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Eine Reliquie für St. Marien

StoryEine Reliquie für St. Marien

Die Juli-Sonne brennt heiß und die Bauern auf dem Feld schwitzen bei der Ernte. Zudem stechen und jucken die langen Grannen der Gerste durch die Leinenkittel und vom stundenlangen Bücken schmerzen die Knochen.

Aber immer, wenn sie sich zwischendurch kurz aufrichten, um den Rücken zu lockern, wenden sie den Blick in Richtung ihres Städtchens und dann huscht ein zufriedenes Lächeln über ihre Gesichter.


Über die Stadtmauer ragt hoch und neu der Turm ihrer Kirche. Über hundert Jahre haben sie und ihre Vorfahren an dem Bau gearbeitet, unter schweren Entbehrungen die Kosten dafür aufgebracht und so manche Stunde auf der Baustelle ebenso geschwitzt wie heute auf dem Feld.

Der Turm zeigt spitz in den Himmel und ist schon von weither zu sehen als Kennzeichen, dass hier gottesfürchtige und fleißige Menschen wohnen, die sich mit diesem Werk ein Stück Sündenablass verdient haben. Mit diesem Bewusstsein geht ihnen die Arbeit wieder flott von der Hand.

Auf der Straße sind an diesem Tag mehrere Fuhrwerke der Bauern unterwegs, dazu einige Handwerksburschen und ein Kaufmann mit seinem Wagen. Der Bauer Kunz, der mit zwei Mägden auf dem Gerstenfeld arbeitet, achtet nicht weiter darauf, sondern kümmert sich lieber um seine Gerstengarben. Zwischendurch muss er auch immer wieder den Ochsen beruhigen, der von den Fliegen geplagt vor dem Wagen herumstampft. Am Nachmittag wird auf der Straße am Hügel eine Gestalt sichtbar, die langsam näher wandert und in der Talsenke hinter den Bäumen den Blicken entschwindet. Kunz, der die Garben auf den Wagen lädt, hat den Wanderer schon längst wieder vergessen, als der plötzlich neben dem Ochsenkarren auftaucht. Der Bauer weicht im ersten Augenblick erschrocken zurück, entspannt sich aber sofort wieder, als er die Kutte eines Mönches erkennt.

„Gott zum Gruße, lieber Bauer.“ Der Ordensmann verneigt sich leicht vor Kunz. „Bist du in diesem schönen Städtchen ansässig? Kannst du mir eine Auskunft geben?“
Kunz kratzt sich am Hinterkopf, lässt aber sofort die Hand sinken, als ihm die Ungehörigkeit dieses Benehmens klar wird. „Sicher, Bruder, ich bin von hier. Fragt nur, wenn ich es weiß, sage ich es Euch gerne.“
„Ihr habt eine schöne, neue Kirche. Welchem Heiligen ist sie geweiht?“
„Ja, die Kirche ist ganz neu, voriges Jahr zu Mariä Himmelfahrt haben wir sie geweiht. Das passte so gut, weil sie für die Muttergottes ist und Marienkirche heißt.“
„Finde ich euren Pfarrer wohl in oder dicht bei der Kirche? Ich möchte ihn gern aufsuchen und ihm eine wichtige Mitteilung machen.“ Der Mönch sieht den Bauern seltsam eindringlich an, worauf sich dieser keinen Reim machen kann.
„Der Herr Pfarrer wohnt gleich neben der Kirche. Er hat ein Kreuz bei der Tür, so ist das Haus nicht zu verfehlen. Folgt nur der Straße, durch das Stadttor und dann die linke Gasse hoch, dann kommt Ihr direkt hin.“
„Sei bedankt, lieber Bauer, Gott wird dir deine Hilfe lohnen.“ sagt der Mönch und wendet sich in die gezeigte Richtung. Zahlreiche Beutel und Säckchen, die er an Riemen über die Schultern und am Gürtel hängen hat, schwingen im Takt seiner Bewegungen mit. Kunz greift wieder zur Gabel und wirft seine Garben auf den Wagen. Die Mägde, die während des kurzen Gespräches ein wenig verschnauft hatten, beeilen sich, die kleine Pause wieder einzuarbeiten.

Selbst an einem solch heißen Tag liegen die Straßen des Städtchens niemals verlassen da. Hunde Katzen, Federvieh und Ferkel suchen in den Abfällen nach Futter, kleine Kinder spielen im Staub, größere laufen zum  Ziehbrunnen, um Wasser zu holen, oder sie wurden von der Mutter mit einem Auftrag ausgeschickt, Bauern kommen mit ihren Erntewagen heim, laden das Stroh in der Scheune ab und brechen wieder auf zum Feld, Handwerker und Händler gehen ihren Geschäften nach. Von allen Seiten hört man die typischen Geräusche, die in eine Stadt gehören: Hämmern, Klopfen, Sägen und Poltern ebenso wie die Stimmen von Mensch und Vieh. In den Abflussrinnen plätschert die Jauche talwärts. An einem so heißen Tag wie diesem stinkt sie zum Himmel, man muss die Luft anhalten, wenn man an einem dieser Kanäle oder einem Aborthäuschen vorbeikommt. Den Ratten dagegen scheint de Gestank nichts auszumachen. Sie wuseln sogar bei Tage in den Abfällen herum und laufen nur wenige Schritte weit weg, wenn ein Mensch des Weges kommt.

Der Pfarrer von St. Marien zupft im Garten Unkraut und ist mit seinen Gedanken bei der Messe, die er am Abend lesen will. Die Frau des Metzgers ist kürzlich gestorben und es gibt Anlass zur Befürchtung, dass sie nicht sofort im Himmel willkommen ist, sondern erst eine Zeit lang durch das Fegefeuer muss. Deshalb hat der Witwer eine Reihe von Messen für sie bestellt. Vergeblich kämpft Vater Mattes gegen den Verdacht an, dass die Strafen der Vorhölle dem zänkischen Wesen der Metzgersfrau nur guttun könnten. Endlich einmal wird ihre keifende Stimme nicht mehr fragen: „Darf es ein bisschen mehr sein?“, denn was sie dort bekommt, wird ihr mehr als genug sein.

An einer Seite des Pfarrgartens, dicht bei der Wand des Nachbarhauses, liegt der Misthaufen. Vater Mattes wirft zwei Brennesseln, die er zwischen den Kohlpflanzen herausgezogen hat, dorthin und rümpft die Nase. Eigentlich hätte der die Dungstätte lieber neben seinem Gänsestall gehabt. Aber da seine Nachbarin, die alte Käthe, seit Jahrzehnten ihren Nachttopf hier aus dem Fenster schüttet, ist diese Stelle des Gartens sowieso nicht mehr zu gebrauchen. Dabei muss man noch von Glück reden, dass Käthes Schlafkammer an dieser Seite des Hauses liegt und nicht nach hinten hinaus. Sonst würde sie womöglich noch den Friedhof begießen. Nicht auszudenken, was das für einen Ärger gäbe mit den Angehörigen eines Verstorbenen, dessen Grab genau in ihrem Schussfeld läge!

Andererseits mag er die alte Frau auch nicht ständig tadeln, denn sie hat es schwer, sich ihren Lebensunterhalt als Witwe zu verdienen. Ihr einziger Sohn, der nach dem frühen Tode des Vaters außer Rand und Band geraten ist, war ihr immer mehr Last als Stütze. Vor zwei Jahren, nachdem er das dritte Mal wegen seiner Streitsucht am Pranger gestanden hatte, war er den Gesetzen gemäß aus der Stadt gewiesen worden. Seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört und Käthe müht sich redlich ab, mit ihrer kleinen Landwirtschaft und ihrem Nebenverdienst, dem Besenbinden, zurechtzukommen. Heute Vormittag erst ist ihr der Ziegenbock entwischt und davongelaufen. Gegen Mittag kam er dann zurück, aber im alarmierendem Zustand. Herbeigerufen von Käthes Wehgeschrei hat Vater Mattes selbst mit angesehen, wie der Bock torkelte und schwankte, immer wieder hinfiel und schließlich sogar auf dem Hof einfach liegenblieb und merkwürdige Laute ausstieß. Der Pfarrer und ein anderer Nachbar haben das Tier in seinen Stall getragen, es aber nicht auf die Beine zu bringen vermocht. Und da liegt es immer noch, schnauft und stinkt ganz erbärmlich. Käthe hockt bei dem Patienten im Stall und jammert still vor sich hin. Sollte der Bock sterben, hat sie kein Geld, sich einen neuen zu kaufen, es wird ein sehr schwerer Verlust für die alte Frau, zumal das Tier immer den kleinen Wagen zieht, wenn sie mit ihren Besen auf den Handel geht. Die alte Frau hat es nun mal wirklich schwer im Leben, und da muss ein Seelenhirte es ihr schon durchgehen lassen, wenn sie den Topf über seinem Garten ausleert.

