine Zeitlang hatte er sich über die drei amüsiert. Mit einem verborgenen Mikrophon hatte er ihre Gespräche mit angehört. Es war vergnüglich gewesen, wie sie sich immer wieder anbrüllten, sich stritten, wie ihre Verzweiflung stieg. Doch jetzt waren die drei für ihn uninteressant geworden.
Er blieb vor dem Käfig stehen. Er hätte sie jederzeit töten können, doch es machte ihm keinen Spaß, Menschen nutzlos zu töten. Er war kein Sadist. Menschen waren für ihn nichts anderes als Versuchtstiere. Starb ein Mensch bei einem seiner Versuche, dann hatte er noch nie Gewissensbisse gespürt. Nur zwei Menschen hatte er den Tod gewünscht. Seiner Schwester und Jeff Baker.
Die drei drängten sich gegen die Maschen des Käfigs.
„Wann lösen Sie endlich Ihr Versprechen ein?“ brüllte Ken Griffin fragend. „Wann geben Sie uns unsere normale Größe zurück?“
„Das ist leider nicht möglich“, sagte Tucker.
„Aber Sie versprachen uns...“
„Ich irrte mich“, stellte Tucker fest. „Ich fand keine Möglichkeit. Ich probierte es bei Tieren aus. Sie erreichten nicht ihre Normalgröße zurück. Sie verwandelten sich in seltsame Geschöpfe, die ich töten mußte.“
„Also sind wir dazu verdammt, unser ganzes weiteres Leben so klein zu bleiben“, stellte Burdell Bixby fest.
Tucker schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er zynisch. „Sie werden weiter schrumpfen. In ein paar Tagen wird es soweit sein. Ich kann den Schrumpfungsprozeß nicht aufhalten. Es tut mir leid, da mir nichts an Ihrem Tod liegt.“
Tucker verließ das Zimmer. Er hatte die Wahrheit gesprochen. Trotz eifrigster Versuche war es ihm nicht gelungen, Lebewesen, die er winzig klein gemacht hatte, zur normalen Größe zurückzuverwandeln. Er hatte aber ein Mittel entwickelt, mit dem der Schrumpfungsprozeß in wenigen Stunden abgeschlossen war.
Er betrat sein spartanisch eingerichtetes Wohnzimmer. Terry Tucker war ein seltsamer Mensch. Schon als Kind war er ungewöhnlich intelligent gewesen. Er lernte unglaublich rasch und merkte sich alles innerhalb kürzester Zeit. Er war von einer außerordentlichen Wissensbegierde. Im Lauf der Jahre hatte er sich mit unzähligen Wissensgebieten beschäftigt. Er war lernbesessen. Auf Titel legte er keinen Wert, keine seiner Studien schloß er ab. Mit einigen Experimenten hatte er vor Jahren durchschlagenden Erfolg gehabt. Er meldete mehrere Patente an, die ihm sehr viel Geld einbrachten.
Vor vier Jahren waren seine Eltern gestorben und Carol war zu ihm gezogen. Damals war er ein netter Junge gewesen, der sich nur für sein Studium interessiert hatte. Er war kaum ausgegangen, hatte sich für Frauen nicht interessiert. Dann hatte er sich der Biologie zugewandt und war von dieser Wissenschaft fasziniert gewesen. Die Möglichkeiten, die sich ihm eröffneten, waren einfach überwältigend. Das Spiel mit dem Erbgut, die Macht, künstliches Leben zu schaffen, die Menschen zu ändern, ihnen zu helfen, das alles hatte ihn unglaublich beeindruckt.
Aber in noch einem Punkt war sein Biologie-Studium entscheidend gewesen. Er, der sich nie für Frauen interessiert hatte, verliebte sich in ein Mädchen. Sie war Assistentin an der Universität in Chicago und seit einem Jahr verheiratet.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Terry Tucker immer nur spöttisch gelächelt, wenn es um Liebe gegangen war. Nie hätte er es für möglich gehalten, daß ihn die Liebe packen würde. Doch es war zu seiner größten Verwunderung geschehen. Er war 27 Jahre alt gewesen, ein Alter, in dem normale Männer schon einige Erfahrungen mit Frauen gesammelt haben und die meisten verheiratet sind. Doch Terry war unerfahren wie ein Jugendlicher gewesen. Völlig verwirrt, von seinen Gefühlen und seiner Leidenschaft für Betty Williams zerrissen. Sie war eine hübsche Frau, zwei Jahre jünger als er. Schlank, mit langen Beinen, festen Brüsten und einem umwerfend hübschen Gesicht. Ein bleiches Oval mit dunklen Augen, von rostbraunem Haar umrahmt. Betty Williams war eine erfahrene Frau, sie wußte, wie es um Terry Tucker stand, den sie recht gut leiden konnte. Sie spielte gern mit den Männern, obwohl sie glücklich verheiratet war. Terry war ihr dankbarstes Objekt. Innerhalb von wenigen Wochen brachte sie ihn fast zum Wahnsinn. Sie kokettierte und spielte mit ihm. Sie tat, als wolle sie sich von ihrem Mann scheiden lassen, dabei dachte sie nicht daran. Alles wäre sicherlich noch einige Zeit so weitergegangen, wenn nicht Terry eines Tages zufällig ein Gespräch zwischen Betty und einer ihrer Freundinnen gehört hätte. Dabei machte sich Betty in bösartigster Weise über Terry lustig. Sie spottete über seine Ungeschicklichkeit, sie lachte darüber, wie er sie ansah, wie er nervös wurde, wenn sie auftauchte. Und je länger Terry dem Gespräch zuhörte, desto wütender wurde er. So denkt sie also über mich, dachte er verbittert. Er wollte fort, weg von der Universität. Und er wollte Betty Williams nie mehr sehen.
Er sperrte sich zu Hause ein. Er wurde gereizt und brüllte seine Schwester an, die sich nicht erklären konnte, was in ihn gefahren war, da er nie etwas von seiner hoffnungslosen Liebe erwähnt hatte.
Dann änderte sich Terry Tuckers Einstellung. Er wollte fürchterliche Rache an Betty Williams nehmen. Und er wußte, wie er sich rächen würde.
Von einem Tag auf den anderen eröffnete er seiner Schwester, daß er von Chicago genug habe und nach Brasilien fahren wolle, wo er in Ruhe seine Experimente durchführen könne.
Er hatte sich im Amazonasgebiet niedergelassen. Seine einzige Gesellschaft waren Indianer gewesen.
