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Wahnsinn

StoryWahnsinn

Die verzweifelten Versuche der jungen Frau, in ihrer Handtasche nach einem Lippenstift zu suchen, machten Edward Wallace total nervös.
Seit knapp zehn Minuten saß er der jungen Frau nun schon im Zugabteil gegenüber. Und während dieser Zeit hatte sie nichts anderes zu tun als in ihrer Handtasche herum zu kramen.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich eine Zigarette anzuzünden. Eigentlich wollte sich der junge Geschäftsmann das Rauchen abgewöhnen, aber irgendwie liebte er alte Traditionen.
Die Frau seufzte. Sie schien endlich ihren Lippenstift gefunden zu haben und betonte damit
auch gleich ihre vollen Lippen. Ein zartes rosé färbte im Nu die blasse Haut ihres Mundes
und gab ihm einen erotischen Touch.

Dann packte sie den Lippenstift in Ihre Tasche zurück. Sie schien ihn diesmal
gewissenhafter zu deponieren, um sich eine neuerliche Suche zu ersparen. Sie lehnte sich zurück und legte ihre wohlgeformten Beine übereinander. Sie trug einen äußert knappen
Minirock, der so kurz war, das er fast unter ihrem Blazer verborgen blieb. Ihre langen Beine zogen die Blicke Edwards auf sich. Sie trug helle Nylons, die die Makellosigkeit ihrer Beine noch betonten.
Wallace mochte Frauen, die gerne zeigten was sie zu bieten hatten. Sie bemerkte
offensichtlich mit Freude die Blicke Edwards und lächelte ihn kurz an. Als sie sie sah, dass dieser das bemerkt hatte, schaute sie wieder zum Fenster hinaus, wo gerade der Gegenzug vorbei donnerte.
Wallace war zweimal im Monat im Zug unterwegs, um Bankgeschäfte in London
abzuwickeln. Zweimal im Monat nahm eine Stunde Hin- und Rückfahrt in Kauf. Aber dies war sicher angenehmer als mit dem Auto, denn der Londoner Verkehr war tödlich.
Lange waren sie noch nicht unterwegs als der Zug plötzlich stoppte.
„Hilfe, so eine abrupte Bremsung“, sagte sie junge Frau und saß aufrecht in ihrem Sitz.
„Wahrscheinlich eine Notbremsung. So was kommt vor“, erwiderte Edward. Die Dame ging auf den Gang hinaus und blickte zu beiden Seiten, konnte aber offensichtlich nichts entdecken und kehrte ins Abteil zurück. Eine ganze Weile lang sprach sie kein Wort, doch dann unterbrach sie die Stille: „Wollen Sie auch nach London?“
„Ja, aber ich habe es nicht eilig“
„Ich dafür umso mehr. Mein Freund ist Immobilienmakler und er will mir eine Wohnung  zeigen“. Edward wusste nicht, warum sie das sagte. Aber es interessierte ihn auch herzlich wenig. Darum erwiderte er darauf nichts.
„Sagen Sie, woher kenne ich Sie?“ Edward Wallace legte den Blick des angreifenden Stiers auf und antwortete nicht. Der Dame schien das völlig egal zu sein. Sie lächelte belustigt und setzte ihr Redewerk fort: „Sie wollen mir ihren Namen nicht verraten…“, stellte sie fest.
„Wenn es Sie beruhigt; ich heiße Wallace. Mit dem berühmten Kriminalschriftsteller übrigens nicht verwand und nicht verschwägert“.
Sie lachte entzückt. „Wallace. Das ist ja ein typisch englischer Name…“ Wallace hörte der redseligen Dame nicht mehr zu. Jeder andere Mann hätte sich sicher über ein Gespräch mit der hübschen jungen Frau gefreut, aber Wallace war nicht in der Stimmung. Der Zug stand ziemlich lange auf freier Strecke. Es musste doch ein schwerer wiegendes Problem sein, welches den Zug an der Weiterfahrt hinderte.
Wallace lehnte sich zurück. Warum er plötzlich müde wurde, wusste er nicht. Normalerweise schlief er in Zügen und Bussen nie. Dennoch verfiel er in einen sanften, aber schließlich doch sehr festen Schlaf.

