SHUTTER ISLAND
Während ein Hurrikan aufzieht, kommen die Ermittlungen schnell voran. Doch als der Sturm immer intensiver wird, immer neue Verdächtigungen und Rätsel aufkommen, steigen mit jeder weiteren Enthüllung auch Spannung und Schrecken an. Hinweise und Gerüchte tauchen auf von dunklen Verschwörungen, von hässlichen medizinischen Experimenten, repressiver Bewusstseinskontrolle, geheimen Klinikstationen, vielleicht sogar von Spuren übernatürlicher Vorgänge, doch Beweise dafür gibt es nicht.
In den düsteren Schattenzonen einer Klinik, die wie ein Spuk nicht nur von den schrecklichen Taten ihrer gerissenen Patienten, sondern auch den undurchschaubaren Absichten ihrer nicht minder raffinierten Ärzte heimgesucht wird, spürt Teddy, dass er gezwungen sein wird, sich seinen tiefsten und schrecklichsten Ängsten zu stellen, je weiter er mit seinen Ermittlungen vordringt. Und es wird ihm bewusst, dass er die Insel vielleicht nicht mehr lebend verlassen wird.
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Kurz nach Fertigstellung seines Romans Mystic River schlug Dennis Lehane einen völlig anderen erzählerischen Kurs ein. Er ließ die düster-realistischen Arbeiterschauplätze in Boston, für die er bekannt war, hinter sich und entwickelte einen außerordentlich atmosphärischen, von purem Terror erfüllten psychologischen Schocker.
Das Ergebnis war Shutter Island, ein Roman, der die mysteriösen Elemente des Schauerromans mit Facetten von Verschwörungsthrillern und Horror vermischte, der im Stil von Edgar Allan Poe die Spannungsschraube immer stärker anzog.
Die Handlung des Buchs war auf vier quälend intensive Tage komprimiert. Schauplatz war das auf einer Insel gelegene Ashecliffe Hospital für psychisch gestörte Straftäter, das von einem tobenden Hurrikan der Stärke 5 heimgesucht wurde.
Die polizeiliche Ermittlung, um die sich das Buch drehte, war höchst ungewöhnlich. Denn sie fand völlig abgeschottet von der Außenwelt statt und führte dazu, dass es für die zwei einsamen Ermittler immer enger wurde, bis sich U.S. Marshal Teddy Daniels schließlich gezwungen sah, in einen Bereich vorzudringen, in dem der menschliche Verstand auf gefährliche Weise Amok lief, in dem es entsetzliche Geheimnisse und schreckliche Erinnerungen gab und die Wahrheit tief vergraben war.
Aufhänger des Buchs war das rätselhafte, unvorstellbare und unerklärliche Verschwinden einer Mörderin aus der von höchsten Sicherheitsvorkehrungen geschützten psychiatrischen Anstalt. Doch im Kern seines Labyrinths aus unheimlichen und überraschenden Wendungen sprach das Buch eine Vielzahl von Themen an, darunter das anhaltende Trauma des Zweiten Weltkriegs, das Potenzial des 20. Jahrhunderts für große Verschwörungstheorien, die Debatte über invasive psychiatrische Behandlungsmethoden, vor allem aber die außergewöhnliche Macht der Psyche, die sich trotz vieler wissenschaftlicher und juristischer Bemühungen letztlich doch jeder Kontrolle entzog.
Laeta Kalogridis, die mit Chris Brigham, Dennis Lehane, Gianni Nunnari und Louis Phillips auch zu den ausführenden Produzenten von "SHUTTER ISLAND" gehört, war von der Herausforderung begeistert, mit der üppig verwobenen Erzählstruktur von Lehanes Story arbeiten zu können. Einer Story, die sich durch Rückblicke, Halluzinationen und Fantasievorstellungen windet, die mit zeitlicher Chronologie genauso spielt wie mit der trügerischen Natur augenblicklicher Realität.