Er hatte mit Tieren experimentiert. Anfangs hatte er wenig Erfolg, er war verzweifelt und wurde von Tag zu Tag verbitterter und verschlossener. Doch der Gedanke an die Rache ließ ihn weiterarbeiten. Er beschäftigte sich eingehend mit Hypnose, die Indianer waren dafür gute Objekte. Die ersten Ergebnisse stellten sich ein. Er veränderte sein eigenes Sperma und pflanzte es einer Äffin ein. Und aus dieser Verbindung entstand Harlo, der rote Affe. Er kreuzte Affen mit Pumas und Ratten mit Hunden.
Aber er setzte auch seine Versuche mit Menschen fort. Es gelang ihm, sie völlig willenlos zu machen, und wenn er es wollte, konnte er ihr Gedächtnis völlig löschen.
Er schrieb Carol, da er sich in der Wildnis zu einsam fühlte. Sie kam, doch er verstand sich nicht mit ihr. Sie stand seinen Experimenten ablehnend gegenüber.
Und dann waren Jeff Baker und Carl Ellison erschienen, sie waren auf der Suche nach dem roten Affen. Jeff und seiner Schwester gelang die Flucht.
Terry Tucker handelte augenblicklich. Er kehrte zusammen mit Carl Ellison und dessen Verlobter Susan Wood in die Staaten zurück.
Terry Tucker tobte vor Wut, als er erfuhr, daß es Jeff Baker gelungen war, Harlo gefangenzunehmen.
Er schwor sich, daß er Jeff und Carol töten würde. Irgendwann. Und jetzt war es soweit. Seine Schwester war tot und Jeff würde es in ein paar Tagen sein.
Tucker holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und trank einen Schluck. Er steckte sich eine Zigarette an und lächelte.
An Betty Williams hatte er sich auch gerächt. Sie, die sein Leben entscheidend geändert hatte, sie, die sich über ihn lustig gemacht hatte, war sein erstes Opfer geworden.
Tucker lächelte zufrieden, als er daran dachte.
Es war vor einem Dreivierteljahr gewesen. Er hatte sich eine alte, verlassene Farm unter falschem Namen gekauft, sie eingerichtet und seine Experimente fortgeführt. Dann war er nach Chicago gefahren.
Sein Aussehen hatte er verändert, keiner erkannte ihn wieder.
Vor der Universität wartete er geduldig. Und dann sah er Betty Williams. Er spürte, wie sein Puls heftiger schlug. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Der Haß und die Wut schlugen über ihm zusammen. Er hatte sich eisern beherrschen müssen, sonst wäre er augenblicklich auf sie losgegangen.
Er folgte ihr. Sie war in Begleitung eines jungen Mannes. Sie lachte, und seine Wut wurde immer größer. Der junge Mann sah recht gut aus, ein breitschultriger sportlicher Typ. Sie stiegen in einen cremefarbenen Cadillac, und Tucker hatte keine Schwierigkeiten, ihnen zu folgen. Sie aßen zu Abend bei Agostino in der East Delware Street, anschließend fuhren sie ins Magic Pan. Terry saß nur einen Tisch von ihnen entfernt, und er verstand Teile der Unterhaltung. Betty war noch immer verheiratet, doch mit der ehelichen Treue schin sie es nicht so genau zu nehmen. Aus ihren Worten entnahm er, daß ihr Mann für einige Tage verreist sei. Als er die beiden eng umschlungen tanzen sah, zahlte er und verließ das Tanzlokal. Kurz nach elf kamen Betty und ihr Begleiter heraus und fuhren zu einem modernen Haus in der Wabash Avenue.
Tucker beobachtete Betty zwei Tage.
Dann handelte er. Er betrat das Haus in der Wendell Street, in dem Betty wohnte, fuhr in den achten Stock und läutete an ihrer Tür.
Sie öffnete ihm arglos und sah ihn verwundert an.
„Guten Tag“, sagte er freundlich. Sie erkannte ihn nicht.
„Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir?“
Sie hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet und die Kette vorgelegt.
„Ich habe eine Nachricht von Ihrem Mann, darf ich hereinkommen?“
Sie überlegte kurz, nickte und öffnete schließlich die Tür. Betty führte ihn ins Wohnzimmer. Tucker holte einen kleinen Kasten aus der Rocktasche.
„Was ist mit meinem Mann?“ fragte Betty.
„Sie werden ihn nie mehr sehen“, sagte Tucker und schaute sie bösartig an.
„Wie meinen Sie...“
Tucker hob das kleine Kästchen und drückte auf einen Knopf. Bettys Augen weiteten sich und wurden starr. Er hatte sie hypnotisiert.
„Sie packen jetzt einen Koffer mit den notwendigsten Dingen“, sagte Tucker, „dann schreiben Sie einen Brief an Ihren Mann, daß Sie ihn verlassen. Das Leben an seiner Seite sei für Sie unerträglich geworden, Sie hätten einen anderen Mann kennengelernt, an dessen Seite Sie glücklicher sein würden.“
Tucker steckte das Kästchen ein.
„Sobald Sie den Koffer gepackt haben, rufen Sie ein Taxi und fahren zum Flughafen. Hier ist Ihr Ticket. In New York werde ich mich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen.“
Sie flogen in der gleichen Maschine, saßen aber nicht nebeneinander. Nach der Landung, als sie auf ihr Gepäck warteten, gab ihr Tucker einen weiteren Befehl.
Er traf sie in der Freeman Avenue in Bronx. Sie stieg in seinen Wagen und er fuhr los. Betty war noch immer in Trance. Als er bei der alten Farm angekommen war, sperrte er Betty in ein Zimmer und nahm sein richtiges Aussehen an.
Zufrieden betrat er den Raum, in dem er Betty Williams eingesperrt hatte.
Er löste die Hypnose und blieb vor ihr stehen.
„Erkennst du mich, Betty?“ fragte er heiser.
„Terry Tucker!“ rief sie. Betty blickte sich verwundert um.
„Wir haben uns lange nicht gesehen“, sagte Tucker. „Die ganze Zeit wurde ich nur von einem Gedanken beherrscht, Betty. Ich wollte mich an dir rächen!“
„Aber ich habe dir doch nie etwas getan“, behauptete die junge Frau verzweifelt. „Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Was...“
„Halt den Mund!“ schrie Tucker. „Einige Leute werden sich über dein Verschwinden wundern. Sie werden feststellen, daß du nach New York geflogen bist, doch dann verwischen sich die Spuren. Vielleicht finden sie den Taxifahrer, der dich in die Freeman Avenue brachte, aber dann können sie nichts mehr herausbringen. Du bleibst spurlos verschwunden, Betty.“
„Du bist wahnsinnig“, kreischte sie, sprang auf und rannte zur Tür, rüttelte an der Klinke, doch die Tür war versperrt.
