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Auf EHEC folgt die Rostwelke - Der SF-Roman „Biokrieg“ und sein Autor Paolo Bacigalupi

BiokriegAuf EHEC folgt die Rostwelke
Der SF-Roman „Biokrieg“ und sein Autor Paolo Bacigalupi

EHEC war gestern. Rostwelke und Cibiskose sind morgen, und sie sind für Menschen und Pflanzen gleichermaßen tödlich. Wer bislang geglaubt hat, verseuchte spanische Salatgurken oder keimbefallene Mungobohnen-Sprossen seien ein gravierendes Problem, der greife zu dem SF-Knaller des Jahres 2010, der seit März endlich auch in deutscher Übersetzung bei Heyne erhältlich ist.

 

Erfolgstitel „Biokrieg“: Im März erschienen und jetzt schon in der 2. Auflage. Foto: Heyne„Biokrieg“ heißt der Triller des US-Autors Paolo Bacigalupi, der seine Leser in eine offenbar gar nicht so weit entfernte, sehr düstere Zukunft entführt. Der Bundesgesundheitsminister empfiehlt: Nach dem Lesen die Hände kräftig waschen und desinfizieren.

Weil es keine fossilen Brennstoffe mehr zur Energieerzeugung gibt, müssen PC-Benutzer selbst in die Pedale treten, um sich über Dynamos den notwendigen Strom für ihre Geräte zu beschaffen. In größerem Maßstab werden biotechnisch hergestellte Elefanten zu lebenden Kraftwerken zusammengefasst, ihr Dung liefert Methangas als wertvollen Brennstoff. Am Himmel ziehen Luftschiffe ihre Bahn, auf den Meeren halten Segelschiffe den Kontakt zwischen den Kontinenten aufrecht.

Das liest sich zunächst wie die Kulisse eines modernen „Steampunk“-Romans, ist aber nur ein Teil eines postapokalyptischen Szenarios der Art, wie sie für Bacigalupi typisch ist. Der Autor war bis zum Erscheinen von „The Windup Girl“ außer für seinen beinahe unaussprechlichen Namen nur für wenige, sehr düstere Science-Fiction-Kurzgeschichten bekannt. Sie genossen allerdings bei einer kleinen, aber offenbar treuen Leser-Gemeinde Kultstatus. Als dann 2009 der Roman „The Windup Girl“ in den USA erschien, überschlugen sich die Kritiker mit enthusiastischen Kritiken und erhoben Bacigalupi rasch zum würdigen Nachfolger von William Gibson oder Neal Stephenson.

Dabei macht der heute 38-jährige Autor nichts anderes als Generationen ordentlicher SF-Schriftsteller vor ihm: Er extrapoliert aktuelle Entwicklungen der Gegenwart in die Zukunft, gibt ihnen überraschende Wendungen und dramatische Abschlüsse. Dabei legt er zumeist die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit zugrunde.  

Nichts anderes geschieht im „Biokrieg“: Der Klimawandel hat den Meeresspiegel ansteigen lassen, viele Küsten unter Wasser gesetzt und Milliarden Menschen zu hungernden Flüchtlingen gemacht. Um die Erdbevölkerung ernähren zu können, haben internationale Lebensmittelkonzerne das Heft des Handelns in die Hand genommen. In ihren Biotech-Laboren wird nach kalorienreichen, effizient einsetzbaren Pflanzen geforscht, die Mensch und Tier überleben lassen könnten. Aber dabei geht einiges schief: Ganze Pflanzenarten verschwinden von der Erdoberfläche, Gegner der Konzerne setzen zudem genmanipulierte Pflanzen als bioterroristische Waffen ein, die Krankheiten und Hungersnöte hervorrufen, die abermals Millionen Menschen dahinraffen.

Bacigalupi trifft mit seinem Buch offenbar den entscheidenden Nerv. Die „American Library Association“ ernennt „The Windup Girl“ kurzerhand zum besten SF-Roman 2009, das „Time Magazine“ schiebt es gar unter die zehn besten Romanveröffentlichungen des Jahres. Es folgen Preis-Nominierungen und schlussendlich auch Verleihungen der wichtigsten SF-Preise: Hugo, Nebula und Locus Award. Dabei erstaunt vor allem der Hugo Award umso mehr, wird diese traditionsreiche Auszeichnung doch auf dem SF-Worldcon vom Lesepublikum vergeben, und das orientiert sich doch wohl eher an bekannten Namen.

Jedenfalls: Mit der begeisterten Aufnahme seines Roman-Erstlings scheinen in Paolo Bacigalupis noch junger Schriftstellerkarriere alle schönen Dinge gleichzeitig zu geschehen, nachdem der große Durchbruch Jahre auf sich warten ließ. Als es 2010 die großen SF-Preise regnet, liegt mehr als ein Jahrzehnt harter Arbeit gepaart mit reichhaltiger Frustration hinter ihm. Mehr als einmal zweifelt Bacigalupi an seiner Zukunft als Schriftsteller, als sich die zurückgeschickten Manuskripte zu trostlosen Stapeln auftürmen.