Von Beginn an dachte Fischer an Oscar-Preisträger Martin Scorsese. Auf gut Glück kontaktierten die Verantwortlichen von Phoenix Pictures den erfolgreichen, fast ständig mit neuen Projekten beschäftigten Regisseur, gingen davon aus, dass wenig Aussicht auf Erfolg bestand.
Doch ihr Timing hätte nicht besser sein können. Scorsese hatte nicht nur Zeit, sondern interessierte sich auch leidenschaftlich für den Stil und die Themen von "SHUTTER ISLAND".
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Scorseses Strategie für den Film war, die Noir-ähnlichen Oberflächenstrukturen von Kalogridis Drehbuch zu benutzen, um die tiefergehende Mikrodynamik und die psychologischen Machenschaften der Charaktere herauszuarbeiten. Er wollte üppige filmische Bilder mit verborgenen Emotionen verschmelzen, um den Zuschauer zusammen mit Teddy Daniels auf einen aufregend schmalen Grat zu locken. Von Produktionsbeginn an inspirierte Scorsese seine Darsteller und seine Crew mit nächtlichen Vorführungen von legendären und unbekannten Filmen, die die Themen und Stile berühren, die sich durch "SHUTTER ISLAND" ziehen.
Zu den ausgewählten Filmen Scorseses zählten unter anderem Otto Premingers LAURA (Laura, 1944), Jacques Tourneurs düsteres Noir-Doppelspiel GOLDENES GIFT (Out of the Past, 1947), Edward Dmytryks IM KREUZFEUER (Crossfire, 1947), ein Thriller über den Mord an einem jüdischen Soldaten nach dem Ende des 2.Weltkriegs, außerdem Nicholas Rays Polizeidrama ON DANGEROUS GROUND (On dangerous ground, 1952) und Karl Maldens Regiedebüt WENN MÄNNER ZERBRECHEN (Time Limit, 1957), ein psychologisch intensives Gerichtsdrama über einen amerikanischen Soldaten, der sich vor dem Kriegsgericht verantworten muss.
Zu den ausgewählten Werken zählte auch ein Dokumentarfilm, den Scorsese für unerlässlich hielt. Frederick Wisemans TTICUT FOLLIES(Titicut Follies, 1967), ein Film über die Behandlung von Patienten in einer psychiatrischen Anstalt für psychisch gestörte Straftäter.
Durch diesen Film, dessen Aufführung damals gerichtlich verboten worden war, erhielten Darsteller und Teammitglieder Einblick, wie Nervenheilanstalten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wirklich ausgesehen hatten, bevor Reformen zu einer Verbesserung der Bedingungen führten und Patientenrechte zur höchsten Priorität machten.
Das bei Bridgewater gelegene Massachusetts Correctional Institute for the Criminally Insane ist Schauplatz des Films, der schonungslos eine therapeutische Einrichtung porträtiert, in der sich Patienten splitternackt ausziehen mussten, mit Ketten an die Wände ihrer Zellen gefesselt und jeglicher menschlicher Würde beraubt wurden.
Die Auswirkungen dieses Films waren gewaltig. Schon kurz nach seiner Veröffentlichung war der Aufschrei der Öffentlichkeit so groß, dass gegen die Anstalt eine Sammelklage vorgebracht wurde. Diese zog eine Entwicklung nach sich, dass nun im ganzen Land ähnliche Anstalten auf Dauer anders geführt wurden.
Im Zentrum der Spannung und der wachsenden Furcht von "SHUTTER ISLAND" steht die erschütternde Erfahrung, die Teddy Daniels macht. Der abgebrühte Kriegsveteran und clevere U.S. Marshal soll in der Inselklinik das Verschwinden einer Mörderin untersuchen, gleitet dabei aber immer tiefer in einen Abgrund verwirrender Rätsel, unerbittlicher Angst und im Kopf herumspukender Erinnerungen hinein.
Als er bei seinen Ermittlungen auf immer neue Hindernisse stößt, hat Teddy guten Grund zu glauben, dass er manipuliert, beobachtet, vielleicht unter Drogen gesetzt und an die düsteren, unklaren Grenzen seines Verstands getrieben wird.