„Du kannst nicht fliehen, Betty“, stellte Tucker höhnisch fest. „Du bist mir hilflos ausgeliefert. Lange wartete ich auf diesen Augenblick. Ich malte ihn mir aus. Immer wieder. Und ich genieße jeden Moment, genauso wie ich es mir vorstellte. Du sollst Angst haben, schreckliche Angst. Ich werde mich daran weiden.“
Betty lehnte an der Tür. Ihr voller Busen hob und senkte sich rasch. Sie preßte die Hände vors Gesicht. „Warum, Terry? Warum? Was habe ich dir getan?“
„Ich hörte zufällig ein Gespräch, das du mit einer Freundin führtest. Dabei machtest du dich lustig über mich. Ich war ein Spielzeug für dich. Ein Hündchen, das froh war, wenn es einen netten Blick bekam, das freudig Männchen machte, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Ich liebte dich. Ich war verrückt nach dir. Jetzt sind die Rollen vertauscht.“
„Du bist verrückt“, sagte sie. „Völlig verrückt. Das war doch nichts als Spaß, was ich...“
„Für mich war es aber kein Spaß“, schrie Tucker.
Betty biß auf ihre Lippen. Dann sah sie Terry an und lächelte. „Können wir das nicht vergessen, Terry?“ Ihre Stimme klang süß und einschmeichelnd. Sie stieß sich von der Tür ab und ging langsam auf Tucker zu. Vor ihm blieb sie stehen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie hob sich auf die Zehenspitzen, drängte ihre festen Brüste gegen seinen Körper, und ihre weichen Lippen berührten sanft die seinen. Sie wühlte in seinem Haar.
„Du bist ein dummer Junge“, flüsterte sie, und ihre Augen leuchteten. „Mich einfach gefangenzunehmen. Das wäre doch alles nicht notwendig gewesen.“
Sie schmiegte sich an ihn. Die Wärme ihres Körpers, ihr Duft und ihre warmen Lippen verwirrten Terry Tucker. Als sie seine rechte Hand an ihren Busen preßte, war es um ihn geschehen. Sie zog ihn aufs Bett und gab sich ihm hin. Nachher lagen sie eng umschlungen auf der Couch.
„Du kannst mich so oft sehen, wie du willst“, raunte Betty, „aber jetzt muß ich meinen Mann verständigen. Er wird sich Sorgen machen.“
Tucker sprang auf. Seine Augen blitzten wütend.
„Du hast mich täuschen wollen, Betty“, sagte er. „Aber so machst du alles nur schlimmer.“
Er griff nach seinem Hypnoseapparat und versetzte Betty in Trance. Ihr Gesicht war leer.
„Du beantwortest mir jetzt alle Fragen wahrheitsgemäß“, befahl er.
Ihr blieb keine andere Wahl. Sie mußte die Wahrheit sagen. Tucker hörte mit wütend geballten Fäusten zu.
Es war genauso wie er vermutet hatte. Betty hatte augenblicklich reagiert. Ihr war die Gefahr bewußt geworden, in der sie sich befand, doch sie hatte geglaubt, ihn mit ihren Reizen unter Kontrolle zu bringen. Als er dann erfuhr, wie sie tatsächlich über ihn dachte, rannte er tobend im Zimmer auf und ab. Sie fand ihn komisch, das intime Zusammensein mit ihm war für sie unangenehm gewesen, sie ekelte sich vor ihm.
Damit hatte Betty Williams ihr Todesurteil gesprochen.
Drei Monate lang dauerte ihr Leiden, dann starb sie.
Tucker hatte mit ihr unmenschlichste Versuche unternommen. Ihren Körper ununterbrochen verändert, ihre Arme und Beine schrumpfen lassen. Mehrmals hatte sie sich in ein abstoßendes Monster verwandelt, dann war ihr Körper so geschwächt gewesen, daß er nicht mehr lebensfähig war. Trotz Tuckers Bemühungen hatte er sie nicht am Leben halten können. Er war wütend gewesen, als sie starb.
Tucker hatte seine Rache gehabt. Jetzt blieb nur mehr einer übrig: Jeff Baker.

* * * 

Jeff konnte nicht behaupten, daß er gut geschlafen hatte. Immer wieder war er hochgeschreckt, hatte in die Dunkelheit geschaut und den regelmäßigen Atemzügen Gwens gelauscht.
Nach dem Frühstück war er in die Garage gegangen. Die Polizei hatte ihm ein Spezialfahrzeug zur Verfügung gestellt. Einen cremefarbenen Cadillac, der mit einigen Spezialgeräten bestückt war.
Jeff war nervös, während Gwen völlig ruhig und gefaßt wirkte. Jeff kämpfte sich durch den starken Verkehr. Endlich hatte er die Schnellstraße erreicht. Er trat stärker aufs Gaspedal, fuhr aber nie rascher als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 65 Meilen.
Alle paar Minuten blickte er in den Rückspiegel, doch es fiel ihm kein Verfolgerfahrzeug auf.
Laut Plan sollte er der Shannondale Farm einen Besuch abstatten. Die Polizei und Jeff waren ziemlich sicher, daß dieser Besuch Terry Tucker gemeldet werden würde.
Was dann Tucker unternehmen würde, das konnten sie ebenfalls nur vermuten.
Gwen hatte mittels ihrer PSI-Fähigkeiten versucht, einen Blick in die Zukunft zu werfen, doch es war ihr nicht gelungen. Das Gefühl der Angst, der Bedrohung, das sie schon in Louisville gespürt hatte, war immer stärker geworden, doch sie hatte Jeff nichts davon gesagt. Und je weiter sie nach Norden fuhren, umso stärker wurde das Gefühl der Bedrohung.
Jeff stellte das Radio an. Weder er noch Gwen hatten Lust auf eine Unterhaltung. Alles war dutzende Male durchbesprochen worden.
Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, die getroffen worden waren, kam sich Jeff wie ein Tier vor, das zum Schlächter getrieben wurde.
Nachdem sie Albany hinter sich gelassen hatten, blieb Jeff vor der Autoraststätte Guilderland stehen. Es war eine einfache Snack Bar. Die Bedienung war nicht sehr freundlich und die Sandwiches schmeckten fade.
Jeff würgte drei Brötchen hinunter, trank zwei große Gläser Bier und ein Kännchen Kaffee, während Gwen nur einen Fruchtsaft zu sich nahm.
Kurz nach zwei Uhr fuhren sie weiter. Sie verließen den New York Thruway und bogen in die Staatsstraße 146 ein. Überall waren bewaldete Flügel und kleine Seen zu sehen.
