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Lynch und die Justiz - August 2012

Eine Frage an Dietmar KueglerLynch und die Justiz

In Western wird von Zeit zu Zeit Lynch-Justiz. Auch Clint Eastwood durfte ja mal baumeln. Auch sonst gab es auf der Leinwand und in Romanen immer diesen oder jenen, der für Viehdiebstahl baumeln sollte. Oft genug preschte der Held dazwischen und verhinderte das Hängen.

Nun gab es da einen Namensgeber. Einen Herrn Lynch. Wer war das? Und wie häufig war sie und wurde von Seiten der Regierung in Washington und der einzelnen Staaten dagegen gekämpft?


Dietmar Kuegler: Vermutlich hat es Selbstjustiz durch Mobs zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten gegeben, aber der Name „Lynchjustiz“ ist tatsächlich amerikanischen Ursprungs. Er geht zurück auf den Friedensrichter (Judge-of-Peace) Charles Lynch in Virginia, der während der amerikanischen Revolution (wohl um 1780) erstmals zur Selbstjustiz an amerikanischen Royalisten aufrief, die sich gegen die Unabhängigkeit von England wandten. Mit einigen Gleichgesinnten ließ er solche Personen ergreifen und führte „Gerichtsverhandlungen“ gegen diese „Verräter“ durch, in denen sie „verurteilt“ wurden. Danach wurde dieser Terminus auf jede illegale, von keinem Gericht gedeckte Hinrichtung angewandt.

Lynchjustiz war also schon von den Ursprüngen her keineswegs eine Spezialität des Westens; an der „Frontier“ fanden sogar verhältnismäßig wenige Lynchmorde statt. Die Zahl der Morde durch Mobs war in den Südstaaten wesentlich höher. Schon in der Zeit vor dem Bürgerkrieg kam es in den von Sklavenhaltern und Sklavereigegnern umkämpften Gebieten wie Missouri, Kansas, Nebraska zu Lynchmorden. Diese Praxis setzte sich nach dem Bürgerkrieg fort, wobei vorwiegend ehemalige schwarze Sklaven, aber auch deren weiße Unterstützer die Opfer waren. Eine Kriminalstatistik belegt, daß von ca. 1880 bis heute über 3.500 Schwarze und ca. 1.300 Weiße in den Südstaaten gelyncht wurden. Für die vor 1880 liegende Zeit gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Die Opfer waren meist nicht einmal Kriminelle, sondern Personen, die ihre neuen politischen Rechte wahrnehmen, also etwa wählen wollten. Aber auch jene, die beschuldigt wurden, Straftaten begangen zu haben, waren häufig unschuldig.

Anti-Lynching-Gesetze wurden ab 1920 bis in die 1960er Jahre von Südstaaten-Demokraten im Parlament von Washington verhindert. Es gab mehrere Präsidenten, die versuchten, der Lynchjustiz mit Bundesgesetzen Einhalt zu gebieten. Keinem ist es gelungen, nicht einmal einem so starken und durchsetzungsfähigen Präsidenten wie Theodore Roosevelt. Andere, etwa sein späterer Namensvetter Franklin D. Roosevelt, mogelten sich um klare Aussagen und Gesetzesbeschlüsse herum, um die Stimmen der südlichen Staaten nicht zu verlieren. Erst sein Nachfolger Truman setzte sich energisch dafür ein, die Lynchjustiz zu unterbinden und strafrechtlich zu verfolgen; das war in den 1940er Jahren, und er wurde dafür von Südstaaten-Demokraten erheblich angegriffen – obwohl er einer der ihren war.

Im Westen war die Situation anders. Die Lynchjustiz kam mit den Goldfunden in Kalifornien an die Westküste; in den wilden Goldgräbercamps war sie anfangs tatsächlich oft die einzige Möglichkeit, eine gewisse Ordnung zu schaffen. Allerdings hörten die Initiatoren auch dann nicht auf, nachdem ordentliche Gerichte ihre Arbeit aufgenommen hatten. Die Argumentation, Regierung und Gerichte seien korrupt, hat sich durch historische Untersuchungen nicht bestätigen lassen. Tatsächlich ging es den Anführern darum, den eigenen Einfluß zu zementieren und Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Lynchjustiz in Kalifornien richtete sich nach Einrichtung regulärer juristischer Strukturen häufig gegen ethnische Minderheiten, etwa Chinesen oder Mexikaner, die als Rivalen um gute Claims angesehen wurden und denen mit fadenscheinigen Beschuldigungen irgendwelche Straftaten angehängt worden waren.