Für die Rolle dieser stark angespannten Figur, die schließlich in nur wenigen Tagen enträtselt wird, hatten die Filmemacher von Beginn an einen Schauspieler im Auge: LEONARDO DiCAPRIO, der bereits dreimal für den Oscar vorgeschlagen wurde. Scorsese unterstützte diese Darstellerwahl mit ganzem Herzen.
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Nach dem Lesen des Drehbuchs war auch DiCaprio von der Rolle überzeugt.
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Nachdem er die Rolle angenommen hatte, ließ sich DiCaprio von ihr inspirieren, eigene Recherchen zu beginnen. Er vertiefte sich in das spezielle Training, das die U.S. Marshals der fünfziger Jahre auf sich nehmen mussten, erforschte die Erfahrungen von Veteranen des Zweiten Weltkriegs, informierte sich über psychiatrische Techniken, die in dieser Zeit in Nervenheilanstalten zur Anwendung kamen.
Außerdem las er mehrmals Dennis Lehanes Roman. Schwerpunkt seiner Vorbereitung waren aber einige lange, den Dingen auf den Grund gehende Gespräche mit Scorsese.
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Chuck Aule, Teddys neuen Partner, verkörpert der Schauspieler MARK RUFFALO. Mit Rollen in Filmen wie Kenneth Lonergans "YOU CAN COUNT ON ME" (You Can Count on Me, 2000), Michel Gondrys "VERGISS MEIN NICHT!" (Eternal Sunshine of the Spotless Mind, 2004) und Michael Manns "COLLATERAL" (Collateral, 2004) hat sich Ruffalo als einer der vielseitigsten und faszinierendsten Darsteller profilieren können. Die Zusammenarbeit mit Scorsese und DiCaprio reizte auch Ruffalo, doch es war die unvorhersehbare Durchschlagskraft des Drehbuchs, die ihn wirklich packte.
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BEN KINGSLEY verkörpert den brillanten Dr. Cawley, der jeden Schritt von Teddy und Chuck psychoanalytisch hinterfragt, obwohl er selbst die beiden um Hilfe gebeten hatte, seine gefährliche vermisste Patientin aufzuspüren. Scorsese hatte schon lange gehofft, Kingsley einmal inszenieren zu können, und war begeistert, dass ihm die Rolle so lag.
Kingsley fühlte sich von der Geschichte angezogen, ganz besonders von dem verborgenen geheimen Auftrag, den seine Figur darin zu erfüllen hatte.
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Die Schlüsselrolle von Teddys Frau Dolores übernahm MICHELLE WILLIAMS, die für "BROKEBACK MOUNTAIN" (Brokeback Mountain, 2005) für einen Oscar nominiert worden war. Williams stürzte sich ohne Zögern auf diese ungewöhnliche Figur.
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Um Dolores psychologisch besser verstehen zu können, studierte Williams viele psychiatrische Abhandlungen über abnorme Störungen. Außerdem sah sie sich Dokumentationen an und unterhielt sich mit einer Reihe von Ärzten. Was Williams schließlich vor der Kamera durchmachte, war oft eine nasse Angelegenheit - Resultat von Überschwemmungen, die sie im Traum überfluteten.
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Dolores ist aber nicht die einzige Frau, die Teddy Daniels während seiner Reise zum Ashecliffe Hospital wie ein Spuk nicht mehr aus dem Kopf geht. Die zweite ist die gefährliche, psychisch gestörte Mörderin Rachel Solando, die mit ihrer unerklärlichen Flucht Teddy Daniels überhaupt erst auf die Insel holt. Rachel taucht in zwei Inkarnationen auf, die eine gespielt von PATRICIA CLARKSON, Oscar®-nominiert für ihre Rolle in PIECES OF APRIL - EIN TAG MIT APRIL BURNS (Pieces of April, 2003), die andere verkörpert von EMILY MORTIMER, einem nicht erst seit MATCH POINT (Match Point, 2005) aufstrebenden Star.