In Schoharie fragte Jeff einen Polizisten nach dem Weg zur Shannondale Farm. Er erklärte es ihm bereitwillig. Angeblich war die Farm nicht zu verfehlen. Sie sollte einige Meilen hinter Old Stone Fort liegen.
Bis Old Stone Fort war die Straße gut ausgebaut, danach wurde sie immer schlechter. Nach einigen Minuten Fahrt entdeckte Jeff ein verwittertes Schild, auf dem stand: Zur Shannondale Farm 1 Meile.
Jeff fuhr langsam. Sie kamen an einigen Koppeln vorbei, in denen sich junge Pferde tummelten, die neugierig herübersahen. Endlich tauchten die Farmgebäude auf. Vor einem der Gebäude saß ein weißhaariger alter Neger, der einen Strohhut tief in die Stirn gezogen hatte. Er hob den Kopf, als Jeff stehenblieb und ausstieg.
„Ich möchte zu Mr. Martin“, sagte Jeff.
Der Neger wandte den Kopf und spuckte aus. Dann blinzelte er Jeff kurzsichtig an und zeigte auf ein Gebäude.
„Danke“, sagte Jeff. Er blickte sich flüchtig um. Die Gebäude sahen alle alt und ungepflegt aus. Irgendwo weinte ein Kind, und das Kläffen eines Hundes war zu hören.
Jeff wartete, bis Gwen neben ihm stand, dann ging er in das alte Gebäude hinein. Eine junge Negerin mit abgearbeiteten Händen kam ihnen entgegen.
„Wir wollen zu Mr. Martin“, sagte Jeff.
„Mr. Martin!“ brüllte die Negerin. „Besuch, Mr. Martin!“
Eine Tür wurde geöffnet und ein fünfzigjähriger Mann trat in den Gang. Er trug ein knallrotes Baumwollhemd und grobe Leinenhosen.
„Ich bin Robert Martin“, sagte er. „Sie wünschen?“ Er blickte Jeff und Gwen mißtrauisch an.
„Mein Name ist Jeff Baker. Ich würde mich gern mit Ihnen über Ihre Pferde unterhalten.“
„Ich verkaufe keine“, meinte Martin unfreundlich. „Erst im Herbst bei der Jährlingsauktion in Saratoga.“
„Ich will kein Pferd kaufen, Mr. Martin“, sagte Jeff. „Ich will mich mit Ihnen über ein Pferd unterhalten, das aus Ihrer Zucht stammt.“
„Ich habe keine Zeit“, behauptete Martin.
„Es geht um Northern Gift“, sagte Jeff.
Martin reagierte nicht.
Northern Gift ist ein ungewöhnliches Pferd“, sprach Jeff weiter. „Außergewöhnlich schnell. Ein Klassehengst.“
„Das interessiert mich nicht“, sagte Martin abwesend. „Ich verkaufte Northern Gift vergangenes Jahr.“
„Ich möchte wissen, ob Sie eine spezielle Aufzuchtsmethode bei Northern Gift angewendet haben.“
„Darüber spreche ich nicht“, stellte Martin unwillig fest. „Lassen Sie mich in Ruhe.“
Jeff blickte Gwen an, die nickte. Das war das vereinbarte Zeichen, das besagte, daß Martin hypnotisiert war.
Jetzt ging Jeff aufs Ganze.
„Sagt Ihnen der Name Terry Tucker etwas?“
Martin blickte ihn rasch an. Seine Augen veränderten sich.
„Hinaus mit Ihnen“, schrie er. „Hinaus!“
„Beruhigen Sie sich, Mr. Martin“, meinte Jeff. „Ich will Ihnen doch nur ein paar Fragen stellen. Ich...“
„Verschwinden Sie!“ brüllte Martin.
„Sie kennen also Terry Tucker“, stellte Jeff sachlich fest. „Ich möchte mit ihm sprechen.“
„Ich kenne keinen Terry Tucker“, rief Martin. „Verschwinden Sie endlich, sonst...“
„War es nicht so, daß Terry Tucker Northern Gift einer ganz speziellen Behandlung...“
Martin lief rot an. Er stürzte in ein Zimmer, Jeff folgte ihm. Martin blieb vor einem Gewehrschrank stehen und holte eine doppelläufige Schrotflinte heraus. Er spannte die Hähne und richtete die Waffe auf Jeff.
„In zwei Minuten sind Sie verschwunden“, befahl Martin.
Jeff drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Der wütende Pferdezüchter folgte ihm.
Jeff und Gwen stiegen in den Wagen. Martin senkte die Waffe, als Jeff den Hof verließ und in Richtung Old Stone Fort fuhr.
„Martin ist hypnotisiert“, sagte Gwen.
„Das dachte ich mir“, meinte Jeff und steckte sich eine Zigarette an. „Aber sein Verhalten erstaunte mich. Er schnappte fast über, als ich Terry Tuckers Namen nannte.“
„Das wundert mich auch. Er wurde von Tucker nur sehr schlecht präpariert, sonst hätte er sich anders verhalten.“
„Dabei mußte doch Tucker erwarten, daß sich früher oder später irgendjemand mit Martin beschäftigen würde. Zumindest nach dem ersten Rennen von Northern Gift.
Gwen überlegte kurz. „Stimmt. Northern Gift ist ein erstklassiges Pferd. Und soweit ich es verstanden habe, züchtete Martin bis jetzt eher durchschnittliche Pferde. Tucker konnte sich ausrechnen, daß irgendwann einmal Martin im Mittelpunkt des Interesses der Pferdesportjournalisten stehen würde. Aber das scheint ihm gleichgültig zu sein. Und das bedeutet, daß Terry beabsichtigt, in nächster Zeit seinen Schlupfwinkel aufzugeben.“
Jeff antwortete nicht. Er griff nach dem eingebauten Telefon und drückte eine Taste. Augenblicklich hatte er mit Charles Ryan Verbindung, dem er von seinem Gespräch mit Martin berichtete.
„Jetzt müssen wir warten“, sagte Jeff zu Gwen. „Ich bin sicher, daß sich Martin mit Tucker in Verbindung setzen wird. Sein Telefon wird abgehört. Vielleicht kann die Polizei feststellen, mit wem er telefoniert.“
„Ich glaube nicht, daß er von der Farm aus Tucker anrufen darf.“
„Das ist zu befürchten“, meinte Jeff.
Er sollte recht behalten. Martin rief von seinem Telefon aus nicht an.

* * * 

Jeff fuhr mehr als drei Stunden herum. Immer im Kreis. Nichts geschah, niemand versuchte sie aufzuhalten.
