Der polnische ›Poe‹ - »Szamotas Geliebte« von Stefan Grabinski
Der polnische ›Poe‹
»Szamotas Geliebte« von Stefan Grabinski
Zumindes bis vor sechs Tagen, denn da hat Jerzy einen persönlichen Brief von seiner Angebeteten Jadwiga Kalergis erhalten, in dem sie ihm mitteilt, das sie nicht nur zurückkehrt, sondern ihn auch an einem bestimmten Tag der Woche um 18 Uhr in ihrer Villa begrüßen möchte.
Jerzy macht es zwar etwas stutzig, woher seine Jadwiga überhaupt weiß, das er immer, aber eben heimlich in sie verliebt war. Doch, nun ist er im Glauben, das ihr seine Liebe irgendwann sehr wohl aufgefallen sein muss, auch wenn er sich ihr nicht wirklich zu offenbaren getraut hatte. Schließlich, so erinnert er sich auch, hätte Jadwiga mit ihrer Jugend und Schönheit eigentlich jeden Mann haben können. Doch durch ihren Bief ist Jerzy nun auf geradezu unheimliche Weise in der Gewissheit, das sie wohl schon früher füreinander bestimmt gewesen sein müssen.
Zumindest ist Jerzy so aus dem Häuschen, das er sie sogar vorher vom Zug abholen will. Jedoch kann er sie am besagten Tag ihrer Rückkehr unter den Fahrgästen des Zuges nicht entdecken. Und auch die Nachbarn, die gleich neben der Villa wohnen, haben bisher kein Lebenszeichen von ihr entdecken können. Als Jerzy jedoch am besagten Tag um 18 Uhr an der Gartenpforte der Villa ankommt, ist das Tor wirklich wie im Brief beschrieben, für ihn geöffnet.
Als er dann endlich seine junge und immer noch sehr hübsche Geliebte in die Arme nehmen kann, gleiten sie auch bald in einen wahren Rausch der Sinne. Doch am Morgen fühlt sich Jerzy wie gerädert, während Jadwiga wie vom Erdboden verschwunden zu sein scheint. Seltsam ist ihm aber auch am Abend ein Schild an der Wand vorgekommen, welcher das Haupt der Medusa trägt und dessen Anblick ihn gar kurzzeitig schwindeln ließ. Aber auch das Jadwiga trotz seiner vielen Fragen kein einziges Wort gesprochen hat, kommt Jerzy nachträglich dann doch etwas seltsam vor.
In den zukünftigen Wochen und Monaten kann Jerzy seine geliebte Jadwiga immer nur an den Samstagen am Abend in ihrer Villa sehen und lieben. Doch die Sache wird mit der Zeit auch immer seltsamer. So spricht sie nie auch nur ein Wort, dafür scheint sie sich im Licht immer mehr vor ihm zu verschleiern, bis sie dann bald völlig das offene Licht meidet. Auch scheinen ihre Muttermale am Körper genau die gleichen zu sein, welche auch Jerzy an genau den gleichen Stellen am Körper trägt.
In der letzten Liebesnacht gelingt es Jerzy allerdings beherzt das Licht anzumachen, wobei ihm vor Panik wohl das Herz kurzzeitig aussetzt. Denn statt einer vollständigen Frau liegt dort vor ihm plötzlich nur ein völlig entblößter, aber scheinbar lebender weiblicher Rumpf ohne Kopf oder Beine. Dem grausamen Anblick von Jadwiga geschuldet, rennt Jerzy schreiend aus der Villa ohne noch einmal zu dieser offensichtlichen Kreatur des Schreckens, welche einmal die liebliche Jadwiga war, zurückzukehren.
Nach seiner Flucht jedoch fand man ihn bewusstlos am Morgen auf einer Gartenbank liegend. Aber auch das Grauen, dem er sich an diesem Abend gegenübersah, scheint Jerzys Körper scheinbar nun viele Jahre seines Lebens gekostet und ihn so auch völlig geschwächt zu haben, gerade so, als wäre er nun im Körper eines alten, gebrechlichen Mannes. Als er dann aber doch nach rund zwei Monaten wieder an der besagten Villa von Jadwiga vorbei kommt, fallen ihm ungewöhnlicher Weise fremde Arbeiter im Garten auf. Als dann auch noch aus der Villa ein gut gekleideter Mann herauskommt, entschließt sich Jerzy doch diesen zumindest nach Jadwiga zu fragen.