Zu düster erscheint vielen Redakteuren und Lektoren die Welt, in der Paolo Bacigalupi den „Biokrieg“ wüten lässt: Nationalstaaten, die sich noch einen Rest an Handlungsfähigkeit bewahrt haben, versuchen, sich von den verseuchten und verschmutzten Nachbarn abzuschotten. In Südostasien ist es Thailand, das sich mit Hilfe einer rabiaten Umweltpolizei genetisch sauberes Saatmaterial erhalten kann. Auf diese Samenbank haben es natürlich die Agrarkonzerne abgesehen. Sie platzieren geschickt ihre Agenten im Zentrum der Regierung, deren Handels- und Geschäftsinteressen mitunter den umweltpolitischen Abteilungen im eigenen Hause zuwiderlaufen.

In dieses Durcheinander eines angekündigten Weltuntergangs, das durch schweißtreibende Temperaturen noch verstärkt wird, setzt Autor Paolo Bacigalupi seine handlungstragenden Figuren: die an CIA-Agenten alter Schule erinnernden Konzernvertreter, die Idealisten des Umweltministeriums, die notfalls mit Gewalt das genetische Erbe ihres Landes schützen wollen, die korrupten Repräsentanten des Handelsministeriums, die lieber über lukrative Geschäfte als über Natur- und Artenschutz nachdenken, und das japanische „Aufziehmädchen“ Emiko, ein künstlicher Mensch, der von seinen Erschaffern mit einigen erstaunlichen Fähigkeiten ausgestattet wurde. Für den Leser entwickelt sich Emiko, die als künstlicher Mensch mit programmierten Verhaltensmustern dennoch in gewissem Grade selbstständig denken kann, rasch zu der Sympathie-Figur des Romans. Darin ähnelt sie ein wenig dem Replikanten Roy in „Blade Runner“, dem Klassiker des modernen SF-Films.

Paolo Bacigalupi freut sich: Ich bin nicht mehr der Loser, der zu Hause sitzt und schreibt, während die Frau arbeiten geht. Foto: JT Thomas PhotographyPaolo Bacigalupi lebt nach seinen Ausbildungs- und Wanderjahren wieder in Paonia, einem 1600 Einwohner zählenden Nest im US-Bundesstaat Colorado mit Blick auf die Rocky Mountains im Westen. In dem Ort ist er groß geworden, nachdem seine hippie-bewegten Eltern 1973 sechs Monate nach seiner Geburt von Colorado Springs aufs Land zogen. Sie wollten dort mit einem befreundeten Paar eine der Apfelplantagen bewirtschaften, die Paonia bekannt gemacht haben. Aber Elche aus den Bergen fraßen immer die Rinde von den Bäumen, und die Pflanzen gingen ein. Auch mit der Ehe seiner Eltern ging es abwärts. Paolo Bacigalupi war drei Jahre alt, als sie sich scheiden ließen.

Sein alter Wohnort ist mithin mit reichlich persönlicher Geschichte aufgeladen. Sein plötzlicher literarischer Ruhm hat dennoch nicht dafür gesorgt, dass er in seinem Stammlokal mehr Drinks als gewöhnlich bestellen kann. Paolos Mitbürger sind eher auf eine stille Art stolz auf ihren Schriftsteller. „Ich bin jetzt eben nicht mehr der Loser, der zu Hause sitzt und schreibt, während seine Frau arbeiten geht“, erzählt Bacigalupi. Seine Frau Anjula hat er 1998 geheiratet, sie haben inzwischen ein Kind und Anjula arbeitet wieder als Lehrerin.

Sie unterstützt ihn, als er nach Schule und Universitätsausbildung mit dem Schwerpunkt „Ostasien-Studien“ nicht so recht weiß, wohin es mit ihm gehen soll. Nach einer China-Reise arbeitet Bacigalupi kurzzeitig für Firmen, die Kontakte nach Fernost suchen, dann versucht er sich in anderen Unternehmen als Web-Designer, verzweifelt aber schnell am stupiden Büro-Alltag.

Schließlich denkt er verstärkt übers Schreiben nach. Seine Mutter schenkt ihm einen Ratgeber fürs „Romane schreiben am Wochenende“. Er absolviert einige der angebotenen Übungen, entwickelt Plots und Charaktere und hämmert schließlich eine Kurzgeschichte in die Maschine. Es handelt sich natürlich um SF, weil Bacigalupi immer auch schon SF gelesen hatte: Heinlein natürlich, wie jeder gute Amerikaner, dazu John Normans Gor-Zyklus, J. G. Ballard und William Gibson.