„Unser Plan scheint nicht zu klappen“, sagte Jeff. „Kein Wagen verfolgt uns.“
Kurz vor Middleburg bog er in eine wenig befahrene Straße ein. Links lag ein kleiner See, rechts ragte ein Hügel auf. Nach fünf Minuten Fahrt hatten sie ein Dorf namens Stratford erreicht. Es bestand aus nicht mehr als dreißig Häusern.
Gwen stöhnte plötzlich auf und preßte sich eine Hand an die Brust.
Jeff bremste. „Was ist denn los, Gwen?“
„Hier stimmt etwas nicht“, sagte das Mädchen. „Ich spüre eine unheimliche Ausstrahlung.“
Jeff blieb mitten im Ort stehen. Kein Mensch war zu sehen. Eine Tigerkatze rannte mit aufgestelltem Schwanz über den Marktplatz.
Gwen krümmte sich zusammen. Ihr wurde fast übel. Sie öffnete das Wagenfenster, und die frische Abendluft brachte ihr Erleichterung. „Ich spüre, daß wir uns ganz in der Nähe Terry Tuckers befinden“, flüsterte Gwen. Ihre Augen waren rot unterlaufen.
„Soll ich weiterfahren, Gwen?“
Das Mädchen zögerte. In den vergangenen Tagen, seit sie von Terry Tuckers Existenz erfahren hatte, versuchte sie sich auf ihn zu konzentrieren. Sie hatte mittels ihrer Fähigkeiten probiert, seinen Aufenthaltsort herauszufinden, was ihr aber nicht gelungen war. Ihre Bemühungen schienen jetzt Erfolg zu haben. Vor ihren Augen flimmerte es.
Sie sah Wälder, unendliche Wälder und einen schmalen Pfad, der sich zwischen den alten Bäumen hindurchwand. Dann eine Wiese, steil abfallend. Und in der Ferne, ganz undeutlich, einige weiße Gebäude, einen halb verfallenen Zaun. Sie sah Terry Tucker. Er stand vor einem der Gebäude, trug einen dunklen Pullover, verwaschene Jeans. Sein blondes Haar war zerrauft. Er rauchte eine Zigarette und unterhielt sich mit einem Neger.
Das Bild verblaßte.
„Ich habe Terry Tucker gesehen“, sagte Gwen keuchend. „Er muß sich ganz in der Nähe befinden.“
Gwen zitterte am ganzen Leib. Sie bedauerte es, daß sie ihre Fähigkeiten nicht gezielt einsetzen konnte. Sie hatte Angst vor ihren PSI-Fähigkeiten. Deshalb hatte sie sich auch immer nur äußerst ungern zu wissenschaftlichen Versuchen bereit erklärt.
Vor mehr als zehn Jahren waren ihre Fähigkeiten erstmals aufgetreten. Im Haus ihrer Eltern waren die unerklärlichsten Dinge geschehen. Bilder waren plötzlich von den Wänden gefallen, Schränke hatten sich geöffnet, und das Telefon hatte ununterbrochen geklingelt. Doch nach einigen Wochen war alles wieder normal gewesen.
Sie hatte noch andere Fähigkeiten entwickelt. Manchmal war es ihr gelungen, Gedanken von Menschen zu lesen und ganz bewußt mit rein gedanklicher Kraft Gegenstände zu bewegen und zu verformen. Bei Experimenten mit ESP-Karten hatte sie unwahrscheinliche Ergebnisse erreicht. Bei einzelnen Serien hatte sie eine Trefferanzahl von 99 erzielt.
Doch am meisten waren die Wissenschaftler von ihren unglaublichen Hypnosefähigkeiten überrascht gewesen. Es war ihr öfters gelungen Menschen in Trance zu versetzen, denen sie nur einen flüchtigen Blick zugeworfen hatte.
Gwen fürchtete sich selbst vor ihren Möglichkeiten. Aus den Gesprächen mit vielen Wissenschaftlern. war ihr bewußt geworden, welche Kräfte in ihrem Geist steckten. Kräfte, die leicht ihrer Kontrolle entgleiten konnten,
„Gehen wir zu Fuß weiter, Gwen?“
Gwen blickte Jeff an. Ihr Gesicht sah bleich aus. Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab.
„Wir warten“, sagte sie schließlich. „Ich spüre, daß jemand zu uns unterwegs ist. Gib Ryan Bescheid. Einige Häuser weiter ist ein Drugstore Dorthin gehen wir. Ich ahne, daß vor Einbruch der Dunkelheit nichts geschehen wird, dann wird sich jemand mit uns in Verbindung setzen. Tucker muß sich in einem Umkreis von weniger als einer Meile aufhalten.“
Jeff setzte sich telefonisch mit Ryan in Verbindung, dann stiegen sie aus und schlenderten zum Drugstore.
Sie waren die einzigen Gäste. Bei einer jungen Kellnerin bestellten sie zwei Tassen Kaffee.
Jeff ließ die Uhr neben der Eingangstür nicht aus den Augen. Die Zeit schien stillzustehen.
Einige ältere Frauen betraten den Drugstore und kauften Kleinigkeiten ein, doch niemand setzte sich an einen Tisch.
Plötzlich richtete sich Gwen auf. Sie schloß die Augen.
„Ein Mann nähert sich dem Dorf“, sagte sie leise. „Ich kann ihn ganz genau sehen. Er ist jung, höchstens zwanzig. Er trägt einen Jeansanzug. Sein Haar ist schulterlang, dunkelbraun. In der rechten Hand hält er ein kleines Kästchen.“
Jeff hörte ihr gebannt zu. Es wurde rasch dunkel. Er trank seinen Kaffee und ließ Gwen nicht aus den Augen.
„Jetzt betritt der Mann das Dorf“, sprach Gwen weiter. „Sein Name ist Fred Caron. Er wohnt hier im Dorf. Und er wird versuchen, uns zu hypnotisieren. Bei dir wird er Erfolg haben. Ich werde so tun, als wäre ich hypnotisiert.“
Jeff sprang auf und lief auf die Toilette. Aus seiner Jackentasche zog er ein winziges Sprechgerät.
„Ryan?“ fragte er.
„Ich höre dich“, antwortete Ryan.
„Ich glaube, jetzt ist es soweit“, sagte Jeff rasch. „Ab sofort lasse ich das Sprechfunkgerät eingeschaltet.“
„Verstanden, Jeff“, meinte Ryan. „Keine Angst. Es kann dir nichts geschehen.“
Jeff steckte das Gerät ein und ging zu Gwen zurück. Er saß kaum, als ein junger Mann den Drugstore betrat. Es war Fred Caron.