Der Pfarrer seufzt und bekämpft weiter die Quecken, die seine Beete zu überwuchern drohen.. Gegen die Dickköpfigkeit mancher Gemeindemitglieder ist sowieso nicht anzukommen. Also hat er die Miste hierher verlegt und damit Käthes Sturheit sozusagen sanktioniert. Ärgerlich ist ihm nur der lange Weg vom Gänsestall hierher. Ach ja, und Käthes Hühner, die gerade wieder durch das Loch im Zaun kriechen, um seinen Garten zu  plündern. Vater Mattes vertreibt das diebische Federvieh, indem er mit Erdklumpen wirft. Er wird unbedingt den Zaun flicken müssen, eine Arbeit, die er überhaupt nicht mag und die ihm mit zunehmendem Alter auch langsam schwer fällt.

Ein dicker Löwenzahn fliegt in den Korb, ein zweiter hinterher und der Pfarrer sinnt weiter. Überhaupt ist er mit seiner Gemeinde nicht so recht zufrieden. Da steht die schöne neue Kirche, und sie ist auch immer gut besucht. Doch nach dem Gottesdienst zerstreuen sich die Schäflein in alle Winde und gehen ihren Geschäften nach, ohne sich noch einmal umzudrehen. Gottes Segen, den sie aus der Kirche mitnehmen, bleibt nicht lange in ihren Gedanken hängen. Der kleinen und großen Sünden geschehen in diesem Städtchen nicht mehr als anderswo auch, der Landgraf führt ein erträgliches Regiment, und es gab in den letzten Jahren keine Hungersnot und keine Epidemie. Eigentlich könnte man zufrieden sein, wenn nur das viele Unkraut nicht wäre! Endlich hat er die Wurzel der Quecke aus der Erde gelöst und wirft sie in den Korb. Also, noch mal, es gab seit langem keine außergewöhnlichen Ereignisse mehr in der Stadt, das muss man als gutes Zeichen sehen, denn Ungewöhnliches zieht meist Unangenehmes nach sich.

Und doch, so sinniert der Gottesmann, solange die Kirche im Bau war, war alles anders. Die Leute hatten ein gemeinsames Ziel, auf das sie alle zusammen hinarbeiten konnten. Sicher, es hatte auch mal Streit gegeben und die Arbeiten waren aus verschiedenen Gründen immer mal wieder ins Stocken geraten, aber niemals hatten die Bürger den Kirchenbau aus den Augen verloren. Nun, nachdem sie fertig ist, sind alle gebührend stolz auf das gemeinsame Werk.

Die Stimmung in der Stadt hat sich seitdem gewandelt. Die Gemeinsamkeit fällt von den Menschen ab, jeder ist mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Es gäbe zwar noch eine Menge zu tun, was auch in Zukunft nur mit Gemeinsinn zu bewältigen ist, aber vorerst ist das Stadtsäckel leer. Dabei liegt Vater Mattes die Errichtung eines Siechenhauses sehr am Herzen. Und die Stadtmauer müsste dringend ausgebessert werden. Ob er ein Gesuch an den Landgrafen schicken sollte?

An diesem Punkt seiner Überlegungen ist der Pfarrer angekommen, als plötzlich ein Schatten auf ihn fällt. „Gelobt sei Jesus Christus.“ sagt eine Stimme hinter ihm. Er fährt erschrocken herum und sieht sich einem Mönch gegenüber, der scheinbar lautlos den Gartenweg entlang gekommen ist. „In Ewigkeit. Amen.“ antwortet  er und richtet sich auf. „Ein Bruder in Christo ist mir immer willkommen. Kommt mit in mein bescheidenes Häuschen, damit ich Euch mit einem kühlen Trunk erfrischen kann. Ich habe zwar keinen Wein außer dem Messwein, aber hier in der Stadt wird ein hervorragendes Bier gebraut, das wird Euch sicher auch schmecken.“ Der Mönch ist tatsächlich nach dem langen Weg in der sengenden Sonne durstig und nimmt die Einladung gern an.

Als Kunz eine Weile später auf dem Heimweg seinen Ochsenwagen am Pfarrhaus vorbeiführt, kann er durch das geöffnete Fenster die beiden Geistlichen hören, die ein lateinisches Lied singen. Kunz wundert sich darüber, denn normalerweise verhält sich Vater Mattes eher still, als dass er durch Lautstärke auffällt. Aber warum sollen ein Pfarrer und ein Mönch nicht zusammen ein frommes Lied singen? Kunz kratzt sich am Kopf und treibt seinen Ochsen weiter an, während hinter seinem Rücken aufs Neue erklingt: Gaudiamus igitur....

Die Abendmesse ist wegen der Erntearbeiten nur spärlich besucht. Ganz vorn steht der fremde Mönch, der sich als Bruder Benedikt vorgestellt hat, und verfolgt den Gottesdienst mit ernster Miene. Anschließend, als die Gemeinde die Kirche schon wieder verlassen hat, zeigt Vater Mattes seinem Glaubensbruder die Kirche. Das Gebäude wurde auf dem Platz der alten Kapelle errichtet, die schon vor vielen Jahren zu klein und zudem baufällig geworden war. Erhalten geblieben ist die Krypta, die unter dem neuen Altarraum liegt. Von der Krypta führt ein Gang zu dem heute nicht mehr benutzen Beinhaus, in dem die Überreste der hiesigen Ritterfamilie liegen. Vater Mattes erwähnt dies kurz, schüttelt sich aber beim Gedanken an die Totenköpfe, die da liegen.

Bruder Benedikt interessiert sich für alles an diesem Gotteshaus. Da es noch so neu ist, sind noch Stellen frei, die man im Laufe der Jahre durch Stiftungen zu füllen hofft. So könnten also noch Nebenaltäre entstehen, Statuen und Bilder das Kirchenschiff beleben. Außen an der Dachtraufe sind Wasserspeier angebracht, die grauslich anzusehen sind und böse Geister abhalten sollen. Vater Mattes hebt entschuldigend die Schultern. Es gab eine nicht geringe Zahl von Gemeindemitgliedern, die darauf bestanden haben, ganz gleich, was seine Amtsvorgänger zu diesem Aberglauben sagten. Dann gehen die beiden frommen Männer in das keine Pfarrhaus und reden noch bis spät in die Nacht. Trotzdem steht der Mönch pünktlich zur Mitternacht in der Kirche und hält eine einsame Messe, so wie er überhaupt in den nächsten Tagen nicht ein einziges Stundengebet, eine Messe oder einen Gottesdienst auslässt und sich auch sonst viel in der Kirche aufhält.

Am nächsten Morgen zeigt sich zunächst noch nichts von der Aufregung, die schon am Abend die Stadt überziehen wird. Kurz nach Sonnenaufgang öffnen die Bauern ihre Stalltüren, Schweine, Ziegen und Federvieh laufen auf die Straßen. Der Sauhirte und der Ziegenjunge sammeln ihre Schützlinge ein und ziehen mit ihnen vor die Stadt. Menschen gehen ihrer Arbeit nach und der Lohgerber begibt sich auf  den Weg zu seiner Werkstatt-Hütte, die des Geruches wegen außerhalb liegt. Der Schmied hämmert ein Werkstück in die richtige Form, der Böttcher schneidet die Dauben für ein neues Fass zurecht und der Tuchhändlerlehrling öffnet den Laden des Verkaufraumes zur Straße. Ein Jude zieht mit seiner Ware von Haus zu Haus, und ein Bauernjunge läuft mit einem Körbchen Eier zu seinem Kunden. Der Schusterjunge bringt die frisch reparierten Stiefel des Bürgermeisters zum Rathaus und Kunz schickt seine Mägde zum Wasserholen an den Kump. Wenn irgend möglich, benutzen sie alle die Mitte der jeweiligen Straße, um den Nachttöpfen zu entgehen, die um diese Zeit aus den Fenstern geleert werden. Auch Käthe, die Nachbarin des Pfarrers, begießt dessen Misthaufen. Aus den Schornsteinen steigt Rauch auf, der in der leichten Sommerbrise verweht, und die Glocke ruft zur Frühmesse. Käthes Bock streckt noch immer alle Viere von sich und schnauft besorgniserregend. Die Zunge hängt ihm aus dem Halse und seit gestern hat er sich nicht bewegt. Das einzige Lebenszeichen ist ein langgezogener Furz, der bei Sonnenaufgang erklingt.

Kurz vor Mittag gehen Vater Mattes und sein Gast zum Rathaus. Das Gesicht des Stadtpfarrers ist ernsthaft und angespannt. Er verlangt, sofort zum Bürgermeister vorgelassen zu werden. Der Schreiber legt seine Feder hin und verschwindet im Arbeitsraum des Stadtoberhauptes. Als er zurückkommt, winkt er den beiden Geistlichen, ihm zu folgen. Dann schließt sich die Tür hinter den drei Männern und öffnet sich erst wieder, als der Bürgermeister den Ratsboten zu sich ruft. Der Mann kommt eilig herbei. Nicht oft hat der den Herrn der Stadt so aufgeregt gesehen. Dieser gibt Befehl, sofort den gesamten Rat einzuberufen, und wenn ein jeder einzelne Ratsherr von seinem Acker oder seinem Mittagstisch fortgezerrt werden müsste. Der Bote zuckt zusammen und trollt sich. Da muss eine ernste Sache im Gange sein, sonst würde der Bürgermeister nicht auf solche Eile drängen.

