Norbert Off Topic - Folge 9: Die geheimen Tagebücher der Anne Lister
Folge 9:
Die geheimen Tagebücher der Anne Lister
Die geheimen Tagebücher der Anne Lister (The Secret Diaries of Miss Anne Lister)
Die Kunst der Fotografie. Regisseur James Kent hatte bis zu diesem Film im Jahre 2010 fast nur Dokumentationen für das britische Fernsehen gedreht. So ist es nicht verwunderlich, dass er für seinen TV-Film einen dokumentarischen Stoff wählte. Anders als bei Spielfilmen richtet man bei der Aufarbeitung realer Geschehnisse sein Augenmerk stark auf Bilder, die dem Zuschauer Ort, Zeit und Ereignisse anschaulich näher bringen. Die Verfilmung eines Lebensabschnitts von Anne Lister, basierend auf ihren extrem umfangreichen Tagebüchern, war und ist ein Wagnis, denn die Frau war außergewöhnlich, der Stoff skandalträchtig.
Seit dem Jahr 1806, da Anne in einem Internat verweilte, bis zu ihrem Tod 1840, führte sie explizit Tagebuch über ihr Leben. Tägliche Eintragungen und Beschreibungen liefern heute ein umfangreiches Bild über das Leben und die Gesellschaft jener Zeit. Insgesamt umfassen ihre Aufzeichnungen mehr als vier Millionen Wörter, von denen ein nicht unerheblicher Anteil in Geheimschrift verfasst wurde. Obgleich diese recht simpel anmutet (sie war eine Mischung aus griechischem Alphabet und Algebra), gelang es erst in den 1980er Jahren diese vollständig zu entschlüsseln. Im Wesentlichen hielt sie damit ihre lesbische Neigung verborgen. Die Darstellung der Liebesakte mit anderen Frauen wurde darin in geradezu extremer Deutlichkeit beschrieben.
Der Film konzentriert sich hauptsächlich auf die Liebesbeziehung zu Marianna Belcombe. Die innige Liebe der beiden droht zu brechen, als Marianna den deutlich älteren Charles Lawton heiratet und fort zieht. Über ein Jahr lang hören sie nichts voneinander. Anne sucht sich eine neue Geliebte, doch damit kann sie den Verlust nicht vertreiben. Als sie und Marianna sich dann wiedersehen beginnen sie eine heimliche Affäre. Sie treffen sich an verborgenen Orten. Da Lawton um so Vieles älter ist hoffen sie auf sein baldiges Dahinscheiden und damit nicht nur auf Reichtum sondern eine ungehinderte Beziehung. Nach und nach kommen Anne jedoch Zweifel. Lawton, zwar gesundheitlich angeschlagen, scheint ewig zu leben und Marianna sonnt sich in der gehobenen Welt. So kommt es zum Zerwürfnis. Anne beginnt sich mit der Geschäftswelt anzufreunden und bringt eine Frau namens Ann Walker, die jung, alleinstehend und vermögend ist, dazu, mit ihr in den Abbau von Kohle zu investieren. Die Beiden kommen einander auch emotional näher und Ann zieht zu Anne auf das Anwesen Shibden Hall. Das Geschäft läuft erfolgreich und bald weiten die Frauen ihre Aktivitäten aus. Bei einem Besuch weist Anne ihre ehemalige Liebe Marianna ab, denn in Ann hat sie nun ihre Erfüllung gefunden.
Hier endet der Film. Vielleicht wäre er zu lang und komplex geworden, hätte er den kirchlichen Bund noch mit eingearbeitet, den die beiden Frauen im Jahre 1834 eingingen. Es war keine Trauung im eigentlichen Sinne, auch wenn sie es so sahen, aber es war ein der Ehe ähnliches Bündnis. So gilt diese Zeremonie heute als die erste Eheschließung eines lesbischen Paares.
Ich möchte hier einmal vorweg schicken, dass der Film sich schnell zu einem meiner absoluten Lieblingsfilme entwickelt hat, seit ich ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal sah. Er besitzt eine tiefe emotionale Ausstrahlung, getragen von sehr glaubwürdigen Darstellern. Unterstützt wird dieses von einer filmischen Arbeit, die der Atmosphäre jederzeit Rechnung trägt. Faszinierende, manchmal betörend schöne Bilder, die in Farbgebung, Ausleuchtung und Kamerahaltung berauschend sein können. Man wird hier nicht zum Voyeur einer Handlung, die zur Zeit des frühen 19. Jahrhunderts als verachtenswürdig betrachtet wurde, sondern man nimmt Teil an der persönlichen Entwicklung der Charaktere, die zunächst im Verborgenen und später in immer deutlicher werdenden Handlungen ihr Recht suchen.