Der Junge stellte sich an den Tresen, bestellte ein Cola und steckte sich eine Zigarette an. Aus seiner rechten Hosentasche holte er ein viereckiges Gerät hervor, drehte sich um und blickte Jeff an. Er stieß sich vom Tresen ab und ging mit wiegenden Schritten auf Jeff zu. Vor dem Tisch blieb er stehen.
„Sind Sie Mr. Baker?“ fragte der Junge.
Jetzt bin ich dran, dachte Jeff. „Ja“, antwortete er.
Der Junge grinste. Blitzschnell hob er das Gerät, es klappte auf, und Jeff schloß geblendet die Augen. Alles verschwamm vor ihm. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, sah alles doppelt, wie durch einen dichten Nebel hindurch. Er hörte die Stimme des Jungen, verstand aber anfangs den Sinn seiner Worte nicht.
„Sie folgen mir, Mr. Baker“, sagte der Junge. „Und Sie auch, Miß. Wie ist Ihr Name?“
„Gwen Dobson.“
„Sie stehen jetzt auf, beide“, befahl der Junge. „Ich gehe voraus. Sie halten einen Abstand von fünfzig Meter ein, verstanden?“
„Ja“, sagten Jeff und Gwen gleichzeitig.
Fred Caron verließ den Drugstore, und Jeff und Gwen schlossen sich ihm an.
Der Junge ging durch das Dorf, ließ es hinter sich und stieg einen Hügel hoch. Jeff und Gwen folgten ihm. Es war dunkel, der Junge war nur als undeutlicher Schatten zu sehen.
Äste krachten unter ihren Füßen. Nach einigen Minuten erreichten sie einen schmalen Waldweg. Jeff schloß dichter auf. Er konnte nicht denken. Mechanisch ging er weiter. Er sah den Zaun nicht, auch nicht das offene Tor. Die vor ihm liegenden Gebäude nahm er nur undeutlich wahr.
Der Junge schritt über einen hell erleuchteten Hof und öffnete eine Tür.
Jeff und Gwen folgten ihm.
Fred Caron schritt einen Gang entlang und blieb vor einer Tür stehen.
„Treten Sie ein, Miß Dobson und Mr. Baker“, sagte Caron.
Jeff drückte die Klinke nieder und trat ein. Der Raum war weiß, völlig schmucklos.
„Bleiben Sie stehen, Mr. Baker“, befahl Terry Tucker, der langsam aufstand. „Herzlich willkommen.“
Die Erstarrung fiel plötzlich von Jeff ab.
„Ich bin Ihnen dankbar, Mr. Baker“, sagte Tucker spöttisch, „daß Sie meine Schwester töteten. Sie waren sicherlich überrascht, als Sie sich plötzlich in ein Monster verwandelten. Schade, daß es mir nicht möglich war, dabei zuzusehen.“
Jeff antwortete nicht. Er ließ sich Zeit. Er wußte, daß die Polizei unterwegs war.
„Sie sind sehr schweigsam“, bemerkte Tucker. „Haben Sie die Sprache verloren, Baker?“
Jeff schüttelte den Kopf, dabei sah er Gwen an, die noch immer so tat, als wäre sie hypnotisiert.
„Nein“, sagte Jeff. „Ich suchte Sie den ganzen Tag. Ich ahnte, daß Sie sich hier aufhalten würden.“
„Sie fanden mich aber nicht“, meinte Tucker. „Aber ich fand Sie. Ich muß ehrlich sagen, ich war über Ihre Kombinationsgabe überrascht. Ich wunderte mich zuerst sehr, daß Sie Robert Martin entdeckt hatten, doch dann wurde mir alles klar. Northern Gift, das von mir behandelte Pferd, befindet sich bei Ihrem Vater im Training. Und die außergewöhnliche Geschwindigkeit des jungen Hengstes überraschte Sie. Zu Recht vermuteten Sie, daß ich dahinter steckte. Seit einem Jahr warte ich auf den Augenblick, Ihnen gegenüberzustehen, Baker. Ich werde Sie töten, so wie ich Betty Williams und meine Schwester getötet habe.“
„Wer ist Betty Williams?“ fragte Jeff.
„Das hat Sie nicht zu interessieren“, sagte Tucker grimmig. „Ich habe mir eine hübsche Todesart für Sie ausgedacht, Baker.“
Tucker hob eine Spritze hoch, die mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war. „Sie bekommen eine Injektion. Die ersten Minuten werden Sie nichts spüren. Sie haben keine Schmerzen, doch nach einer Viertelstunde sieht die Situation schon anders aus. Sie werden feststellen, daß Sie um zehn Zentimeter geschrumpft sind. Sie werden immer kleiner. In drei Stunden sind Sie nur mehr einen Meter groß. Sie werden fürchterliche Schmerzen haben. Und immer kleiner werden Sie. Schließlich sind Sie nur mehr handgroß, dann fingergroß. Am Ende so groß wie ein Staubkorn und dann sind Sie nicht mehr zu sehen. Sie verschwinden einfach, so als hätten Sie nie existiert. Wie gefällt Ihnen Ihre Todesart, Mr. Baker?“
„Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich es zulassen werde, daß Sie mir...“
Tucker lachte. „Sie wollen sich wehren, aber das gelingt Ihnen nicht. Ich kann Sie jederzeit hypnotisieren.“ Tucker hob ein kleines Gerät hoch und Jeff erstarrte. Er konnte sich nicht mehr bewegen, konnte aber Tucker sehen und hören.
„Ihre Freundin werde ich auch töten müssen“, sprach Tucker weiter. „Es bleibt mir leider keine andere Wahl. Es war sehr unklug von Ihnen, sie mitzunehmen, Baker.“
Tucker kam auf Jeff zu.
Wo bleiben nur Ryan und seine Leute, dachte Jeff entsetzt. Tucker griff nach seiner Hand, hob die Spritze und wollte zustechen.
Jetzt gab es für Gwen kein Halten mehr. Sie mußte eingreifen. Sie sprang los und stürzte auf Tucker zu, der einen Schritt zurücktaumelte. Dabei entfiel ihm der Hypnoseapparat, doch die Spritze hielt er krampfhaft umklammert.
„Sie sind ja gar nicht hypnotisiert“, sagte Tucker erstaunt.
Gwen schlug nach Tuckers rechter Hand. Er wich zur Seite aus, und der Schlag ging ins Leere. Gwen rammte Tucker und drückte ihn an die Wand.
Er hob die Spritze und stach nach Gwen, die den Angriff abblocken konnte. Ihre Augen wurden groß. Sie starrte Tucker an, der die Augen zusammenkniff.