Patricia Clarkson war fasziniert von der Rolle, die ihre Figur im erzählerischen Gesamtkonzept der Geschichte spielt.
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Auch Emily Mortimer fand ihre Figur unwiderstehlich.
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Eine weitere Nebenfigur von großer Wirkung ist George Noyce, einer der Patienten von Shutter Island und ein mysteriöses Gesicht aus Teddys Vergangenheit. Diese Rolle übernahm JACKIE EARLE HALEY, auch er ein Schauspieler, an den Scorsese schon lange herantreten wollte.
Das Ensemble von routinierten und meisterlichen Schauspielern komplettiert der legendäre Charakterdarsteller MAX VON SYDOW. Er verkörpert Dr. Naehring, eine der stärker verdächtigen und bedrohlicheren Figuren von Ashecliffe.
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Die Geschichte von SHUTTER ISLAND spielt in einer schockierenden, makaberen Welt, die bisher kaum auf der Leinwand zu sehen war: in der Welt der psychiatrischen Einrichtungen der fünfziger Jahre, in einer Zeit, in der man kurz davor stand, die Behandlungsmethoden für Menschen mit extremsten und gefährlichsten psychischen Störungen zu revolutionieren.
Es war eine Zeit, in der die dunklen Tage von lagerähnlichen Anstalten gezählt waren, abgelöst von einer neuen Ära mit Gehirnoperationen von großer Durchschlagskraft und neurologischen Drogen.
Eine Zeit, in der einige Patienten noch in einem kafkaesken System gefangen waren, während bei anderen bereits innovative experimentelle Verfahren angewendet wurden, aus denen viele unserer heutigen Theorien über psychisch kranke Straftäter hervorgingen. Inmitten des verwickelten Mysteriums von SHUTTER ISLAND ermöglicht Martin Scorsese Einblicke, die in diese dunkle, faszinierende, lange versteckt gehaltene Welt hineinführen.
Nervenheilanstalten gibt es bereits seit dem Mittelalter, aber sogar davor zerbrachen sich Kulturen und Gesellschaften den Kopf, wie mit denen umzugehen war, die in ihrem Kopf zu gestört waren, um in der Welt außerhalb davon sicher leben zu können. Es wurde sogar von einigen behauptet, dass der Begriff Narrenschiff auf Schiffe hinwies, die als Frühformen psychiatrischer Anstalten mit geistig gestörten Menschen vor den Küsten kreuzten.
Europäische Nervenheilanstalten des 16. und 17. Jahrhunderts waren die Vorläufer für ähnliche Institutionen in den USA. Im Prinzip waren das Gefängnisse und keine Orte, in denen behandelt wurde. Dreckige Löcher, in denen die Patienten in Ketten gelegt, wie Tiere misshandelt, in völlige Unterwerfung geprügelt und unter grausamen Bedingungen weggesperrt wurden, oft bis zum Tod.
Das berüchtigtste Beispiel dafür war vielleicht die besonders grauenvolle Anstalt im Bethlehem Hospital von London, verkürzt bald unter dem Namen Bedlam Hospital bekannt, aus dem wiederum das Wort bedlam (Tollhaus) entstand.
Das Bedlam Hospital öffnete seine Türen für Besucher, die für einen Penny nun die angeketteten Gefangenen beobachten, stoßen und zu bizarren Reaktionen treiben konnten. Weil die Insassen von der Gesellschaft als dienstbare Instrumente des Teufels angesehen wurden, hatte man wenig Mitgefühl für ihren schrecklichen Zustand.
Im Gegensatz dazu, und das ist faszinierend, gab es im mittelalterlichen Persien bereits relativ aufgeklärt arbeitende Anstalten. Hier begann man, beruhigende Bäder, Musiktherapie und frühe Formen von Gesprächstherapie anzuwenden, um zu versuchen, Patienten ins Alltagsleben zurückzuführen.