Am frühen Nachmittag sind alle Ratsherren versammelt. Die schwere Tür schließt sich hinter ihnen und außen vor stehen mit ratlosen Gesichtern die Bediensteten, die sich nicht vorstellen können, was diese Aufregung bedeuten soll. Hoffentlich hat der fremde Mönch nicht eine schlimme Nachricht gebracht, von einer Seuche vielleicht oder einem bevorstehenden Krieg. Tuschelnd stehen sie zusammen, und einige Besucher des Rathauses gesellen sich dazu. Bauer Kunz, der zufällig an diesem Tag vorsprechen und dem Rat eine Mitteilung machen will, dass ein Grenzstein nahe dem Waldrand ausgegraben am Feldrain liegt, kratzt sich wieder den Kopf und erzählt von seiner gestrigen Begegnung mit dem Mönch. Alle drängen sich um ihn und wollen Einzelheiten wissen, doch Kunz ist kein Mann der Worte und gibt das kurze Gespräch nur knapp wieder. Mehr weiß er dazu nicht zu sagen und es ist nicht seine Art, sich etwas dazu zu denken. Er gibt also bei einem der Schreiber den Grenzstein zu Protokoll und geht wieder seiner Wege. Das Getuschel hinter ihm reißt deshalb aber nicht ab.

Aus dem Sitzungssaal dringen laute Stimmen, gefolgt von leiseren, dann wird es mal wieder laut. Leider ist es den Horchern nicht möglich, zu verstehen, über was da verhandelt wird, denn die Eichentüren sind dick und solide und wissen ein Geheimnis zu bewahren. Der Tischler Wiegand versteht sein Handwerk.

Am späten Nachmittag tritt einer der Ratsherren aus dem Saal. Erwartungsvolle Gesichter blicken ihm entgegen, aber der Mann verschwindet nur eilig auf dem Abtritt. Danach, mit Erleichterung auf dem Gesicht, steigt er die Treppe hinunter in die Ratsschenke und bestellt beim Wirt Abendbrot für die ganze Versammlung und geht wieder zur Sitzung.

Die Stimmung des Wirtes hellt sich bei dieser Bestellung schlagartig auf. Seit man ihn gestern gegen Mittag in seiner eigenen Schankstube dreist bestohlen und beraubt hat, hatte er Verdacht gegen alle und jeden gehegt und war sehr griesgrämig gewesen. Es war aber auch zu frech: Der Wirt hatte die Hintertür kurz offengelassen und war zum Schuppen gegangen, um Holz für das Küchenfeuer zu holen. Da mal wieder keines fertig gehackt war, musste er zur Axt greifen und es dauerte ein paar Minuten, bis er einen Korb voll Klibbern in passender Größe hatte. Er trat mit dem Korb wieder in die Schenke und sah die Bescherung: Der Deckel des Branntweinfasses lag am Boden, mehrere Krüge zerbrochen und Bier war auf dem Boden verschüttet. Aus dem Branntweinfässchen fehlte etwa die Menge, die in zwei kleine Krüge passt. Ein ärgerlicher Verlust, aber da heute Abend der Rat einzukehren gedenkt, kann er wenigstens einen Teil des Schadens durch den unverhofften Verzehr wieder wettmachen.

Inzwischen hat sich die Geschichte von dem geheimnisvollen Mönch, dessentwegen eine außerordentliche Ratssitzung einberufen wurde, in der Stadt verbreitet. Den Wirt freut das, denn es ist abzusehen, dass er heute Abend ein volles Haus haben wird. Und richtig, kaum, dass die Abendglocke geläutet hat, kommen schon die ersten Gäste. Der lange Tisch am Fenster ist dem Rat vorbehalten, doch die anderen Tische sind bald gut besetzt.

Als die Ratsherren die Schankstube betreten, die beiden Geistlichen zwischen sich, hört schlagartig alles Reden und Lärmen auf. Der Rat der Stadt und seine Gäste nehmen Platz, Vater Mattes spricht das Gebet, und das Essen wird aufgetragen. Vergeblich lauschen die Zecher an den anderen Tischen, kein Wort über die geheime Beratung dringt an ihre gespannten Ohren. Erst gegen Ende der Mahlzeit steht Vater Mattes auf und wendet sich an die Männer im Raum:

„Liebe Brüder in Christo, wie ihr wisst, hatten wir heute ein langes Gespräch über ein Thema, dass sehr wichtig werden könnte für unsere Stadt. Bruder Benedikt, den ihr hier neben mir seht, hat uns eine wichtige Mitteilung gemacht. Morgen im Gottesdienst wollen wir euch davon berichten. Bitte seht zu, dass möglichst alle kommen, denn es geht uns alle an. Ich hoffe auch, möglichst viele von euch gleich in der Abendmesse zu sehen. Gottes Segen über uns alle!“ Damit gehen Pfarrer und Mönch hinaus und wenden sich der Kirche zu. Einige Männer beschließen, ihnen zu folgen und zahlen ihre Zeche. Auch der Rat löst sich allmählich auf, die Herren folgen entweder ebenfalls zur Kirche oder gehen nach Hause. Sie alle machen nachdenkliche Gesichter und schweigen, ganz gleich, wie sehr sie von ihren Freunden und Nachbarn bedrängt werden. „Kommt morgen zur Kirche, dann werdet ihr alles erfahren. Vorher sage ich nichts!“

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Das Kirchenschiff war seit der Einweihungsfeier nicht mehr so voll. Selbst an Weihnachten waren nicht alle erschienen, weil zu diesem Zeitpunkt eine böse Kälte herrschte und viele mit Husten und Fieber zu Bett lagen. An diesem Sonntag herrscht aber ein Gedränge, wie es Vater Mattes gern an jedem Feiertag sähe.

Zunächst hält er seinen gewohnten Gottesdienst. Man merkt ihm aber die Aufregung an, sein Gesicht glüht und er schielt immer wieder zu Bruder Benedikt und den Ratsherren hin. Auch diese sind unruhig und treten von einem Fuß auf den anderen. Nur der Mönch verhält sich ruhig und folgt dem Gottesdienst. Seine wohltönende Stimme trägt die Lieder durch das hohe Kirchenschiff hinauf, während der Gesang der Gemeinde wie immer etwas undeutlich ist.

Dann ist es soweit. Vater Mattes, der inzwischen glüht wie eine Kohle im Feuer, steigt noch einmal auf die Kanzel, greift mit beiden Händen nach der Brüstung und sieht seinen Schäflein in die Gesichter. Dann holt er tief Luft, atmet wieder aus und pumpt noch einmal seine Lunge auf. Er spricht jetzt die Landessprache, denn das Lateinische, das für die Messe und den Gottesdienst vorgeschrieben ist, verstehen die guten Bürger nicht.

„Liebe Gemeinde, ich freue mich, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid. Es gibt etwas, das ich euch verkünden möchte. Doch zunächst komme ich noch einmal auf den Bau unserer schönen Kirche hier zu sprechen. Da haben wir alle zusammen angepackt, wie schon die Väter und Großväter. Der ganze Bau konnte nur durch die jahrelange, enge Zusammenarbeit und die Spenden von gottesfürchtigen Menschen in Angriff genommen und auch zu einem glücklichen Ende gebracht werden. Niemals hätten einige wenige diese Arbeit leisten können. Gott selbst hat uns mit seinem Segen unterstützt und uns oft eine unverhoffte Hilfe gesandt, wenn wir selbst schon verzagen wollten. Da möchte ich nur an die großherzige Spende von einem reichen Kaufherren aus dem Kölnischen erinnern, die gerade recht kam, weil uns das Geld eben ausging, Dabei hatte dieser Mann gar keine echte Verbindung zu unserer kleinen Stadt. Oder nach dem Tode des Baumeisters Hermann, als wir nicht weiter wussten, da führte unser Schöpfer wenige Tage später einen neuen, tüchtigen Baumeister an unser Tor. Jedenfalls war Gott der Herr uns während der gesamten Bauzeit wohlgesinnt und hat das auf vielfältige Weise gezeigt.

Nun ist der Kirchenbau fertig. Wir sollten uns aber nicht untätig zurücklehnen und unser Werk und damit uns selbst feiern, denn damit würden wir jede Demut verlieren, die uns sterblichen Sündern ansteht. Im Gegenteil, wir sollten alles tun, unsere Kirche, unsere Stadt und nicht zuletzt unseren Glauben weiter zu verbessern und zu verstärken.

Ich sprach von Gottes Hilfen, die er uns unverhofft zukommen ließ. Ein solcher Fingerzeig ist uns erneut zuteil geworden und ich meine, wir sollten das nicht verwerfen, sondern die Gelegenheit beim Schopfe packen, denn sie dürfte einmalig sein.