Tucker handelte augenblicklich. Ihm war bewußt geworden, daß er in Gwen einen ernsthaften Gegner vor sich hatte. Er riß die linke Hand hoch, ballte sie zur Faust und schlug Gwen gegen das Kinn. Das Mädchen wankte, da bekam sie einen weiteren Hieb, diesmal auf die Nase. Und dann noch einen. Sie ging in die Knie. Tucker verkrallte seine rechte Hand in ihrem Haar und riß ihren Kopf zurück. Im letzten Augenblick fing sich Gwen wieder. Ihre scharfen Nägel bohrten sich in Tuckers Hand. Er schrie wütend auf. Gwen griff zu und entwand Tucker die Spritze. Mühsam richtete sie sich auf.
Tucker war rasend vor Wut. Er ließ Gwens Haar los und ging breitbeinig auf sie zu.
Gwen handelte ohne zu zögern.
Wie einen Speer schleuderte sie die Spritze gegen Tucker. Die spitze Nadel bohrte sich in seine Brust. Er nahm die Arme hoch, ging in die Knie und fiel langsam auf die Brust. Dabei drückte der Kolben die gelbe Flüssigkeit in seinen Körper.
Tucker war nicht tot. Er wälzte sich auf die Seite, riß sich die Spritze aus der Brust und versuchte aufzustehen.
„Ich bin verloren“, schrie Tucker, „Aber ich werde euch beide trotzdem töten. Für mich gibt es keine Rettung.“
Tucker rannte an Carol vorbei, die sich um Jeff kümmerte. In wenigen Augenblicken mußte die Polizei eintreffen. Die Gefahr war vorüber. Tucker würde gefangengenommen werden.
Gwen legte ihre Hände an Jeffs Stirn und es gelang ihr, ihn aus seinem Trancezustand zu reißen.
Jeff hatte alles mit angesehen, ohne aber eingreifen zu können.
„Danke, Gwen“, sagte Jeff. „Das war knapp. Wo bleibt nur Ryan mit seinen Leuten?“
„Das frage ich mich auch“, meinte Gwen. „Tucker ist geflohen. Aber er wird nicht weit kommen. Ich...“
Lautes Schreien war zu hören, dann das Krachen von Schüssen.
Jeff und Gwen rannten in den Gang. In die Detonationen mischte sich ein unmenschliches Brüllen.
Jeff und Gwen stürmten ins Freie. Überrascht blieben sie stehen.
Der Hof vor den Gebäuden wurde von starken Scheinwerfern taghell erleuchtet.
Neben einem alten Schuppen stand ein grauenhaftes Monster.
Es war mehr als drei Meter groß. Das Gesicht war eine grüne Teufelsfratze. Man sah spitz zulaufende Ohren und ein gewaltiges Fischmaul, das weit offenstand.
Ein halbes Dutzend Polizisten schossen mit Schnellfeuergewehren auf das Monster. Die Kugeln trafen die Brust des grünschuppigen Ungeheuers, prallten aber wirkungslos ab.
Dann erklang Terry Tuckers Stimme.
„Töte sie alle, Gary“, brüllte der Wissenschaftler. „Töte alle. Laß keinen am Leben. Töte!“
Das Monster befolgte Tuckers Befehl. Es sprang vorwärts und achtete nicht auf die Schüsse, die ihm Schmerzen bereiteten, es aber nicht töten konnten.
Es lief auf einen der Polizisten zu.
Gwen drängte sich entsetzt an Jeff und barg ihren Kopf an seiner Schulter.
Das grünschuppige Monster packte den unglücklichen Polizisten und tötete ihn, dann ging es auf den nächsten los, der zu flüchten versuchte. Die scharfen Pranken des Ungeheuers erschlugen ihn.
Jeff erinnerte sich an das Sprechgerät in seiner Tasche. Er holte es heraus.
„Ryan!“ schrie er. „Hörst du mich?“
„Ja, ich höre dich“, antwortete er.
„Wir haben es mit einem fürchterlichen Monster zu tun“, brüllte Jeff. „Es ist riesengroß und mit normalen Waffen nicht zu töten. Es hat schon zwei Polizisten umgebracht. Veranlasse, daß andere Waffen eingesetzt werden.“
„Verstanden“, sagte Ryan. „Ein Hubschrauber ist unterwegs. Ich werde Soldaten anfordern. Wo steckt Tucker?“
„Keine Ahnung“, antwortete Jeff. „Wahrscheinlich hat er sich in einem der Gebäude versteckt. Ich hörte, wie er das Monster anfeuerte, daß es alle töten soll.“
Jeff unterbrach die Verbindung, als sich das Monster ihnen zuwandte. Die Polizisten hatten sich in Sicherheit gebracht, schossen aber ununterbrochen weiter.
„Rasch ins Haus“, rief Jeff, packte Gwen und schlug die Tür zu.
Sie rannten den Gang entlang. Das Splittern der Tür war zu hören. Das Ungeheuer raste ins Haus.
Jeff blickte sich einmal um, öffnete eine schmale Tür und trat ein. Die Tür war zu klein für das Monster.
Das grünschuppige Ungeheuer blieb vor der Tür stehen und streckte einen Arm ins Zimmer und versuchte Jeff und Gwen zu erreichen. Als er merkte, daß es so nicht weiterkam, riß es einfach den Türstock aus und schlug gegen die Wand. Ziegel polterten zu Boden, und der Raum war in eine Staubwolke gehüllt.
Jeff riß das Fenster auf, sprang ins Freie, und Gwen folgte ihm. So schnell sie konnten, liefen sie über den Hof zum nahen Wald.
Sie hörten den wütenden Schrei der Bestie, dann ein lautes Krachen, Teile des Ranchhauses brachen zusammen.
Das Ungeheuer trat einfach gegen das Fenster, schlug mit den Krallen  um sich und gelangte ins Freie.
In diesem Augenblick landete ein Hubschrauber. Ein halbes Dutzend Soldaten sprangen heraus. Zwei schossen mit Maschinenpistolen auf das Ungeheuer. Es richtete sich auf. und brüllte wütend. Einer der Soldaten schleuderte eine Handgranate auf das Monster. Er hatte gut getroffen. Die Granate explodierte krachend an der Brust des Monsters.
Und sie zeigte Wirkung. Im Körper des Monsters klaffte plötzlich ein faustdickes Loch.
Ein zweiter Hubschrauber landete. Ein Flammenwerfer wurde in Stellung gebracht. Das Monster versuchte auf die Soldaten loszugehen, doch die Granaten, die ununterbrochen gegen seinen Körper flogen, brachten seinen Vormarsch zum Stoppen.
