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Der Drache auf dem Dach

StoryDer Drache auf dem Dach

Pastorin Bettina Wegner trat aus dem Pfarrhaus und blickte zur Kirche. Auf dem Dach war ein Drache. Nicht ganz so lang wie das Dach, mit einem langen Schwanz, den er locker ums Giebelkreuz geschlungen hatte. Bettina starrte den Drachen an. Der Drache starrte Bettina an. Dann drehte sich Bettina um und ging ins Pfarrhaus zurück. Setzte sich erstmal aufs Sofa. Dachte nach. Drachen gab es nicht. Aber was hatte da gerade auf dem Dach gesessen? Bettina setzte sich auf. Sie saß auf dem Sofa.


Jahrelang hatte ich mit Gott viel und mit Kirche wenig am Hut. Dann trudelte ich eines Sonntags an der Kirche bei mir um die Ecke vorbei, ging in den Gottesdienst und "blieb kleben". Die Pastorin konnte ausgezeichnet predigen und - ungelogen: Bislang konnte ihr keine(r) das Wasser reichen, was Predigen betrifft. Ich lernte ihre Kolleginnen kennen. Eine hat kurze dunkle Locken und dunkle Augen - ich assoziierte einen Kobold. Die andere ist eine würdevolle Dame und kann herrlich singen. Diese drei Damen waren die Inspirationen für die Geschichten mit Drachin und Kirche.
Der Krampus ist eine Sagengestalt aus dem Alpenraum. Er dient als Kinderschreck, damit die Kleinen artig sind und der Nikolaus sie beschenken kann. Der Krampus fragt die Eltern von Kindern dreimal, ob sie ihre Kinder freigeben. Antworten sie dreimal mit Ja, dann steckt er die Kinder in seine Kiepe und nimmt sie mit.
Dass ausgerechnet ein Drache, Symbol des Teufels, die Kirche und das Personal beschützt, fand ich reizvoll. Bislang habe ich deswegen auch keinen Ärger bekommen.Angeblich gibt es im Süden eine Kirche, die auch von einem Drachen beschützt wird. - Annika Ruf

Vielleicht war sie ja nur eingenickt und hatte alles nur geträumt. Sie trat vors Pfarrhaus und blickte zum Kirchendach. Leer. Na also, nur ein Traum! Bettina schritt aus und traf auf Frau Berger, eine ältere Dame, die Gemeindemitglied war. Sie machte einen ratlosen Eindruck. „Guten Tag, Frau Berger“, grüßte Bettina sie, „was ist los?“ „Ich habe gerade etwas gesehen, was es eigentlich gar nicht gibt. Einen riesigen Schatten, wie von einem Drachen. Aber Drachen gibt es doch gar nicht, oder?“ „Nein“, beruhigte Bettina, „Drachen gibt es nicht.“

Am Abend überlegte sie, ob zwei Leute gleichzeitig eine seltsame Halluzination haben konnten. Sicher es gab die sogenannte folie à deux. Aber traf das auch hier zu? Schließlich waren sie und Frau Berger erst NACH der Halluzination zusammengetroffen.

Zwei Personen waren ebenfalls in die Sache verwickelt. Die eine machte eine kurze Transformation durch und lag erschöpft auf dem Boden, ehe sie sich anzog und sich eine Mahlzeit zubereitete, die andere beschloss, ihren Aufenthalt in der Stadt zu verlängern.