1792 wagte es eine Anstalt in Paris erstmals, Patienten von ihren Ketten zu befreien und die fensterlose, einem Verlies ähnelnde Einrichtung zu einer sonnenbestrahlten Zuflucht zu verwandeln. Die Verantwortlichen wurden in ihrem Handeln bestärkt, als sich einige Patienten tatsächlich erholten, was man zuvor für unmöglich gehalten hatte.
Das war der Beginn der langsam heraufdämmernden Ära der Neuen Behandlungsmethoden, in der man sich mit größerem Nachdruck um Heilung bemühte, wenngleich manchmal mit extremen und brutalen Methoden. Was unglücklicherweise anfangs aus dieser Ära hervorging, war ein entsetzliches Vermächtnis experimenteller Behandlungsmethoden.
Das Spektrum umfasste das Herumschleudern von Patienten in speziellen Stühlen und mit hoher Umdrehungszahl, um ihre Nerven zu beruhigen, aber auch tatsächliches Foltern, um sie wieder zu Verstand zu bringen. Damit wurde der üble Ruf dieser Anstalten als Orte puren Horrors, aus denen nur wenige wieder ins normale Leben zurückkehrten, weiter besiegelt.
Im Laufe der nächsten 150 Jahre blieben die Anstalten der westlichen Welt Orte, die von Furcht und Ekel erfüllt waren. Die erste Einrichtung in den kurz vor der Unabhängigkeit stehenden Vereinigten Staaten von Amerika gründete Benjamin Rush 1769 in Williamsburg, Virginia. Sie blieb für die folgenden 50 Jahre die einzige Einrichtung dieser Art im Land. In dieser Zeit landeten die meisten psychisch Kranken in Armenhäusern oder Gefängnissen.
Doch mit einem 1827 erlassenen Gesetz, dem Act Concerning Lunatics, wurde die Zwangsunterbringung geistesgestörter Menschen in Gefängnissen verboten, entstanden im ganzen Land einige Anstalten. Obwohl es einige fortschrittliche Ausnahmen gab, vor allem die Anstalten der Quäker in Philadelphia, Boston und New York, handelte es sich immer noch um Einrichtungen, die nach heutigem Standard wenig einladend waren. Patienten wurden in Zwangsjacken gesteckt, um ihnen beizubringen, wie ihre Verhaltensauffälligkeiten zu zügeln waren. Sogar Aderlässe und Darmspülungen wurden durchgeführt all das gehörte zu den üblichen Behandlungsmethoden.
Damals entstand auch eine neue Untergruppe bei psychisch Kranken. Man unterschied nun Menschen, die von Geisteskrankheit zu schrecklichen Verbrechen getrieben wurden. 1859 wurde in New York die erste Einrichtung für solche Patienten gegründet: das State Lunatic Asylum for Criminal Convicts.
Am Ende des Ersten Weltkriegs, als Folge von Freuds revolutionären Theorien und der Kriegstraumata, an denen Tausende Soldaten litten, begann man, Verbesserungen an diesen Einrichtungen vorzunehmen. Die Behandlungsmethoden selbst aber blieben auf schockierende Weise brutal. Dr. Henry A. Cotton beispielsweise, Leiter des New Jersey State Lunatic Asylum, führte in den Zwanzigerjahren erstmals eine Reihe von vermeintlich therapeutischen Operationen durch. Er entfernte Zähne, Mandeln, Gedärme und Sexualorgane, von denen man glaubte, hier gäbe es Entzündungen, die Geisteskrankheiten auslösten.
In den Dreißigerjahren begann Dr. Egas Moniz, ein portugiesischer Neurologe, mit einer neuen Behandlungsmethode zu experimentieren, die als präfontale Lobotomie zum Begriff wurde. Hierbei handelte es sich um einen radikalen chirurgischen Eingriff, der in dem Teil des Gehirns, in dem man das Gefühlszentrum vermutete, Nervenfasern durchtrennte. Tatsächlich beruhigte diese Behandlung Patienten mit schizophrenen Störungen und hartnäckigen Psychosen, doch die Persönlichkeit der Patienten nahm dabei schweren Schaden. Für die Entdeckung dieser Behandlungsmethode erhielt Moniz schließlich den Nobelpreis.