Überlegt doch einmal selbst: Was fehlt uns noch in unserer Kirche, damit sie wirklich vollständig wird? Wir haben den Bau, die Heilige Bibel, den Altar, Messgeschirr und den Taufstein. Doch was fehlt noch? Der göttliche Fingerzeig, der über uns gekommen, ist, hat mit Bruder Benedikt zu tun. Da er selbst nicht gern vor so vielen Menschen reden will, bedenkt, er ist ein bescheidener Mönch und so etwas nicht gewohnt, werde ich ihn euch kurz vorstellen.

Er stammt aus einem Kloster in Friesland, nahe der Stadt Hamburg. Sein Kloster wurde von einem reichen Kaufherren im Testament großzügig bedacht. Das Geld, so verfügte der Kaufherr, sollte zu einem bestimmten Zweck verwendet werden. Der Abt beschloss also, dass Bruder Benedikt seinen Prior Richard nach Rom, der ewigen Stadt, begleiten sollte, um dort entsprechend dem Testament etwas Besonderes zum Wohle des Klosters und der Menschen in seiner Umgebung zu kaufen. Eigentlich wäre es angemessen gewesen, mit einer starken Eskorte zu reisen, doch das vermag das Kloster nicht aufzubringen. Voll Gottvertrauen zogen die beiden zu Fuß los und hofften, nicht die Aufmerksamkeit von Raubgesindel auf sich zu lenken. Sie reisten also nach Rom und trafen sich dort mit den Männern, die direkt aus dem Heiligen Land zurückkamen und die gewünschten Waren mit sich führten, in der Absicht, diese an Kirchen und Klöster zu verkaufen, damit sie dort zum Wohle der Menschen dienen können.

Ein glücklicher Zufall wollte es, dass das Gold aus dem Vermächtnis so ausreichend war, dass die beiden Brüder mehr kaufen konnten, als sie erhofft hatten. Sie machten sich auf den Rückweg. Leider gerieten sie unter die Räuber. Es müssen nicht nur gottlose, sondern auch sehr dumme Räuber gewesen sein, die zwei arme, wandernde Mönche anfielen. Das Gold hatten sie ja schon in Rom gelassen und verließen sich für die Heimreise im Wesentlichen auf die Mildtätigkeit frommer Menschen und die Unterkunft in anderen Klöstern. Jedenfalls wurde Prior Richard durch einen Stein am Kopf getroffen und starb. Bruder Benedikt, der das Päckchen mit dem Einkauf mit sich trug, wurde wunderbarerweise verschont und konnte entkommen. Nicht weit lag ein Kloster, und dort fand er Aufnahme und Hilfe. Die Brüder brachen sofort auf und bargen den Leichnam des Priors, den sie ehrenvoll in ihrem Kloster beisetzten. Bruder Benedikt nahm Abschied und zog weiter.

Bald danach kam er zu einer Stadt, in der soeben Typhus ausgebrochen war. Es gab schon eine Reihe von Toten zu beklagen und noch mehr Menschen lagen krank darnieder. Das war auch in der Abtei so, in der Bruder Benedikt um Unterkunft bat. In der Nacht entschloss er sich, sich und sein Päckchen aus Rom dem Bischof der Stadt zu offenbaren. Der Bischof entband ihn auch sofort von der Verschwiegenheit und nahm dankbar die Hilfe an, die Bruder Benedikt bringen konnte. Er nahm etwas aus seinem Päckchen und ließ es in der Kirche verwahren. Ab diesem Moment erkrankte in der gesamten Stadt niemand mehr neu und die Kranken standen alsbald von ihrem Lager auf.

So kam er denn schließlich hierher. Gott selbst mag ihn geführt haben, denn wir haben seine Hilfe ebenso nötig, wie die Menschen in der Typhus-Stadt. Oh, nicht, dass wir hier an einer Krankheit des Leibes litten, jedenfalls im Augenblick nicht. Nein, hier in unserer Stadt leiden wir eher an einer Krankheit des Glaubens. Seit der Kirchenbau fertig geworden ist, hat sich keiner mehr von euch wirklich für den Inhalt unseres Glaubens interessiert. Das Gebäude aus Stein steht da, aber es ist nicht wirklich von Gedanken an Gott beseelt. Ihr steht hier vor mir, mit gesenkten Häuptern und denkt dabei an eure Ernte, den Haushalt oder das Vieh. Oft genug ertappe ich euch während des Gottesdienstes beim Schwätzen über müßige und unnütze Dinge. Und wie ich heute morgen hören musste, hat schon wieder einer versucht, einen Grenzstein zu versetzen! Wie wollt ihr in das Himmelreich gelangen, wenn ihr nur euer irdisches Wohl im Sinn habt? Und noch dazu sündige Gedanken führt, ja sogar vor Verbrechen scheut ihr nicht zurück! Dem Wirt des Ratskellers sind einige Maß Branntwein gestohlen worden, am hellichten Tag!“

Die Menschen in der Kirche werden allmählich unruhig. Vater Mattes merkt das sehr wohl auf der Kanzel. Sie wollen wissen, auf was er nun hinaus will, außerdem – Gott sei es geklagt! – schielen etliche schon seit geraumer Zeit nach dem Ausgang. Der Bürgermeister und der Rat der Stadt, die schon Bescheid wissen, stehen mit steinernen Mienen da, doch auch unter diesen gibt es einen oder zwei Männer, die von einem Fuß auf den anderen treten. Und wieder fängt irgendwo ein Kind an zu heulen, ein nervtötendes Geräusch, zumal das Geschrei sich hoch oben unter der Bogendecke fängt und wieder zurück schallt. Die Mutter eilt mit dem Schreihals hinaus, doch die Unruhe legt sich noch nicht. Der Zeitpunkt ist gekommen, die Katze aus dem Sack zu lassen. Vater Mattes holt wieder tief Luft.

„Ich habe euch erzählt, dass Bruder Benedikt auf seinem Weg von Rom hierher sowohl den Räubern entkam, als auch vom Typhus verschont blieb. Ja, er konnte sogar dem verzweifelten Volk eine Rettung bringen. Und nun hat er angeboten, auch uns an seiner heilsamen Fracht teilhaben zu lassen. Denn das, was er seit Rom bei sich trägt, wird uns allen Heil für Körper und Seele bringen. Bruder Benedikt und sein Prior kauften in Rom nämlich heilige Reliquien.“

So, jetzt ist es heraus. Vater Mattes liest in den Gesichtern seiner Schäflein. Unglauben, zunächst, dann Erstaunen, Hoffnung und Freude bei einigen. Auch Fragen stehen unausgesprochen in den Gesichtern. Was ist das für eine Reliquie? Von welchem Heiligen stammt sie? Was können diese Dinge bewirken? Können sie helfen, dass der lahme Bertram wieder laufen und arbeiten kann? Kann die Reliquie die blinde Trude heilen?

Schließlich, nach einer angemessen langen Gedankenpause, ergreift Vater Mattes wieder das Wort. „Ihr alle wisst, dass Reliquien eine heilsame Wirkung haben und zudem eine besondere Nähe zu dem Heiligen schaffen, von dem sie stammen. Und auf diesem Wege schaffen sie auch eine Nähe zu Gott selbst, die ich sonst hier in der Gemeinde oft sehr vermisse. Deshalb sollten wir nun beschließen, diese Heiligtümer dem frommen Bruder abzukaufen, um damit uns und unserer Stadt einen Weg zum Himmelreich zu öffnen.“

Weg zum Himmelreich? Diese Worte erscheinen den braven Bürgern nun doch etwas zu gewaltig, vor allem, wenn sie noch nicht einmal wissen, um welche Reliquien es sich handelt und was sie kosten sollen. Dazu kommt noch der Gedanke an das magere Stadtsäckel und die notwendigerweise anstehenden Reparaturen an der Stadtmauer. Sie stellen Fragen, fordern Antworten und kratzen sich ratlos die Köpfe, nachdem sie die Antworten gehört haben. Der geforderte Preis ist nicht unerheblich, andererseits hat so eine Reliquie ja auch ihre Vorteile und die sind den Preis sicher wert.. Man sollte auch nicht zulassen, dass eine der Nachbarstädte ihnen die Heiligen Überreste wegschnappt.

Eine Entscheidung fällt noch nicht an diesem Sonntag. Doch überall  auf den Straßen, in den  Häusern und an den Kümpen stehen die Menschen zusammen und beraten sich. Vater Mattes wird nicht müde, von den künftig zu erwartenden Wundern zu schwärmen und die direkte Nähe zu den Heiligen zu erwähnen, die allein schon große Opfer wert wäre.

Der Kaufmann Heinz, der schon weit in der Welt herumgekommen ist, berichtet von den Reliquienverehrungen in anderen Städten. Da liegen die heiligen Überreste in kostbaren Schreinen aus Gold und Edelsteinen, und die Pilger aus vielen Ländern strömen herbei, um sie zu sehen, zuweilen steht auch ein Kranker nach dem Gebet heil und gesund wieder auf. Die Pilger bringen nicht unerheblich Geld in die städtischen und privaten Kassen, denn sie müssen sich schließlich Unterkunft und Verpflegung beschaffen. Nicht zu vergessen auch die Spenden an die Gemeinde, die dadurch immer größer und mächtiger wird.