Dann zuckten die Flammen vor und hüllten das Monster ein. Endlich war die Bestie besiegt.
„Das Monster ist tot“, sagte Jeff. „Jetzt suchen wir Tucker.“
Sie gingen an dem toten Ungeheuer vorbei, das sich nicht mehr rührte. Das Geschöpf, das Terry Tucker geschaffen hatte, stellte keine Gefahr mehr dar.
Sie gingen um das halb zerstörte Hauptgebäude herum.
Charles Ryan kam ihnen entgegen.
„Habt ihr Terry Tucker gefunden?“ fragte Jeff.
Ryan schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich schickte einige Männer aus, die ihn suchen sollen.“
„Er kann nicht weit sein, Charles“, meinte Jeff. „Ich glaube, daß er sich in diesem Schuppen befindet. Er bekam die Spritze, die er mir zugedacht hatte.“
Zwei Polizisten schlossen sich ihnen an. Ryan holte eine starke Stablampe aus der Tasche und knipste sie an. Vor dem Schuppen blieben sie stehen. Ryan stieß die Tür mit dem rechten Fuß auf.
„Sind Sie da drinnen, Tucker?“
Ein leises Stöhnen war zu hören.
Ryan öffnete die Tür weiter, dann leuchtete er mit der Lampe ins Innere. Der Strahl der Lampe fiel auf Terry Tucker, der auf dem Bauch lag. Seine Finger hatte er im Boden verkrallt. Er wandte langsam den Kopf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Der dunkle Pullover, den er trug, war sichtlich zu groß für ihn. Auch die Jeans.
„Er schrumpft“, sagte Gwen leise. „So wie er es gesagt hat.“
Tucker drehte sich mühsam zur Seite. Er wimmerte vor Schmerzen.
Jeff kam langsam näher und blieb vor Tucker stehen.
„Können Sie mich hören, Tucker?“ fragte Jeff.
„Gehen Sie zum Teufel, Baker“, schrie Tucker.
„Ich will Ihnen nur eines sagen, Tucker. Ihre Schwester lebt. Wir täuschten Sie, und Sie fielen darauf herein. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja“, flüsterte Tucker. „Ich habe Sie verstanden.“
„Weshalb taten Sie das alles?“ fragte Gwen, die neben Tucker niederkniete. „Weshalb?“
Tucker schloß die Augen. Er schrumpfte immer mehr. Seine Lider zitterten.
„Antworten Sie, Terry“, sagte Gwen sanft.
„Das geht Sie nichts an“, erwiderte Tucker. „Laßt mich in Ruhe sterben.“
„Weshalb nützten Sie Ihre Fähigkeiten nicht für bessere Zwecke, Terry?“
Tucker stöhnte. „Wasser“, flüsterte er. „Wasser.“
Es wurde ihm gebracht. Er trank es gierig, dann starrte er Gwen an. Sein Gesicht fiel zur Seite.
„Ich bin rettungslos verloren“, sagte er. „In einigen Stunden bin ich tot. Aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Mein Leben war sinnlos geworden.“
„Weshalb?“
Tuckers Lippen bebten. „Sie sind eine schöne Frau“, flüsterte er. „Wunderschön. Aber böse. Böse wie alle Frauen.“
„Sie hassen alle Frauen?“
„Ja“, hauchte Tucker. „Ich hasse alle Frauen. Als ich jung war, las ich einmal einen Roman. Der Titel ist mir entfallen. Aber zwei Sätze sind mir in Erinnerung geblieben.“
„Und die heißen?“
Tucker starrte Gwen an. „Das Herz der Frau ist trügerisch. Und ihr Schoß brennt schlimmer noch als Feuer.“
Gwen wischte Tucker den Schweiß von der Stirn.
„Sie wurden von einer Frau enttäuscht?“
Tucker nickte. „Wegen ihr fing ich alle zu hassen an. Können Sie mich verstehen?“
Gwen schüttelte den Kopf.
„In meinem Arbeitszimmer im Schreibtisch“, flüsterte Tucker. „In der untersten Lade. Da finden Sie mein Tagebuch. Lesen Sie es. Vielleicht verstehen Sie mich dann.“
Tucker bäumte sich auf. Er wurde bewußtlos.
Zwei Sanitäter hoben ihn auf eine Bahre. Sein Körper war weiterhin geschrumpft. Er war nur mehr einen Meter groß. Ein Arzt untersuchte ihn flüchtig, dann wurde Tucker zu einem Hubschrauber gebracht. Der Hubschrauber flog los, und Jeff und Gwen sahen ihm nach, bis er verschwunden war.
Schweigend betraten sie das Hauptgebäude und durchsuchten es. Sie fanden den Käfig, in dem sich Ken und Janet Griffin und Burdell Bixby befanden.
Jeff und Gwen begaben sich in Terry Tuckers Arbeitszimmer. Gwen durchsuchte den Schreibtisch und fand Tuckers Tagebuch.
Jeff setzte sich neben sie. Er hielt ihre Hand, die Augen hatte er geschlossen. Er fühlte sich müde und genoß Gwens Gegenwart. Gwen las Tuckers Tagebuch.
Zwei Stunden später legte sie die Lebensbeichte erschüttert zur Seite.
Weil eine Frau Terry Tucker unterschätzt und als Spielzeug benützt hatte, war er zu einem Sonderling geworden. Hätte sich Betty Williams anständiger verhalten, dann wäre alles ganz anders gekommen.
Nach der Enttäuschung mit Betty hatte sich Tucker völlig verändert.
Gwen blickte auf Jeff, der in seinem Stuhl eingeschlafen war.
Und ihr fiel ein Wort des Euripides ein. „Wer der Liebe ganz entsagt, ist nicht weniger krank als der, der sie allzusehr begehrt.“ Sie hatte den Satz geflüstert. Jeff öffnete verschlafen die Augen.
„Was hast du gesagt?“ fragte er. Bevor sie noch antworten konnte, betrat Charles Ryan das Zimmer.
„Ich bekam eben die Nachricht, daß Terry Tucker gestorben ist“, berichtete er. „Tucker wurde winzig klein, dann löste er sich einfach auf.“
Gwen klappte Tuckers Tagebuch zu und stand auf. Ohne etwas zu sagen, ging sie aus dem Zimmer, hinaus ins Freie.
Sie blickte den tief stehenden Mond an und fühlte sich leer.
Terry Tucker war tot, doch Gwen dachte daran, welche Möglichkeiten in ihm gesteckt hatten. Er hätte sie zum Nutzen der Menschheit einsetzen können.

E N D E

© by Kurt Luif 1976 & 2017

 

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