Mit Entsetzen erfährt er nun jedoch von diesem, das er und seine Familie die Erben der Villa seien, da die besagte Jadwiga Kalergis, die früher hier gelebt hatte, vor zwei Jahren und kurz nachdem sie damals ins Ausland gereist war, bereits in den Alpen bei einem Unglück verstorben ist. Stefan Grabinski - der polinsche Edgar Allan Poe:
Der Autor Stefan Grabinski wurde am 26. Februar 1887 in Kamionka Strumilowa geboren, was heute jedoch zum Staatsgebiet der Ukraine gehört. Bekannt wurde der Autor durch seine Liebe zur Horrorliteratur, was ihm auch damals die Bezeichung als der "polnische Edgar Allan Poe" einbrachte.
Seine insgesamt vier Romane und einige Sammlungen von Kurzgeschichten schafften es allerdings nur selten als Übersetzung auf den deutschen Buchmarkt. Hierzu gehören als Beispiel der Roman DER SCHATTEN DES SATANS, welcher übrigens auch in Großbritannien unter dem Titel SHADOW OF BAPHOMET erschienen ist. Jedoch kam dieser Roman, welcher im Jahr 1989 in Deutschland verlegt wurde wohl kaum wirklich in die Hände einer breiten Leserschaft in Westdeutschland. Denn der Roman erschien im Verlag Volk und Welt (Berlin - Deutsche Demokratische Republik/DDR). Hier deshalb mal die eher recht wenigen Veröffentlichungen von Stefan Grabinski aus dem Verlag Volk und Welt:
Aber auch der Insel Verlag sowie später direkt der Suhrkamp Verlag, zu dem heute auch der 1899 gegründete Insel Verlag gehört, gab 1971 eine gebundene Ausgabe der Sammlung von Kurzgeschichten unter dem Titel DAS ABSTELLGLEIS heraus, welches gebraucht auch heute noch relativ günstig (ab 7,79 Euro) zu erwerben ist. Es sei denn, man möchte diese gebundene Ausgabe möglichst im neuwertigen Zustand für die eigene Buchsammlung erstehen, dann muss man mal eben locker wohl 1.055,10 Euro auf den Tisch blättern. Amazon listet hier jedenfalls insgesamt zu diesem Zeitpunkt, wo ich diesen Artikel für den ZAUBERSPIEGEL verfasse, gerade zwei neuwertige Exemplare von DAS ABSTELLGLEIS von Stefan Grabinski seitens des Insel Verlag zum Verkauf auf.Es geht über den Verlag Suhrkamp aber wohl auch bei gebrauchten Taschenbüchern wohl noch irgendwie ein wenig billiger, denn der Verlag hatte damals insgesamt zwei Sammlungen in der eigenen Reihe der "Phantastischen Bibliothek" von Stefan Grabinski herausgegeben. Darunter auch eben wieder die Sammlung DAS ABSTELLGLEIS:
Die mir nun vorliegende Kurzgeschichte SZAMOTAS GELIEBTE stammt übrigens aus dem zweiten Band der Horror-Sammlung (verschiedene Autoren) NECROPHOBIA - MEISTER DER ANGST ("Die graue Madonna und andere Horrorgeschichten") aus dem Festa Verlag (1. Auflage 2008/Herausgeber Frank Festa).
Grabinskis eigentliche beruflische Laufbahn absolvierte er als Leher in Lemberg (Lwiwi) sowie in Przemysl und wurde erst durch seine Sammlung DEMON RUCHU bekannt, in der sich seine Kurzgeschichten rund um das zentrale Bindeglied "Eisenbahn" drehten. Stefan Grabinski selbst verstarb im Jahre 1936 an der bakteriellen Infektionskrankheit Tuberkulose und wurde auf dem Janiwskyj-Friedhof in Lwiw bestattet.
Einem wirklich breiten Kreis von Leserinnen und Lesern des Genre wurde Stefan Grabinski so in Deutschland (auch damals zu Zeiten von BRD und DDR) jedenfalls nicht bekannt. Einer der sich allerdings mit seinen schaurigen Kurzgeschichten nicht nur als Leser befasst hatte, ist indessen der deutsche Filmregisseur, Produzent und Schauspieler Holger Mandel (geboren am 15. Juli 1966 in Berlin).
Mandel setzte hierbei im Jahre 1998 eben die oben behandelte Kurzgeschichte SZAMOTAS GELIEBTE als 35-mm-Kurzfilm um, wobei die filmische Umsetzung der Novelle gefördert wurde durch das Kuratorium junger deutscher Film und die Filmboard Berlin-Brandenburg. Eine weitere filmische Umsetzung durch Mandel als 35-mm-Kurzfilm erfuhr dann auch eine weitere Novelle von Stefan Grabinski mit dem Titel ULTIMA THULE im Jahre 1999.Mein Fazit:
Wer den klassischen Horror liebt, den man eben bereits seitens Edgar Allan Poe, aber auch H.P. Lovecraft gepflegt hatte, der dürfte wohl auch bei Stefan Grabinski Werken wohl recht gerne zugreifen. Nur leider muss man hinsichtlich schon seiner recht wenigen, für Deutschland übersetzten Veröffentlichungen, mit einer großen Lupe auf die Suche gehen.