Der Höhepunkt aber, und hier macht Heinz eine vielsagende Pause, der Höhepunkt ist das öffentliche Zeigen der Reliquie, welches alle sieben Jahre stattfindet. Sein Geschäftsfreund in Aachen hat ihm darüber berichtet. Zu diesen Heiltumszeigungen kommen Zigtausende, Menschenmassen, die man sich nicht vorstellen kann. Da die Kirche natürlich nicht so viele Leute fasst, wird die Reliquie vom Turm aus gezeigt, und in den Straßen drängen sich die Menschen so sehr, dass jedes Mal einige tot liegenbleiben. Die Dächer der umliegenden Häuser werden abgedeckt, so dass auch von hier aus ein Blick auf die Heiltümer möglich ist und es stehen große Gerüste auf dem Platz, auf die die Menschen steigen, um besser zu sehen. Hin und wieder brechen Gerüste unter zu vielen Leuten zusammen und es gibt wiederum Tote zu beklagen. Alles in allem aber, und hier zeigt sich Heinz´ Geschäftsfreund ehrlich, bleibt durch die Pilgermassen nicht wenig Geld in der Stadt. Selbst elende Löcher voller Ratten werden teuer als Unterkunft vermietet und die zahlreichen Wallfahrer bringen Hunger und Durst mit. Man muss selbstverständlich Nahrungsmittel von außerhalb zukaufen und der Rat erlässt strenge Vorschriften über Höchstpreise und Qualität der Waren, doch es bleibt ein gutes Geschäft für Wirte und Garköche. Auch an gewöhnlichen Haustüren wird Essen verkauft.

In der Werkstatt des Goldschmiedes entstehen schon erste Pläne für den Reliquienschrein. Am Kump bricht ein Streit darüber aus, ob man die Kirche umbenennen müsste von St. Marien in St. Hildislaus, denn das ist der Name des Heiligen, von dessen Knochen Bruder Benedikt einige in seinem unscheinbaren Päckchen mit sich führt und deren Hälfte er der Stadt angeboten hat. Die Gegner der Umbenennung führen als Argument ins Feld, dass es nirgendwo im bekannten Umkreis eine St.-Hildislaus-Kirche gibt und man der Mutter Maria doch nicht die Kirchenweihe wieder abnehmen kann, nur weil der Zufall das Augenmerk auf einen neuen Heiligen richtet. Zudem stehe Maria bei Gott höher im Ansehen als ein Märtyrer, den die Römer fingen und lebendig brieten, weil er den Aposteln immer wieder zu Hilfe kam und gleich ihnen lehrte und den christlichen Glauben verbreitete. Dagegen sprechen die anderen, dass gerade St. Hildislaus, den bisher kaum jemand kennt, eine Steigerung seiner Bekanntheit nötig hätte. Und außerdem, St. Hildislaus ist da und Maria weit fern. Der Streit wird laut und erst der Nachtwächter, der schon um die Ecke kommt und auf Ruhe besteht, löst die Versammlung kraft seiner Autorität, oder vielmehr der Autorität seines Wolfshundes, auf. Käthe hockt noch spät bekümmert an der Seite ihres schnarchenden Bockes im Stall, dessen Befinden sich nicht verändert hat.

Auch in den Häusern reden sie sich die Köpfe heiß. So beispielsweise bei Bauer Kunz, der seiner Frau Hilda nach dem Kirchenbesuch von der neuen Entwicklung erzählt hat. Hilda selbst konnte nicht mit zum Gottesdienst gehen, den der kranke Schwiegervater benötigt ihre Pflege auch an Feiertagen ohne Pause. Am Kump und auf der Straße hat sie dann von den Nachbarn noch so manches gehört, wovon ihr nun der Kopf schwirrt. Nun sitzt die Familie auf der Bank vor dem Haus in der Abendsonne, das Fenster geöffnet, damit man den Großvater rufen hört, und die Nachbarn haben sich dazugesellt. Keiner der Anwesenden kann sich solch ein Getümmel vorstellen, wie Heinz das beschrieben hat, aber jeder macht sich so seine Gedanken. Und Gedanken haben es so an sich, dass einige klug sind und andere dumm, man sie aber im ersten Moment oft nicht auseinanderhalten kann. Glücklicherweise kommt meist sofort jemand daher, der diese Entscheidung trifft, sobald man den betreffenden Gedanken laut äußert.

So lässt Kunzens Magd verlauten, dass sie noch nie von St. Hildislaus gehört hat. Sofort fährt die Nachbarin Rolanda auf:

„Du bist ein dummes Ding, das nie die Seligkeit schauen wird! Wenn du immer schön zur Kirche gingest, anstatt den Burschen hinterherzulaufen, würdest du die Heiligen kennen, wie es sich geziemt! Hast du nicht gehört, das St. Hildislaus der Wohltäter der Apostel war, gerade nach Himmelfahrt, als sie ohne Führung umherirrten, hielt er sie zusammen, und es ist ihm zu verdanken, dass sie sich wieder fingen, das Pfingstwunder annahmen und ihren Lehrauftrag in die Tat umsetzten. Ohne St. Hildislaus gäbe es unsere heilige Mutter Kirche nicht und wir wären alle der ewigen Verdammnis preisgegeben! Und du sagst, du kennst ihn nicht!“

Nachbar Dietrich, der seine Frau während der flammenden Rede verdutzt angestarrt hatte, schüttelt den Kopf. „Deine Frömmigkeit erstaunt mich, Weib. Und vor allem, was du so auf einmal alles über diesen Heiligen und die Zustände im Heiligen Land weißt. Bisher hast du jedenfalls noch nie davon gesprochen.“ 

„Ach, du hörst ja nie zu, wenn ich etwas sage. Und das größte Wunder, was uns der Heilige geschehen lassen könnte, wäre, wenn du auf einmal Verstand in deinen alten Kopf bekämest!“ giftet seine Ehehälfte.

Kunz, dem das zu ungemütlich wird auf seiner Bank, fragt deshalb dazwischen: „Und weshalb will der Mönch nun die Knochen verkaufen? Der soll das doch eigentlich in sein Kloster zurückbringen. Was, wenn er da mit leeren Händen und ohne Prior ankommt?“

Wieder weiß Rolanda die Anwort: „Kunz, was bist du doch ein Schafskopp! Der ehrwürdige Bruder will uns doch nicht alle Reliquien verkaufen, bloß einen Teil davon, so wie er es bei den Thyphus-Kranken gemacht hat. Er hat dann immer noch genug für sein Kloster, und da will er jetzt eilig hin. Er ist ja schon ein Jahr weg, und da oben in Friesland haben sie die ganze Zeit nichts von ihm gehört. Die wissen ja auch gar nicht, dass der Prior umgekommen ist und ob der Handel überhaupt erfolgreich war. Von dem Erlös kann er sich ein Pferd kaufen, damit er schneller heimreisen kann und dann bleibt noch Geld übrig, um einen Schrein für die Heiligtümer anzufertigen. Die kann man ja nicht nur so herumliegen lassen, die müssen in einer kostbaren Schatulle aufbewahrt werden.“

„Tja,“ meint Hilda, so einen Schrein brauchten wir doch dann auch. Der ist sicher teuer. Wo soll das Geld denn alle herkommen?“

Jetzt ist es Dietrich, der sich zu Wort meldet. „Also, zur Not könnte die Stadt auch etwas borgen, wenn wir es sonst nicht aufbringen können. Wenn dann die Wallfahrer kommen, bringen sie uns schon genug Geld wieder herein, damit wir das zurückbezahlen können. Und wir könnten das Geld sparen, das wir jetzt für die Krüppel hergeben müssen, weil die ja nur vor den Reliquienschrein gebracht werden müssen, und schon sind die wieder gesund und können selber arbeiten.“

Kunz brummt vor sich hin. „Das glaube ich erst, wenn ich es selber sehe. Und mein alter Vater wird wieder jung und springlebendig, willst du mir das weismachen? Sieh dir die Kranken rundum doch mal an: Einige davon haben schon einmal eine Wallfahrt gemacht und auf Heilung gehofft, doch sie wurden genauso elend wieder auf dem Karren heimgefahren, wie sie ausgezogen sind. Ich kenne keinen, der vom Wallfahren gesund geworden ist.“

„Kunz!“ Die Nachbarin ist empört. „Bist du so kleingläubig wie die Krüppel selber? Daran liegt es nämlich: Nur, wer den rechten Glauben hat, dem wird geholfen. Da müssen bestimmte Heilsgebete gesprochen werden und Weihrauch braucht man auch. Wenn aber der tiefe Glaube fehlt, bleibst du eben Krüppel, und es geschieht dir recht! Außerdem, denk doch mal an die Frau Bertha, die keine Kinder haben konnte. Sie ging zur Wallfahrt und pünktlich neun Monate später hatte sie einen Sohn.“

„Ich jedenfalls würde nicht damit rechnen, dass wir große Summen aus der Armenpflege sparen werden. Und das Schuldenmachen will mir auch nicht schmecken. Am Ende müssten wir das Geld noch von den Juden nehmen, und das ist widersinnig.“ meint Hilda. Eigentlich will sie noch weiter sprechen, denn ihr liegt etwas auf der Zunge über den Sohn von Frau Bertha, den schwarzhaarigen Sprößling blonder Eltern, aber an dieser Stelle ruft der Schwiegervater und sie muss ins Haus gehen. Da es schon spät geworden ist, nehmen die Nachbarn das als Zeichen zum Aufbruch und gehen nach Hause. Heilige hin oder her, morgen früh kräht wieder der Hahn.