 

****

 

Er wusste nicht was ihn weckte. Irgendetwas hatte Edward Wallace erschreckt. Wie unter einem Peitschenschlag war er hoch geschreckt. Um ihn herum war alles dunkel, aber nicht
finster. Die Schemen der Sitzgarnituren konnte er vor sich ausmachen. Das grüne Polster schimmerte leicht. Die junge Frau war verschwunden.
Wallace stand auf und merkte wie schwer ihm das fiel. Geradezu bleiern kam er auf dieFüße. Er tastete sich zur Tür vor, die auf den handtuchschmalen Gang hinaus führte. Nach wenigen Sekunden spürte er das kalte Metall des Griffes zwischen seinen Fingern. Offenbar hatte sich die Tür verkantet. Wie so oft in diesen alten Eisenbahn-Wagons. Edward musste alle Kraft aufwenden, um die nur knapp zwei Zentimeter dicke Tür zur Seite zu schieben.
Das häufige Schließen und Öffnen der Schiebetüren hatte ihnen merklich zugesetzt.
Auf dem Gang brannte nur das spärliche Licht über den Abteiltüren, und über dem WC.
Aber daran konnte sich Wallace gut orientieren.
Was war geschehen? Er erinnerte sich an die Notbremsung, nach der eine ganze Weile lang gar nichts geschah, und worauf er dann eingeschlafen sein muss. Und dann war da
noch die Frau mit den aufregend langen Beinen. Aber die war wie vom Erdboden
verschluckt. Im Zug herrschte eine eigentümliche Stille. Nichts, außer seinen eigenen Schritten war zu hören. Und der Zug stand. Unter einer der Verbindungstüren zum nächsten Waggon blieb Wallace stehen und nutzte das spärliche Licht darüber, um seine Uhr ablesen zu können. Zu seinem Bedauern musste er feststellen, das diese um 14.14 Uhr stehen
geblieben war. Der still stehende Sekundenzeiger machte ihm das unmissverständlich klar.
Jetzt war es deutlich später, denn auch draußen war es dunkel. Der Mond war nicht zu sehen. Selbst Sterne konnte Wallace, nach einem kurzen Blick aus dem Fenster, nur wenige am Firmament entdecken.


****
 

Er ging durch die Verbindungstür zum nächsten Waggon und öffnete willkürlich eine der Abteiltüren. Aber dort war niemand. So ging er weiter zum nächsten Waggon, immer in der Hoffnung irgendwo auf jemanden zu stoßen. Das Gehen fiel ihm jetzt deutlich leichter.
War er denn ganz allein in diesem Zug auf der freien Strecke? Hatte man den Zug wegen eines Defektes vielleicht evakuiert, und ihn dabei vergessen?
Oder war er eventuell gar ganz wo anders? Vielleicht schon in den Docks?
Aber nein, er befand sich auf freier Landschaft. Ein weiterer Blick aus dem Fenster
bestätigte ihm dies. Überall waren im Dunkeln Hügel auszumachen. Hier und da mal ein Baum, der in der Düsternis wie eine unheimliche Gestalt aus einer anderen Welt wirkte.
Die Spur auf der der Zug stand, war eingleisig. Die Gegenstrecke musste woanders
verlaufen, es sei denn, es gab überhaupt eine. Signalschilder befanden sich nicht in unmittelbarer Nähe. Jedenfalls konnte Wallace bei seinem Blick aus dem Fenster keine erkennen.
Als er in den nächsten Waggon kam, den dritten den er passierte, sah er am Ende des Ganges helles Licht. Im Gegensatz zu den anderen Waggons, war dieser beleuchtet. Hoffnung flammte in ihm auf. Er hastete eilig auf den vierten Waggon zu. Bevor er die Schiebetür, die schief in den Angeln hang, öffnete, warf er einen Blick durch das Glas der Scheibe. Es war der Speisewagen, mit einer modernen Theke, und einigen Tischreihen, ähnlich wie in einem Bistro.
Edward Wallace war wie betäubt vor Überraschung. An einen der Tische saß die junge Frau aus seinem Abteil. Alle anderen Tische waren leer.