In den Vierzigerjahren hatte die Lobotomie ein neues Zeitalter in der Psychiatrie eingeleitet, in der nun größere Aufmerksamkeit auf die Physiologie des Gehirns und Methoden, diese zu verändern, gerichtet wurde. 40.000 Amerikaner, eine erstaunlich hohe Zahl, unterzogen sich diesem lebensverändernden Eingriff. Einige von ihnen litten an Kurzzeitdepressionen, waren geistig zurückgeblieben oder hatten schlicht ein rebellisches Wesen.
Auch andere extreme Behandlungsmethoden kamen in Mode. So etwa Komata, die von Insulininjektionen ausgelöst wurden, und die Elektrokonvulsive Therapie, die auch als Elektroschocktherapie bekannt ist. Glücklicherweise wurden bis zum Ende des Jahrzehnts neue wirkungsvolle Neuroleptika entwickelt, darunter Antidepressiva und Antipsychotika. Sie versprachen menschenwürdigere, trotzdem kontroverse Behandlungsmethoden zur Kontrolle des aus der Balance geratenen Verstands.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden erstmals spezielle Einrichtungen gegründet, um Patienten zu behandeln, die an Kriegstraumata litten. Auch diese führten zu komplexeren und verfeinerten Behandlungsmethoden. Währenddessen erwarben sich osteuropäische Nervenheilanstalten in der Ära des gerade aufgezogenen Eisernen Vorhangs einen noch düsteren Ruf. Sie galten als Orte, an denen Dissidenten und politische Gefangene brutalst bestraft wurden, an denen Experimente zur Bewusstseinskontrolle viele, die ursprünglich geistig gesund, aber politisch ungehorsam waren, in den Wahnsinn trieben.
Genau in dieser Zeit ist die Geschichte von SHUTTER ISLAND angesiedelt am Höhepunkt der psychiatrischen Experimente der Fünfzigerjahre und kurz vor den Reformen der Sechzigerjahre, die zur Schließung vieler staatlicher Nervenheilanstalten führen würden.
Um sicherzustellen, dass der Film die psychiatrischen Leitgedanken und Behandlungsmethoden dieser Ära auch authentisch zeigen würde, verpflichtete Scorsese einen speziellen Berater: Dr. James Gilligan. Er hatte in den Siebzigerjahren in Massachusetts das Bridgewater State Hospital, eine Anstalt für psychisch gestörte Straftäter, geleitet.
Das Bundesgericht hatte damals den Bundesstaat Massachusetts veranlasst, es Mitgliedern der Fakultät der Harvard Medical School unter der Leitung von Dr. Gilligan zu ermöglichen, Behandlungsprogramme für Bridgewater zu entwickeln. Damit sollte dort die Versorgung psychisch kranker Patienten verbessert werden. Seitdem gehörte Dr. Gilligan zu den treibenden Kräften in der Reformierung von Einrichtungen für psychisch Kranke wie auch von Strafanstalten und das nicht nur in Amerika, sondern weltweit.
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Weil er selbst eine tragende Rolle dabei gespielt hatte, die Praxis in der Betreuung von psychisch Kranken im Bundesstaat Massachusetts zu verändern, war Gilligan von der Thematik von SHUTTER ISLAND besonders begeistert - wie auch von Scorseses Entschlossenheit, der fiktiven Anstalt des Films Authentizität zu verleihen.
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Sobald die U.S. Marshals Teddy Daniels und Chuck Aule auf Shutter Island eintreffen, drängt sich ihnen eine unübersehbar schaurige Atmosphäre auf, die den Terror und die Angst, die sie in ihrem Innersten spüren, spiegelt. Als katastrophale Wetterbedingungen, heulende Winde und strömender Regen ihre Ermittlungen noch dringlicher machen, werden sie mit einem Ort konfrontiert, der mit imposanten Backsteingebäuden, langgestreckten Korridoren, klaustrophobischen Zellen und einer felsigen, von Wasser durchtränkten Umgebung für Desorientierung sorgt.