Es ist aber nicht ein Kikeriki, das die braven Bürger beim ersten Morgenlicht weckt, sondern ein ganz anderer Ruf. „Ein Wunder! Ein Wunder!“ ruft Käthe und rennt die Straßen auf und ab, so schnell sie ihre alten Beine tragen. „Ein Wunder! Der Herr hat ein Wunder geschehen lassen!“

Sofort eilen die ersten Leute, noch nicht ganz angezogen auf die Straßen. Ein Wunder? In unserer Stadt? Das wäre ja zu schön. Einem Mann ist es gelungen, Käthe zu packen und will Näheres wissen, bevor sie mit ihrem Geschrei weiter läuft. „Der Bock, der Bock hat zwei Tage auf den Tod niedergelegen, und heute morgen ist er wieder aufgestanden und ganz gesund!“

Das ist eine Nachricht, über die man mit dem Pfarrer sprechen muss. Vater Mattes, ebenfalls durch das Geschrei geweckt, eilt herbei, die Geschichte wird wiederholt und noch ein drittes Mal wird sie vorgetragen, als der Bürgermeister im Schlafrock hinzugelaufen kommt. Dann wendet sich die ganze Gesellschaft, der sich immer mehr Leute anschließen, Käthes Ziegenstall zu. Natürlich ist der Stall zu klein, um diesen Volksauflauf zu fassen. Käthe führt deshalb den Bock auf die Straße und lässt ihn auf und ab gehen. Und tatsächlich, das Tier ist genesen. Es zwinkert zwar unwillig in die helle Sonne, die eben aufgeht, und ist auch noch sichtlich schwach auf den Beinen, aber es läuft. Und als es einen Eimer Wasser neben dem Kump stehen sieht, rennt es sogar dahin und säuft den Eimer in einem Zug leer. Gestern Abend noch hätte man keinen Pfifferling mehr für das Leben des Bockes gegeben! Wenn das kein Wunder ist!

Vater Mattes sieht das genauso. Er stimmt „Herr, wir loben Dich“ an und seine Gemeinde kniet auf der Straße nieder und singt mit. Bruder Benedikt, der aus der Kirche gelaufen kommt, übertönt mit seiner schönen Stimme alle anderen.

Die Leute, die aus dem Schlaf gerissen, noch gar nicht zur Besinnung gekommen waren, sehen den Mönch und die Erkenntnis trifft sie wie ein Schlag: Kaum, dass die Reliquien in der Stadt sind, haben wir schon ein Wunder! Es bedarf keiner weiteren Diskussionen, der Kauf ist in diesem Moment beschlossen. Über die Einzelheiten, besonders der Geldbeschaffung, kann man sich später noch Gedanken machen. Der Bock hat unterdessen den Rücken gekrümmt und die Straße gedüngt. Dann knabbert er einen Strauch an, dessen Zweige über den nächsten Gartenzaun hängen. Die Gemeinde singt noch: Großer Gott, wir danken dir, dann wird den ersten klar, dass sie im Hemd auf der Straße hocken und noch nicht gefrühstückt haben. Vater Mattes setzt  einen Termin für Mittag in der Kirche an, und ermahnt alle zu kommen. Damit sind die Schäflein und sogar der Ziegenbock vorerst entlassen und zerstreuen sich gruppenweise.

Kunzens Nachbarin Rolanda erscheint schon kurze Zeit später in Hildas Küche, das Gesicht vor Aufregung gerötet. „Na, was habe ich gestern gesagt? Die Reliquien bewirken Wunder, und das schon nach so kurzer Zeit! Das muss ein Zeichen des Himmels sein!“

Hilda, die soeben den Schwiegervater versorgt hat und noch viel Arbeit vor sich sieht, ist eigentlich gar nicht zum Schwätzen aufgelegt. „Also, ich wäre den Reliquien dankbar, wenn sie das nächste Mal den Großvater heilen könnten, und nicht einen Geißbock.“

Rolanda ist empört: „Bist du etwa unzufrieden damit? Sei nicht undankbar und führe keine solchen ketzerischen Reden. Ihr wisst doch jetzt, dass es funktioniert, also packt den Alten in die Kirche und lest die Heilsgebete. Wenn es nicht klappt, fehlt es nur am Glauben, nicht an der Wirkung des Heiligen.“

Hilda stellt einen Eimer Wasser auf den Tisch und fängt an, das Geschirr einzuweichen. „Na wie schön für den Bock, dass er die richtigen Heilsgebete kennt und auch so fest im Glauben ist. So, jetzt sei mir nicht böse, aber ich habe noch viel zu tun. Womöglich kommen heute Mittag ja schon die ersten Pilger hier angelaufen, bis dahin muss ich das Haus sauber haben.“

Bei Käthe tauchen die Pilger schon gleich nach dem Frühstück auf. Einzeln oder in Gruppen kommen sie die Straßen hoch, alle wollen den Bock sehen und sich das Geschehen von Freitag Mittag an haarklein erzählen lassen. Die alte Frau ist ganz verwirrt und geschmeichelt über so viel Aufmerksamkeit und sehr erfreut über die in Körben mitgebrachten Aufmerksamkeiten ist sie auch. Hier eine Wurst, da ein Stück Stoff, eine Speckseite oder sonstige Geschenke lassen sie die Geschichte immer wieder aufs Neue erzählen.

Schon am späten Nachmittag desselben Tages steigt Bruder Benedikt auf sein neues Pferd, das Teil seiner Bezahlung war. Er hofft, mit der Hilfe des braven Tieres noch an diesem Abend die Abtei der frommen Brüder zu erreichen, die zu Fuß mindestens einen halben Tagesmarsch nördlich liegt. Das restliche Geld, das er für die Knochen erlöste, hat er in einem Beutel unter seiner Kutte verborgen. Vater Mattes gibt ihm all seinen Segen mit und lässt ihn seufzend ziehen.

In der Zwischenzeit ist unter den Bürgern manche Meinungsverschiedenheit ausgebrochen. So meint manch einer, der eine größere Spende zum Kaufbetrag beisteuern konnte, er habe nun eine bessere Position beim Heiligen Hildislaus als der andere, der nur wenig geben konnte. Außerdem muss man sich unbedingt Gedanken machen, worin die Knochen gelagert werden sollen, denn der schöne Reliquienschrein ist ja noch nicht gebaut. Und einen Brief an den Bischof muss Vater Mattes auch unbedingt schreiben, damit der herkommt und das Wunder offiziell bestätigt. Der Pfarrer weiß erst mal nicht, wo ihm der Kopf steht in all dem Trubel. Sein schütteres Haar steht ihm wirr ab und weht im leichten Sommerwind.

Der Bischof verliert keine Zeit und schickt sofort einen seiner besten Männer, als er die Nachricht von Vater Mattes erhält. Bruder Dominian ist noch jung an Jahren, aber mit bemerkenswertem Scharfsinn ausgestattet und für seine gründliche Arbeit bekannt. Der Bruder erreicht die kleine Stadt wenige Tage später. Als er durch die Gassen reitet, glaubt er zunächst, dass in wenigen Tagen ein Jahrmarkt abgehalten werden soll. Überall stehen die Menschen beisammen und reden, hier und da werden Baracken errichtet und improvisierte Herbergsschilder mit den typischen grünen Kränzchen über den Türen aufgehängt. Insgesamt herrscht ein Gewusel und Gesumm wie in einem Bienenstock. Als Fremder erregt er sofort die Aufmerksamkeit einiger Buben, die gleich beim Tor lauern und sich auf jeden Auswärtigen stürzen, der herein reitet. Auch Bruder Dominian ist sogleich umlagert, die hellen Stimmen überstürzen sich und sein sonst sehr ruhiges Pferd tänzelt nervös herum. Schließlich gelingt es dem Legaten des Bischofs, herauszuhören, was die Jungen überhaupt wollen. Die Bengel wetteifern miteinander, wer den Fremden zur Kirche leiten darf, was auch nur eine Kupfermünze kostet. Der Mönch schüttelt den Kopf. Der Kirchturm ragt hoch über die kleinen Häuser auf und die Straßen verlaufen halbwegs gerade und übersichtlich, so dass er den Weg durchaus auch allein findet, zumal man sich in diesem Städtchen nun wirklich nicht verirren kann.