Der Cyberpunk-Pionier scheint sich zum Vorbild für Bacigalupi zu entwickeln. Während einer Lesung in Denver erbittet der Nachwuchs-Schriftsteller von Gibson Tipps für die weitere Karriere. Ich habe so lange Kurzgeschichten geschrieben, soll Gibson geantwortet haben, bis man mich ernst genug genommen hat, um auch mal einen Roman von mir zu kaufen.

Dem „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ bietet Bacigalupi schließlich eine sehr an Gibson angelehnte Story über einen Datenspeicher mit dem Bewusstsein des Dalai Lama an. „The Pocketful of Dharma“ erscheint 1999 und ruft eine erstaunliche Reaktion hervor: Das Telefon klingelt.

„Hallo, hier ist Harlan Ellison“, soll es aus dem Hörer getönt haben, „wissen Sie, wer ich bin?“ Der Altmeister der US-SF hat Bacigalupis Story gelesen und hat ebenfalls noch einige Tipps parat. Den Namen des jungen Schriftsteller hält er im übrigen für ein Pseudonym, aber mindestens für einen schlechten Witz.

Weil es aber mit dem großen SF-Roman immer noch nicht klappen will, versucht es Bacigalupi auch mit einem historischen Roman, einer Heimatgeschichte und einem Krimi. Die Manuskripte finden keinen Anklang. Also kehrt er zur SF-Story zurück und verfasst und veröffentlicht mehrere Geschichten, die ökologische Desaster, biotechnische Unfälle und menschliche Deformierungen zum Thema haben. Verschiedene Herausgeber begegnen den Geschichten immer noch mit sehr großer Zurückhaltung, mit Veröffentlichungen in anderen Magazinen erarbeitet sich Bacigalupi aber den Ruf einer neuen Stimme in der Szene der „Hard SF-Schreiber“. Insbesondere die Story „Der Kalorienmann“, die auf die spätere Welt des „Biokriegs“ verweist, kommt so gut an, dass sie mit dem Theodor Sturgeon Memorial Award für die beste Kurzprosa ausgezeichnet wird. Und mit dem kleinen Verlag „Night Shade Books“ in San Francisco findet Paolo Bacigalupi endlich einen Verlag, der an ihn glaubt. Er bringt die Story-Sammlung „Pump Six and other Stories“ heraus, und das Buch ist schon kurze Zeit später reif für eine zweite Auflage. Nach dem Erfolg des Romans „The Windup Girl“ in 2009 ist es zudem mehr denn je gefragt. Obwohl es bereits eine eBook-Version und ein Taschenbuch gibt, zahlen Fans für die erste Hardcover-Ausgabe der Story-Sammlung bei eBay oder Amazon bis zu 425 Dollar.

Der „Biokrieg“ endet wie im richtigen Leben: Am Ende gibt es weder Sieger noch Besiegte. Einige sind tot und vieles ist kaputt, aber die Überlebenden glauben dennoch, ihre Widersacher richtig über den Tisch gezogen zu haben. Nur für Emiko, unser „Aufziehmädchen“, scheint am Ende ein Traum in Erfüllung zu gehen.

Paolo Bacigalupi ist von Haus aus kein Naturwissenschaftler wie etwa die SF-Autoren David Brin oder Gregory Benford, aber er ist intelligent und offen genug, Themen wie globale Erwärmung, BioTech und Energiekrise in wissenschaftlich korrekt fundierte und vor allem lesbare Literatur umzusetzen. Möglicherweise begründet er mit dem furiosen „Biokrieg“ mit seiner Art von „Hard SF“ einen neuen Trend in der SF, der eigentlich ein alter Trend ist. „Es gibt zurzeit in der SF einen starken Zug Richtung Nostalgie“, weiß Jeremy Lassen, Bacigalupis Redakteur bei „Night Shade Books“, „viele neue Titel orientieren sich an den alten Meistern. Paolo schreibt allerdings nicht nostalgisch verklärt. Er macht für das 21. Jahrhundert das, was die innovativsten Schriftsteller in den 60er und 70er Jahren taten, als sie die Science Fiction interessant und bedeutend machten.“

BiokriegDaten zum Buch:
Biokrieg
(The Windup Girl)

von Paolo Bacigalupi
ins Deutsche übertragen von Hannes Riffel und Dorothea Kallfass
Roman – Deutsche Erstausgabe
608 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-453-52757-7

Wilhelm Heyne Verlag München 2011 (Random House)

Quellen:
  • Windupstories.com (Homepage des Autors);
  • Alan Prendergast: Sci-fi phenom Paolo Bacigalupi has seen the future – and it’s scary as hell (in: Westword.com, eine Art Stadtmagazin von Denver).

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