Der Lynchmob von San Francisco stellte letztlich eine politische Macht dar, der das reguläre Gesetz kaum Herr werden konnte. (Ähnlich war es 1862 im Goldrausch von Montana, als die „Vigilanten“ das Recht in die eigenen Hände nahmen und nicht nur tatsächliche Straßenräuber, sondern auch politisch unliebsame Personen beseitigten – es herrschte Bürgerkrieg im Osten, und in den Goldgräbercamps gab es Anhänger der Süd- und der Nordstaaten, die mit Hilfe der Vigilanzkomitees persönliche Rechnungen beglichen.) Auch religiöse Gründe konnten eine Rolle spielen, so wie beim Lynchmord an Joseph Smith und seinem Bruder, den Gründern der Mormonen-Kirche.

Generell war es im Westen so, daß sich nach irgendwelchen Straftaten Mobs in kleinen Siedlungen zusammen rotteten, um das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn es dann keinen handfesten Marshal oder Sheriff gab, der sich der wütenden Menge mit Autorität entgegen stellte, hatten die Täter keine Chance.

Großrancher schickten Lynchkommandos aus, um Schafzüchter und kleine Farmer einzuschüchtern. Mit Viehdieben, vor allem mit Pferdedieben, wurde in der Regel kurzer Prozeß gemacht.

Der große Irrtum in diesem Zusammenhang ist meist, daß geglaubt wird, Lynchjustiz sei in Ermangelung von Sheriffs, Marshals und Gerichten erfolgt – sozusagen als „Notwehr“ der schutzlosen Bürger gegen das Banditenunwesen. Die Regel war aber vielmehr, daß die allermeisten Lynchopfer sich schon in der Hand des Gesetzes befanden, also in Gefängnissen saßen oder sogar schon von einem Gericht verurteilt worden waren. Der Mob bildete sich, weil geglaubt wurde, der jeweilige Täter würde womöglich wieder freigelassen werden oder eine zu milde Strafe erhalten. Die Opfer wurden aus den Gefängnissen geholt. Es handelte sich also in den meisten Fällen um einen Bruch von Recht und Gesetz, der aus Misstrauen gegenüber dem konstitutionalisierten Recht erfolgte. Lynchjustiz war nur sehr selten der Versuch von Pionieren, sich gegen Kriminalität zu schützen, weil es weder Sheriffs noch Richter gab. So kriminell war der alte Westen nicht, und die staatliche Bürokratie folgte den Pionieren – wie schon einmal an anderer Stelle erwähnt – ziemlich schnell nach und richtete Verwaltungsstrukturen ein. Schlagendes Beispiel für diese Beschreibung war eine Lynchjustiz in Tombstone (Arizona). Eine Bande hatte den Goldwater-Store in der benachbarten Minenstadt Bisbee überfallen und den Inhaber ermordet. Die Täter wurden regulär zum Tode verurteilt und im Hof des Gerichts in Tombstone gehängt. Aber ihr Spitzel und Tippgeber, ein gewisser John Heath, hatte nicht direkt am Überfall teilgenommen und wurde daher nur zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das war den Bürgern von Bisbee nicht genug. Sie scharten sich zusammen, ritten nach Tombstone, holten Heath aus dem Gefängnis und hängten ihn an einem Telegrafenmast auf.

Juristische Folgen hatte die Lynchjustiz selten, weil die örtlichen Gerichte sich nicht mit ganzen Gemeinden anlegen wollten. Die Taten wurden also stillschweigend übergangen, wenn sie nicht zu verhindern gewesen waren. Sie untergruben aber fraglos die Autorität von Gesetzesbeamten und Richtern.

Noch ein paar Worte zu Charles Lynch: Er besaß in Virginia eine Plantage und war von 1769 bis 1778 Mitglied im Abgeordnetenhaus zunächst der britischen Kolonie, dann des amerikanischen Staates Virginia. Während des Unabhängigkeitskrieges brachte er es zum Oberst eines Regiments der Continental-Armee unter Washington. Nach Durchsetzung der amerikanischen Unabhängigkeit wurde er in den Senat von Virginia gewählt.

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