Vater Mattes steht eben vor der Kirche und berät sich mit dem Stadtrat darüber, ob es sinnvoll sei, eine Herberge nahe der Kirche aufzubauen, die den auswärtigen Pilgern zur Nacht Unterkunft bietet. Dazu müsste man dann aber eines der hier stehenden Häuser kaufen und abreißen, denn der Platz ist begrenzt. Das Pfarrhaus kommt dafür natürlich nicht in Frage, auch nicht Käthes Ziegenstall, wo das Wunder ja seinen Anfang nahm. Am besten, eines der gegenüberliegenden Häuser, aber auch nicht die Zehntscheune oder den Laden von Kaufmann Heinz, denn hier soll sich der Handel mit den Pilgern konzentrieren, wenn der Laden erst mal erweitert ist....

Da der Geistliche und die Ratsherren so in ihr Gespräch vertieft sind, dass sie ihn nicht bemerken, steigt Bruder Dominian vom Pferd und tritt auf die Gruppe zu. Seine Kutte öffnet ihm den Weg direkt auf Vater Mattes zu. Der erkennt auch sofort das Zeichen des Bischofs auf dem Schriftstück in der Hand des Bruders und sinkt auf das Knie. Der Legat hält sich nicht mit langen Vorreden auf, zeigt sich erfreut, dass er auf einen Schlag alle wichtigen Leute angetroffen hat und drängt auf eine Unterredung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, am besten im Rathaus. Und anschließend will er alles besichtigen, was mit der wundersamen Genesung des Bockes zu tun hat, denn seine Aufgabe ist die gründliche Untersuchung des Falles, bevor der Bischof selbst sich damit befasst.

Vater Mattes und die Ratsherren ziehen ob des energisches Auftretens des jungen Mönches die Luft ein und sehen sich unsicher an. Was will der Abgesandte wohl alles wissen? Und warum spricht er von genauer Untersuchung? Reicht es denn nicht aus, die Vorgänge so zu schildern, wie Vater Mattes das in seinem Brief schon getan hat? Der Bürgermeister winkt einem Burschen, der das Pferd des Bruders versorgen und unterstellen und das wenige Gepäck ins Pfarrhaus bringen soll, dann marschiert der Mönch auch schon mit festen Schritten auf das Rathaus zu und die anderen müssen sich sputen, wenn sie nicht den Anschluss verlieren wollen.

Wiederum freut sich der Wirt über die große Bestellung von Mahlzeit und Getränken für das Gespräch mit dem neu eingetroffenen Gast. Die Knochen lohnen sich schon.

Zwei Stockwerke höher lässt sich Bruder Dominian noch einmal alle Einzelheiten der Ereignisse schildern, fragt nach, nickt, und macht sich unablässig Notizen. Nur selten nimmt er einen Schluck von dem Wein, den der Wirt heraufgebracht hat. Statt dessen schreibt er sich auf, wen er noch als Zeugen befragen und welche Orte er besichtigen will. Vater Mattes und der Rat sehen sich immer wieder verunsichert an. Was will der Mönch denn noch? Der Bock steht wieder fest auf seinen vier Beinen, und er hat auch schon seine Pflichten wieder aufgenommen und eine Geiß gedeckt. Die alte Käthe hat auch gleich dafür die Deckgebühr erhöht, denn es sind ja keine gewöhnlichen Zicklein zu erwarten, sondern der Nachwuchs des Wunderbockes.

Bruder Dominian schreibt stur alles auf, was man ihm zum Thema sagt, sein Gesicht bleibt dabei aber völlig unbewegt. Nach einer Stunde verlangt er die Örtlichkeiten und den Bock zu sehen. Die ganze Gesellschaft macht also einen Rundgang zur Kirche und zum Stall, zahlreiche Bürger schließen sich dabei an und Käthe wiederholt wortreich die Geschichte von der schrecklichen Krankheit und der Heilung ihres Tieres. Wieder macht sich der Mönch Notizen, dann ist es Zeit für die Abendandacht. Aufgrund des hohen Besuches ist die Kirche wiederum rappelvoll. Vater Mattes strahlt. Seine Schäflein sind in letzter Zeit sehr an Glaubensdingen interessiert. Im Anschluss an die Messe stellt der Pfarrer der Gemeinde den Besucher vor und ermahnt alle, ihn bei seiner Arbeit nicht zu behindern und ihm Auskünfte zu geben, wenn er welche wünscht. Dann bittet Bruder Dominian, der ja schon den ganzen Tag unterwegs war, sich in seine Kammer zurückziehen zu dürfen, denn er sei rechtschaffen müde.

Zwei Fragen hat er aber noch: „Ist die Kirchentür nachts abgesperrt und hat Bruder Benedikt die Kirche öfters allein aufgesucht?“ Vater Mattes nickt. Ja, das Haus des Herrn steht seinen Kindern immer offen, und davon hat der fromme Mann auch reichlichen Gebrauch gemacht. Oft hat Mattes ihn im Gebet vor dem Altar gefunden, sogar nachts zur Laudes, hat der Bruder die Kirche aufgesucht, wenn alle anderen sich behaglich in den Betten umdrehten. Oh, auch Vater Mattes ist um diese Stunde liegengeblieben, er hat seinen Gast nur immer leise hinausgehen und später wieder hineinkommen hören.

Am nächsten Morgen verlangt Bruder Dominian die Reliquien selbst zu sehen. Davon sind Vater Mattes und die Bürger peinlich berührt. Andererseits hat der Mönch ein Schreiben des Bischofs dabei, das ihm alle Vollmachten gibt und das man respektieren muss. In Ermangelung des Reliquienschreines hat man die Knochen erst mal in einer großen Schmuckschatulle untergebracht, und diese ist in einem vergittertem Hohlraum hinter dem Altar vor Diebstahl geschützt untergebracht. Bruder Dominian lässt die Schatulle öffnen, sieht sich die Überreste des Heiligen an und sagt wie immer weder durch Worte noch durch Gesichtsausdruck das mindeste.

Den ganzen Tag ist er in der Stadt unterwegs, befragt diesen, befragt jenen und hält die Antworten schriftlich fest. Auch Kunz muss von seiner ersten Begegnung auf dem Feld berichten. Leicht verwundert gibt er auch Auskunft über das Gepäck des Mönches, das hauptsächlich in kleinen Beuteln an seinem Gürtel befestigt war. Nein, ein großes Päckchen war nicht dabei, nur die vielen kleinen, die viele Wandermönche mit sich tragen. Sonst kann sich Kunz an nichts besonderes erinnern. Ein merkwürdiges Gefühl, als ob Bruder Benedikt von einer außergewöhnlichen Kraft begleitet worden sei? Der Bauer schüttelt den Kopf, ihm ist nichts aufgefallen und seinem Ochsen auch nicht.

In diesem Moment drängt sich Rolanda in die Stube, die offenbar bei Hilda in der Küche gestanden und die Unterhaltung belauscht hatte. „Aber ich, Herr Mönch, ich habe es gleich gemerkt. Da war so ein Leuchten um den guten Bruder, und so eine ruhige Kraft. Da fühlte man sich gleich viel besser, so beschützt und sicher, und meine Zahnscherzen haben aufgehört in dem Moment, als der Bruder vor dem Haus vorbeiging!“ Kunz, der diesen Auftritt in seiner Stube verwundert beobachtet hat, wird ärgerlich. „Rolanda, Zahnschmerzen hattest du zwei Tage, bevor der Mönch gekommen ist, und sie waren schon an dem Morgen wieder weg. Der Mönch kam aber erst am Nachmittag.“

„Nein, Kunz, wie kannst du so etwas sagen? Ich hatte noch am Abend Zahnweh und betete um Gottes Hilfe dagegen, und als der Mönch vorbeiging, waren sie weg, wie wenn man eine Kerze auspustet. Jetzt lüge doch nicht so vor dem Prüfer des Bischofs, ich werde doch wohl selber wissen, wann mir die Zähne wehtun. Und ich sage, eigentlich was das das erste Wunder, und nicht der Bock!“

Nun mischt sich auch Hilda ein: „Ja, Rolanda, es hat dir ja sowieso noch nie gepasst, wenn du in irgendeiner Sache nicht die erste warst. Also hat die Reliquie brav zuerst deine Beißer geheilt, und sich danach  erst um den Bock gekümmert. Und aus lauter Bescheidenheit hast du nichts gesagt, sondern gewartet, bis der Legat vom Bischof da ist. Du weiß doch, das du dem Bruder deine Zähne als Beweismittel in die Hand geben musst, damit er sie mit zum Bischof nehmen kann? Ich habe die Zange vom Barbier zufällig hier, dann können wir das sofort erledigen.“

Rolanda hält erschrocken die Hand vor den Mund, stottert und sieht hilfesuchend Bruder Dominian an. Der lächelt Hilda ermutigend zu und zieht eine kleine Schatulle aus der Kutte. „Wieviele Zähne sind es denn? Werden sie hier hineinpassen?“ Rolanda sieht sich nach einem Fluchtweg um, doch an der Tür stehen Kunz und der Bruder, Hilda rückt schon den Stuhl für das Zähneziehen zurecht und legt ein Leintuch auf den Tisch. Das Fenster ist zu klein, um da schnell herausspringen zu können. „Nein!“ schreit Rolanda, schubst Kunz von der Tür fort und rennt im nächsten Moment auch schon über die Straße davon.