Um mit realen Schauplätzen diese absolut impressionistische Welt erzeugen zu können, musste die Ausstattungscrew für Martin Scorsese außergewöhnlich detaillierte Designarbeit leisten. Für diese Aufgabe engagierte der Regisseur viele, ihm loyal verbundene Kreativkräfte, mit denen er schon lange zusammenarbeitete. Darunter auch das preisgekrönte Quartett aus Kameramann Robert Richardson, Produktionsdesigner Dante Ferretti, Kostümdesignerin Sandy Powell und Cutterin Thelma Schoonmaker.
Robert Richardson, regelmäßiger Mitarbeiter Scorseses und Oscar-Preisträger für AVIATOR (The Aviator, 2004) und Oliver Stones JFK - John F. Kennedy Tatort Dallas (JFK, 1991), fiel die Aufgabe zu, das ganze Spektrum an visuellen Stimmungen, das man für den Film brauchte, zu evozieren: von geheimnisvoll und verwirrend bis hin zu wütend und panisch und das physisch wie auch psychologisch. Richardson setzte die Kamera kreativ, geschmeidig und expressionistisch ein. Damit wollte er ein Gefühl erzeugen, als würde man sich durch einen spiralförmigen Nebel aus unbeantworteten Fragen und nachhaltiger Verunsicherung bewegen.
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Nach langen Gesprächen über Referenzfilme, über die Struktur des Films und seine Charaktere, begab sich Scorsese mit Ferretti und Richardson auf Scoutingtour, um einen geeigneten Schauplatz für Shutter Island zu finden. Wichtig waren dabei nicht nur die richtigen logistischen Voraussetzungen, sondern auch die richtige Atmosphäre.
Mehrere Locations an der Ostküste wurden in Erwägung gezogen, aber schließlich zog es die Filmemacher an die ländlichen, felsigen Küsten von Peddocks Island. Diese weniger als 160 Kilometer vor Boston liegende Insel war vor der Ankunft europäischer Siedler von Indianern bewohnt und wurde seit Mitte des 16.Jahrhunderts von Farmern landwirtschaftlich genutzt.
Ähnlich wichtig war auch die Suche nach einer Klinik oder Anstalt, mit der man das Ashecliffe Hospital für psychisch kranke Straftäter, diesen beeindruckenden, beunruhigenden Gebäudekomplex, auf die Leinwand bringen konnte. Diese Suche führte die Filmemacher auf einen faszinierenden Trip durch die Geschichte der Nervenheilanstalten.
Es stellte sich heraus, dass unsere Vorstellungen davon, wie eine psychiatrische Anstalt aussieht - Backsteingotik, flügelartige Turmspitzen und ausufernde Rasenflächen - dass all das auf die ambitionierten Entwürfe von Thomas Story Kirkbride zurückging, auf einen Arzt, der im 19.Jahrhundert an der amerikanischen Ostküste lebte und arbeitete. Auf der Grundlage seiner später als Kirkbride Plan bekannten Entwürfe half dieser Arzt beim Aufbau einiger psychiatrischer Anstalten in den USA.
Kirkbride hatte die Idee, Kathedralen-ähnliche Zufluchtsorte für Menschen mit psychischen Störungen zu entwerfen, um ihnen eine friedvolle, elegante, moralisch geordnete Welt zu geben, an der sie sich vorbildhaft ausrichten und orientieren konnten. Unglücklicherweise fehlte es vielen dieser Anstalten am Ende an Geld, waren sie meist auch überbelegt. In der Folge kam es zu Vernachlässigung und Verfall, wurde die riesigen Hallen zu unheimlichen Orten.