Eigentlich schade, denn schon bei der Kurzgeschichte SZAMOTAS GELIEBTE fühlt man sich schon nach wenigen Sätzen in eine Vergangenheit versetzt, die zwar durchaus einmal Realität war, allerdings heute von uns kaum noch nachvollzogen werden kann, was z.B. die völlig überholten zwischenmenschlichen Umgangsformen oder sozialen Verhältnisse betrifft. Dabei kommt einem diese Novelle durchaus einige Seiten (Seitenanzahl dieser Novelle im zweiten Band von NECROPHOBIA ab Seite 43 bis Seite 60) zu Anfang zuerst kaum wie eine Horrorgeschichte vor. Vielmehr schmunzelt man sich durch die Seiten, wenn man erfährt, wie Jerzy Szamota über den Ablauf seiner heimlichen Liebe zu Jadwiga Kalergis rückblickend sinniert. Man hat dabei fast das Gefühl, als könnte man sehen, wie er selbst bei seinen Erinnerungen noch vor Scham erötet wie ein Feuermelder. Und auch mir als Leser kam es so erst einmal nicht wirklich merkwürdig vor, das die heimlich von ihm angehimmelte junge Dame plötzlich genau diesem jungen Mann einen recht kurzen aber eben auch sehr persönlichen Brief schreibt, wo sie doch vorher bis einschließlich dem Zeitpunkt ihrer Abreise ins Ausland, eigentlich nie ein Wort gewechselt hatten.
Der Schrecken kommt hier indessen eher langsam, ja fasst schleichend daher und steigert sich in den Schilderungen durch Jerzy dann immer mehr, wobei für ihn sich erst einmal nur immer neue und ungewöhnliche Ereignisse und Situationen mit der seltsamen jungen Frau einstellen. Denn so wirklich zieht er ja erst den offensichtlichen Schrecken aus den Schatten hervor, als es ihm gelingt, ganz plötzlich das Licht im Raum einzuschalten.
Grabinski bedient hier faktisch erst in recht kleinen, dann aber sich immer mehr steigernden Dosen das subtile Grauen. Dabei bekommt die Leserschaft am Ende - ähnlich wie bei H.P. Lovecraft - auch keine umfassende Erklärung dazu, was unserem armen Verliebten da wirklich passiert ist. Zwar könnte im Grunde Jadwiga wohl eine Art Geist gewesen sein, da sie ja längst bei einem Unfall im Ausland ums Leben gekommen war und so auch nicht lebend zurückkehren konnte. Nur zeigt sie durchaus nicht wenige Verhaltensweisen, die eigentlich so gar nicht zu einem Geist passen wollen, wie man ihn sich eben üblicherweise vorstellt. So könnte es auch ein dämonisches Wesen gewesen sein, was wiederum auch erklären könnte, das sie über die wahren Gefühle von Jerzy gegenüber der damals noch lebenden Jadwiga so genau informiert scheint. Auch stellt sich die Frage, warum sie sich immer mehr zu verändern scheint, weshalb sie im Licht auch bald versuchte, sich vor Jerzy immer mehr zu verschleiern. Und was hatte dies wiederum mit den besonderen Merkmalen an Jerzys Körper (die Muttermale usw.) zu tun, die er dann auch genau so bei ihr feststellte? Und zum guten Schluss bleibt dann auch noch die Frage, welchen tieferen Sinn, bzw. welche seltsamen Auswirkungen der Schild mit dem Kopf der Medusa an der Wand auf Jerzy hatte.
Man sieht also, der Fan des eher geheimnisvollen Grauens hat hier am Ende der Novelle noch genug zu kauen, damit es ihm nach der letzten Seite der Novelle nicht gleich langweilig wird. Denn der subtile Horror lebt eben nicht wirklich davon, im finalen Teil ein gut in alle Richtungen poliertes Ende zu präsentieren. Ein wirklich guter subtiler Horror entlässt seine Leser viel mehr mit dem einen oder anderen unerklärlichen Element, welches den Schrecken selbst auch nach der letzten Seite noch beim Leser bewusst nachwirken lässt. Und diese Karte schien Stefan Grabinski offensichtlich recht gut in seinen schaurigen Werken auszuspielen.
Szamotas Geliebte