Die Ablehnung der Gesellschaft isoliert die Frauen mit der Zeit, doch ob ihrer Offenheit gibt es bald keine Gründe mehr, gegen sie und ihre "Abartigkeit" vorzugehen. Konkurrenten versuchen die Neigung der Frauen als negativen Aspekt für sich zu nutzen, doch da sie ihnen in geschäftlichen Belangen unterlegen sind verpuffen diese Angriffe bald.
Anne Lister war eine hoch intelligente Frau, die sich schon dadurch behaupten konnte, weil sie stets mit männlichen Attitüden auftrat. Sie trug dunkle Kleidung, ließ sich außerhalb nie mit ausgelassenem Haar sehen und besaß eine kontrollierte tiefe Stimme. So erhielt sie von Verehrern wie Gegnern den Spitznamen "Gentleman Jack". Ihre Ansichten pflegte sie selbst in unangenehmen Situationen standhaft durchzusetzen und errang dadurch den nötigen Respekt, der ihr selbst von den Gegnern entgegen gebracht wurde. Sie brachte sich Alles selber bei. Schon im Internat wurde sie dadurch auffällig, dass sie den Lehrern selten Gehör schenkte, sich dennoch ein Wissen aneignete, das den Lehrstoffen weit über war. Sie bevorzugte das Selbststudium, las eine Unzahl von Büchern über jene Themen, die sie sekundär interessierten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sie die Zusammenhänge der Geschäftswelt und der Kohleabbaus schnell begriff und gegen die Konkurrenz ausspielen konnte.
Der Film geht ein Wagnis ein, das zwar nicht verbürgt ist, aber glaubhaft vermittelt wird. So sehr sie als zuweilen herrische Person in den Geschichtsabhandlungen beschrieben wird, der Film zeigt sie oft mit Selbstzweifeln behaftet. Gegenüber Marianna verhält sie sich zuweilen unterwürfig. Die Eifersucht und die Hoffnung auf eine ewige innige Partnerschaft treibt sie manchmal sogar zu selbstzerstörerischen Handlungen. Erst als sie erkennt, dass die gesellschaftliche Stellung der Geliebten ein Zusammenleben unmöglich macht zieht sie konsequent einen Schlussstrich. Dennoch fällt es ihr zunächst schwer, sich Ann Walker so hinzugeben wie der Verflossenen. Es ist jedoch folgerichtig, dass sie dem alten Leben den Rücken kehrt.
Zuweilen ist der Film sehr romantisch, was vor allem den wunderschön arrangierten Bildern zuzuschreiben ist. Er ist nicht farbenfroh, aber er besitzt eine dramaturgisch clever eingesetzte unaufdringliche Farbgebung und Ausleuchtung, die hin und wieder sogar zärtlich die handelnden Personen umstreicht. Eine Wohltat für die Augen, die zu keiner Zeit überfordert oder überreizt werden. Wie immer bei der BBC stimmt das Ambiente. Ausstattung und Umfeld geben glaubwürdig das Zeitbild wider. Die Darsteller sind exzellent gecastet und spielen ohne aufgesetztes Overacting, ganz so als würden sie in diese Zeit und Gesellschaft gehören, die der Film zu vermitteln versucht. Die ausufernden Tagebuchaufzeichnung waren gewiss eine hilfreiche Anleitung.
Nicht jdem wird dieser Film liegen. Er ist ein Liebesdrama, ganz gleich, ob es sich dabei um homosexuelle oder heterosexuelle Menschen handelt. Und so muss er die emotionale Ebene des Betrachters berühren. Ohne diese kann jener der Geschichte auch nicht folgen, denn sie macht ihn eben nicht zum Voyeur sondern zu einem beteiligten Zeugen.
Anne Lister: 3.April 1791 bis 22.September 1840
Die geheimen Tagebücher der Anne Lister
Bild 1: Anne Lister aus der Wikipedia
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