Einige Anstalten wurden nach dem Kirkbride Plan in Massachusetts errichtet, doch sie sind heute in Eigentumswohnungen umgewandelt oder absolut baufällig. Trotzdem fanden die Filmemacher eine Anstalt, die geeignet schien: das Medfield State Hospital in Medfield, Massachusetts, das seit den Sechzigerjahren geschlossen und nie renoviert worden war. Obwohl diese Klinik nicht von Kirkbride entworfen wurde, findet man dort eine ähnliche Ansammlung von zweistöckigen Backsteinbauten, umgeben von großzügig angelegten Grünanlagen. Es war der klassische Anstalts-Look, der als Grundgerüst für die Entwürfe von Ferretti tauglich war.
Diese Gebäude aber auch bewohnbar zu machen, war erst nach intensiver Vorarbeit möglich. Ferretti benutzte Kirkbrides Entwürfe als Richtschnur für seine Kreation, die auf beunruhigende Weise wie der Inbegriff einer psychiatrischen Anstalt der Fünfzigerjahre aussah. Lange vor Beginn der Dreharbeiten in Medfield präsentierte Ferretti Scorsese und Richardson ein komplettes dreidimensionales Modell vom Ashecliffe-Gelände. Dadurch wurde es beiden ermöglicht, Szenen vorab präzise zu arrangieren, Schauspieler für jede Kamerabewegung zu positionieren. Noch evokativer aber als das Modell war der reale Schauplatz.
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Als architektonisches Double für den beeindruckenden herrschaftlichen Wohnsitz des Anstaltsleiters von Ashecliffe, den ein Großteil des Personals und der Patienten nicht betreten darf, musste der Turner Hill Golf Club in Ipswich, Massachusetts, ein Areal voller gotischer Elemente, herhalten.
Hier, im fürstlichen, holzverkleideten Wohnzimmer des herrschaftlichen Hauses, das von einem riesigen offenen Kamin dominiert wurde, inszenierte Scorsese die feindseligen Begegnungen von Teddy und Chuck sowie von Dr. Cawley und Dr. Naehring.
Darüber hinaus wurde die Zelle, aus der Rachel Solando barfuß und auf geheimnisvolle Weise verschwindet, in einem Lagerhaus in Medfield aufgebaut. Später verwandelte Ferretti eine verlassene Textilfabrik in Taunton, Massachusetts in einen Teilbereich des Dachauer Konzentrationslagers. Dort, umgeben von Stacheldraht, eingezäuntem Gelände und einem heruntergekommenen Eisenbahnwaggon, wird Teddy Daniels als junger Soldat grundlegend mit der Zerstörungskraft des Menschen konfrontiert.
Im späteren Produktionsverlauf sorgten Visual Effects Supervisor Rob Legato, Mitglied der Crew von AVIATOR (The Aviator, 2004) und Oscar-gekrönt für "TITANIC" (Titanic, 1997) und "APOLLO 13" (Apollo 13, 1995), sowie Visual Effects Producer/Post Production Supervisor Ron Ames, der schon bei "DEPARTED - UNTER FEINDEN" (The Departed, 2006) zu Scorseses Team gehörte, für weiteren Zauber.Das Duo streute dramatische Wolkenformationen in sonnigere Aufnahmen ein, intensivierte die Grautöne des Films mit digitalen Nuancen.
Auch Sandy Powell, mit der Scorsese ebenfalls schon mehrere Male zusammengearbeitet hatte, leistete ihren Beitrag zum tiefgehenden Detailreichtum der allumfassenden Welt von SHUTTER ISLAND". Die Kostümdesignerin, Oscar®-gekrönt für Scorseses AVIATOR (The Aviator, 2004) und John Maddens "SHAKESPEARE IN LOVE" (hakespeare in Love, 1998), hat Kostüme für viele Epochen und Lebensstile entworfen, doch eine Nervenheilanstalt aus den Fünfzigerjahren war für sie eine völlig unbekannte und ungewöhnliche Welt. Ihre Arbeit begann mit ausführlichen Gesprächen, die sie mit Scorsese über die Charaktere führte.
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Bemüht um Authentizität, suchte Powell einige Originalkleidungsstücke aus der Zeit zusammen, doch die meisten Kostüme entwarf sie selbst.
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DIE BESETZUNG
KINOSTART: 25. Februar 2010
Concorde Filmverleih