Später, als Bruder Dominian in der Kirche allein ist, laufen ihm die Lachtränen über das Gesicht. Immer wieder sieht er das entgeisterte Gesicht von Rolanda vor sich, und ein neuer Lachkrampf schüttelt ihn, wenn er an ihre Flucht denkt. Solche Leute haben sich ihm zwar schon öfter bei seiner Arbeit in den Weg gedrängt, aber Hildas Methode muss er sich unbedingt merken. Wieder packt ihn das Lachen und er wischt sich die Augen und blinzelt, um wieder klar sehen zu können. Dabei fällt sein Blick in die Sakristei, deren Tür offensteht, weil Vater Mattes zuvor darin war und plötzlich weggerufen worden ist. Und noch etwas fällt ihm dabei ins Auge, das er bisher übersehen hat. Als er eine knappe Stunde später die Kirche wieder verlässt, ist seine Kutte staubig. Noch mehr wundern sich die Leute jedoch darüber, dass er Käthes Ziegenbock an einer Leine führt, nein, besser gesagt, der Bock führt den Mönch.

Am Abend dieses Tages ruft Bruder Dominian Vater Mattes und den Stadtrat zu sich, um ihnen mitzuteilen, dass der Legat des Bischofs seine Arbeit an diesem Ort beendet hat.

Kunzens Mägde, die wie immer am frühen Morgen Wasser vom Kump geholt haben, haben am Brunnen die Nachricht gehört, die sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt ausbreitet. Sie erzählen Kunz und Hilda im Kuhstall davon. Sie wissen aber keine Einzelheiten und Hintergründe zu nennen, soweit ist die Gerüchteküche so früh am Morgen noch nicht in Gang. Nach dem Frühstück beschließt Kunz, sich selbst einmal umzuhören, denn Rolanda, die ihn sonst immer ungefragt auf dem laufenden gehalten hat, hat seit gestern Nachmittag ihr Haus nicht mehr verlassen, und selbst Dietrich, ihr Mann, der jeden Morgen bei Kunz hereinzuschauen pflegt, hat sich nicht gezeigt. Kunz hat ihn mit eingezogenen Schultern zwar auf dem Hof seiner Arbeit nachgehen sehen, doch gesprochen hat Dietrich mit niemanden, nicht einmal die Grüße der Vorübergehenden beantwortet.

Ganz gegen seine Gewohnheit bleibt Kunz lange aus, als er in der Stadt seine Besorgungen macht, beim Schmied eine neue Hacke bestellt, und endlich die Rechnung des Schneiders begleicht. Als er wieder ins Haus tritt, zuckt es in seinem Gesicht, als ob dort jede Sekunde ein gewaltiger Sturm losbrechen wollte. Und der bricht auch los, kaum dass der Bauer die Stubentür hinter sich zugezogen hat. Die Mägde zucken in der Küche erschrocken zusammen, Hilda lässt das Messer fallen und der alte Vater richtet sich verwundert im Bett auf. Sie alle kennen Kunz als einen Mann, der schwer arbeitet, die seinen zuverlässig versorgt und nicht viele Worte macht. Selten hat man ihn zornig gesehen, und nun zittert das Haus unter seinem lauten Ausbruch. Es dauert einen Moment, bis sie das Geräusch als das erkennen, was es ist: Kunz lacht, dass die Dachbalken wackeln. Dabei schlägt er sich auf die Schenkel, lässt sich auf die Bank fallen und hält sich den Bauch, während ihm die Tränen über das Gesicht laufen.

Es dauert eine geschlagene halbe Stunde, bis er sich soweit beruhigt hat, dass er seinen Hausgenossen die Geschichte in voller Länge erzählen kann:
„Also, das mit der Reliquie, das war ein großer Betrug. Da haben wir alle unsere letzten Groschen zusammengekratzt, um ein paar alte Knochen zu kaufen, die uns schon längst gehören!“
Hilda versteht nicht ganz. „Die uns schon längst gehören? Wie meinst du das denn?“
„Ja, liebste Hilda, der zweite Mönch, Bruder Dominian, der ist ein gelehrter Mann und hat viele Sachen studiert. Der hat sich die Knochen zeigen lassen und hat gleich erkannt, dass die gar nicht so alt sein können, wie sie eigentlich sein müssten. Sie waren nicht versteinert, sondern feucht und im Verfall, so als ob sie in einer feuchten Gruft gelegen hätten und nicht in der heißen Wüste. In der Kirche hat er dann eine Spinnwebe gesehen, die zerrissen in der Tür zum Beinhaus hing, also musste vor kurzem einer da reingegangen sein. Er wusste aber, dass Vater Mattes das nicht war, weil der sich vor dem Beinhaus graust. Der Bruder ist also mit einer Fackel da runter gegangen und hat frische Spuren gefunden. An einem Sarg war ein Loch in die Seite gehauen, und da hat er sich Werkzeug geholt und den Sarg ganz aufgemacht. Es fehlten die Knochen der rechten Hand, und oben in der Kirche lagen in der Schatulle Knochen, die zu einer rechten Hand gehören, nämlich zu diesem Toten in dem zerhauenen Sarg. Es war übrigens unser alter Ritter Hildebrand Stanislaus. Daher stammt dann wohl auch der komische Name, den der Betrüger-Mönch in aller Eile dem falschen Heiligen gegeben hat. Einen Heiligen Hildislaus hat es nie gegeben, der ist komplett erfunden. Und keiner hat sich getraut, die Geschichte anzuzweifeln, nur weil das ein Mann in einer frommen Kutte erzählt hat! Das ist das beste daran!“ Wieder schlägt Kunz sich auf  den Schenkel. Die anderen erinnern sich an Rolandas Strafpredigt gegen die Magd und lachen mit.

„Und was war mit dem Bock?“ fragt die jüngere Magd.
Kunz kann nicht antworten, denn ein neuer Lachkrampf schüttelt ihn. Dann beruhigt er sich etwas und meint: „Erinnert ihr euch an den Einbruch im Ratskeller, wo der Branntwein gestohlen worden ist? Das war der Bock, und er war zwei Tage sturzbesoffen! Der Mönch ist dahintergekommen, als er mit dem Vieh zum Ratskeller gegangen ist. Der Bock kannte den Weg und wollte gleich nach dem Fass. Das Wunder war nichts als ein trunksüchtiger Geißbock!“
„Und was nun?“ will Hilda wissen.
„Tja, es wird wohl so weitergehen, wie es vorher gegangen ist. Eine Zeit lang ist vielleicht der eine oder andere etwas kleinlauter als sonst, so wie zum Beispiel Rolanda. Würde das länger andauern, dann hätten wir wohl ein echtes Wunder. Und heute wird in vielen Küchen mit Bretterholz gekocht, auf das ein grünes Kränzchen gemalt war. Bruder Dominian sagt übrigens, dass wir bei weitem nicht die einzigen sind, die auf eine falsche Reliquie hereingefallen sind. Das scheint sogar ziemlich weit verbreitet zu sein, und immer wieder verdienen die Betrüger einen Haufen Geld damit. Laut Bruder Dominian müsste der Haufen von Holzsplittern, die angeblich alle vom Kreuz Jesu stammen, höher und breiter sein als ein Haus, wenn man sie alle zusammen hier auf den Hof schütten würde. Er selbst hat schon drei solcher Splitter gesehen, und sie stammen von drei verschiedenen Baumarten. Sogar Tannenholz war dabei. Dabei gibt es im Heiligen Land keine Tannen, aber wer weiß das hier schon? Andererseits, wenn der Glaube Berge versetzen kann, warum nicht auch eine Tanne? Unseren Misthaufen wird aber nicht der Glaube auf das Stoppelfeld versetzen, sondern harte Arbeit. Am besten, wir fangen gleich damit an.“

Kommentare  

#1 Mikail_the_Bard 2011-05-03 00:22
Schöne Geschichte, aber so ähnlich passierte das wirklich damals. Vor allem nach einem Kreuzzug wurde an Gläubige Reliquien verkauft. Vom Holzsplitter des Kreuzes bis zum Stroh aus der Krippe Jesus - es war alles dabei. Das Gleiche machte man mit den Heiligen.
Aber heute ist das ja auch ähnlich: die Unterhose von Elvis, der Lockenwickler von Merlin Monroe, der Fingenagel von Robbie Williams usw... es gibt Leute die gegen Unsummen dafür aus.
Glaube ist was schönen, man solls nur nicht - wie bei allem - damit übertreiben.
#2 Lefti 2011-05-03 08:21
Zitat:
...der Lockenwickler von Merlin Monroe...
Ups... Wußte gar nicht, daß der olle Merlin aus Camelot mit Nachnamen Monroe heißt... :-* :-* :-*

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