 

****

 

„Was ist passiert? Können Sie mir diese Situation erklären?“, fragte Wallace die Frau nachdem er in den Waggon gekommen war zu ihr an Tisch kam. Sie sah nun ganz anders aus. Ihre Haare schienen dunkler, ihre Blicke eindringlicher. Ihr ganzes Äußeres wirkte fraulicher, gar reifer! Ihre Kleidung war die Alte.
„Setzen Sie sich doch, Mr. Wallace.“ Dieser Aufforderung kam der Geschäftsmann sofort nach. „Warum lächeln Sie?“, fragte er. „Macht Ihnen das hier etwa Spaß?“
 „Sonst hätte ich es nicht inszeniert“.
Wallace blieb die Spucke weg. „Was!?“
„Mister Wallace! Schauen Sie doch nicht so verdutzt. Ich bin Amanda Fitzgerald. Der Name sollte Ihnen doch geläufig sein.“ Auch ohne zu überlegen wusste Edward Wallace, den Namen nie vorher gehört zu haben.
„Ich bin als Druidin verschrien“, sagte sie beinahe kleinlaut. „Alle im Zug sind weg. In einer anderen Dimension. In der Wirklichkeit. Nur wir beide sind hier. Sie und ich. Ich habe uns in eine Antiwelt gezaubert. Oder besser gesagt gehext. Ich will Sie für eine Nacht. Nur in dieser Antiwelt kann ich mich Ihnen hingeben. Sie gefallen mir“. Wallace starrte sie an, wie eine Außerirdische. Aber nach ihren Aussagen waren sie ja nun auch beide Außerirdische.
Dennoch hielt Wallace das alles für einen schlechten Scherz.
„Sie wollen mich aufs Korn nehmen, was Miss? Der Zug hat eine Panne. Alle Fahrgäste sind evakuiert. Man hat uns hier vergessen. Stimmt es, Miss Fitzgerald?“
„Schade wenn es so wäre“. In ihren Augen schien es zu blitzen. Wallace rannte weg. Zum nächsten Waggon. Es war das Führerhaus. Hier brannte auch Licht, wenn auch nur matt.
Der Lokführer war nicht hier. Wallace sah zur vorderen Scheibe hinaus auf die Schienen.
Endlos schien der Strang, der vor seinen Augen im Dunkeln verschwand. 30 bis 40
Kilometer mussten es bis London sein. Zu Fuß ein Tagesmarsch. Aber er musste raus hier.
Also machte er kehrt – und erschrak. Vor ihm an der Stahlwand neben der Tür, hing ein Totenschädel. Er schien ihn anzugrinsen. Eine schleimige Masse tropfte von ihm herab. Der Kopf selbst hing an einem Fleischerhaken. Das war Wahnsinn, der absolute Wahnsinn. Ich bin wahnsinnig, schrie es in Edwards Hirn.
Er rannte wieder durch den Speisewagen, wo Amanda immer noch saß. Aber Edward lief weiter, getrieben von wilder Panik. Amanda blieb unbeweglich wie eine Puppe, und beobachtete Edwards verzweifelte Flucht aus den Augenwinkeln. Der Mann spürte wie ihn die kohlenschwarzen Pupillen verfolgten. Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen der Schönheit.


****
 

Edward riss die nächste Waggontür, die nach draußen führte auf, und sprang ins Freie. Er benutzte gar nicht erst die Tritte. Dies hatte zur Folge, dass er sich seinen Fuß umknickte. Ein stechender Schmerz raste durch seinen Knöchel.
Dennoch stand er auf. Obwohl es recht kalt sein musste, verspürte der Mann
eigenartigerweise keine Kälte. Nur der deutlich aus seinem Mund geblasene Atem verriet ihm die niedrigen Temperaturen.
Vor ihm erschien ein Licht. Ein runder Kegel, der immer näher kam und ihn zu verschlingen drohte.

 

****

 

„Es geht gleich weiter meine Herrschaften. Ein Mann hat im Zug einen Herzanfall erlitten“.
Der Mann der dies sagte, war der Schaffner. Er stand im Abteil von Edward Wallace, der sich gerade aus dem Tiefschlaf räkelte. Dann verschwand der Schaffner wieder.
„Sie haben aber fest geschlafen Mister Wallace“, sagte die junge hübsche Frau, die Wallace genau gegenüber saß. Er hatte geschlafen, ja natürlich. Alles war nur ein Traum gewesen – ein Alptraum.
„Tja, bei so spannenden Träumen will man auch gar nicht mehr aufwachen“, sagte er scherzhaft.
„Sie haben spannend geträumt? Man soll Traum und Wirklichkeit nicht durcheinander
bringen, Mr. Wallace“.
„Wie…? Oh, nein natürlich. Das sollte man nicht“. Obwohl er nicht wusste, wie sie das meinte, gab er ihr Recht.
„Ach Miss, sagen sie – es ist doch unfair, dass Sie meinen Namen kennen, aber ich nicht Ihren. Also bitte, wie heißen Sie?“
Sie lachte fröhlich. „Mein Name ist Amanda Fitzgerald!“.

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