Es war am frühen Abend, als Bettina durch die Kirche ging. Es klopfte an die Kirchentür. Sie öffnete. Ein Gemeindemitglied stand davor. „Schönen guten Abend“, Bettina freute sich, nicht so allein zu sein, „Sie sind nur etwas zu früh, der Abendgottesdienst ist erst in einer halben Stunde.“ „Glauben Sie mir, ich bin genau rechtzeitig“, erwiderte die Frau. Sie trat in die Kirche, setzte sich in eine Bank und betete. Bettina dachte sich nichts dabei und als es wieder klopfte, öffnete sie die Tür. Und hätte sie am liebsten gleich wieder geschlossen. Vor ihr stand Murat mit seiner Gang. „Hallo“, er grinste breit, „hörte, bei euch gibt es Silber!“ Die Abendmahlskelche, schoss es Bettina durch den Kopf, sie stehen schon auf dem Altar bereit. Aber der wird doch wohl nicht..?? Ganz offensichtlich wollte Murat. „Was fällt euch ein?“ schalt sie zornig, „das hier ist ein Gotteshaus!“ „Von Ungläubigen“, grinste Murat, „also, Kartoffel: Rück das Silber raus!“ „Das Silber ist eine Gabe von den Gemeindemitgliedern, die nach dem Krieg ihre Silberlöffel gegeben haben, um die Kelche zu schaffen. Wie könnt ihr es nur wagen, das stehlen zu wollen? Wir beten doch zum selben Gott.“ Murats Grinsen erlosch. Bettina kam in Fahrt. „Niemand bestiehlt euch, also lasst uns in Ruhe. Dies ist ein Gotteshaus!“ Murat erbleichte und wich zurück. Seine Freunde wurden ebenfalls unruhig und wichen zurück. Hinter Bettina erklang ein Zischen, dass an einen Bunsenbrenner erinnerte. An einen kleinen Flammenwerfer. Murat und seine Gruppe machten kehrt und nahmen die Beine in die Hand. Bettina sah ihnen leicht verwundert nach. Woher dieser plötzliche Sinneswandel? Dann hörte sie es. Hinter ihr war etwas – etwas Großes. Sie blickte hinter sich auf den Boden. Eine riesige Pranke war hinter ihr. Bettina drehte sich um. Hinter ihr war der Drache. Der Drache, der zuerst auf dem Dach gewesen war. Bettina sträubten sich die Haare. Es war eine Sache, einen Drachen auf dem Dach zu sehen, eine andere, ihn nur wenige Meter vor sich zu haben. Der Drache senkte den Kopf und näherte sich ihr langsam. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, hebe dich hinweg von mir“, sie schlug ein Kreuz und streckte dem Drachen die Linke abwehrend entgegen. Die Drachennase berührte ihre Hand. Bettina durchzuckten mehrere Empfindungen. Die Drachennase war warm und weich. Körperkontakt gleich Kommunikation. Der Drache verhielt sich vorsichtig, stand ganz still. Bettina riss ihre Hand zurück. Der Drache senkte den Kopf und schob ihr seine Nase entgegen, bis sie ihn wieder berührte. Körperkontakt gleich Kommunikation, Sie müssen mich berühren, dann können wir reden. „Was ist mit ihr geschehen?“ Bettina fand das Gemeindemitglied nicht mehr. Leises Lachen. Steht doch VOR Ihnen. Bettina verstand. Das Gemeindemitglied WAR der Drache. Sie blickte in die Drachenaugen, die bronzefarben mit Gold überhaucht waren. Senkrecht geschlitzte Pupille. „Wieso verwandeln Sie sich in einen Drachen? fragte sie und legte eine Hand auf die Nase des Geschöpfes. Ich ahnte, dass der Kirche und Ihnen Gefahr droht – da bin ich gekommen und habe mich in der Kirchenbank verwandelt. Offenbar hat diese Gabe direkten Anschluss an mein Herz. Zum freien Willen ist nur ein Wackelkontakt. Diese Wortwahl ließ Bettina schmunzeln. „Das heißt, Sie können sich nur selten aus freiem Willen verwandeln, aber wenn dieser Kirche und/oder mir Gefahr droht, verwandeln Sie sich?“ So ist es. Ich weiß, ein Drache ist in unserem Katechismus das Symbol des Teufels, aber ich fühle mich nicht teuflisch. „Nun, das gilt ja auch für die Schlange und die meisten sind harmlose Reptilien.“ Kommt auf die Spezies an, die meisten einheimischen Schlangen sind eher harmlos, aber weiter südlich gibt es mehr Gift und besonders Australien ist die Giftküche der Erde. Bettina strich dem Drachen über den Hals. Ich muss mich zurückverwandeln. Ich gehe dann mal zwischen die Kirchenbänke. Der Drache zog sich etwas zurück und Bettina schloss die Tür. Etwas später trat das Gemeindemitglied zu ihr. „Danke für Ihre Hilfe“, flüsterte Bettina. „Gerne“, gab die Frau zurück. Dann zögerte sie. „Möchten Sie mal auf einem Drachen reiten?“ „Auf einem Drachen?“ Bettina war verwundert. „Natürlich. Wenn ich mich mal aus freiem Willen verwandeln kann, gebe ich Ihnen Bescheid, was halten Sie davon?“ „Ich weiß nicht, ob ich mich da halten könnte“, erwiderte Bettina. Die Frau schmunzelte. „Dann schlingen wir doch einfach ein Band oder einen Riemen um den Hals. Ich melde mich bei Ihnen.“

„Wir haben den Drachen noch nicht gefunden, Hoheit.“ „Aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass er hier in dieser Stadt ist. Wir müssen ihn finden.“

Der Anruf kam und Bettina war aufgeregt, gleich würde sie auf einem Drachen reiten. Sie hatte robuste Kleidung an und einer Eingebung folgend auch ihre Skibrille aus dem Schrank geholt. Der Drache – oder besser die Drachin hatte sich gerade verwandelt und gesellte sich zu ihr. Bettina legte die Hände auf den Hals der Drachin. „Alles klar, wir können starten.“ Die Drachin blickte sie an. Schutzbrille? Gute Idee. „Ich habe mehrere Gürtel gesammelt und zusammen geschlossen. Wenn Sie gestatten, schlinge ich sie Ihnen nun um den Hals.“ Kein Problem. Ich melde mich, wenn ich keine Luft mehr kriege. Bettina nahm die Gürtel und schlang sie um den Hals der Drachin, schloss die Schnalle und stieg einfach auf. Machte es sich bequem und setzte die Schutzbrille auf. Die Drachin spannte die Muskeln und warf sich in die Luft. Bettina hielt sich fest und spürte, wie die Muskeln der Drachin arbeiteten und dann – Gleitflug. Bettina fühlte sich fantastisch. Unglaublich, was ich hier oben alles wahrnehmen kann. „Wie meinen Sie das?“ fragte Bettina verwundert. Schließen Sie die Augen, spüren Sie es. Bettina tat es. Und wusste plötzlich, was die Drachin meinte. Sie nahm die Umgebung viel schärfer und intensiver wahr. Bettina verschmolz mit der Drachin, vertraute ihr. Die Drachin war eine Person, ein Wesen mit Geist und Seele.

„Ich glaube an Gott, den Vater,
den Allmächtigen,
den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Und an Jesus Christus,
seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,
empfangen durch den Heiligen Geist,
geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus,
gekreuzigt, gestorben und begraben,
hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten,
aufgefahren in den Himmel;
er sitzt zur Rechten Gottes,
des allmächtigen Vaters;
von dort wird er kommen,
zu richten die Lebenden und die Toten.
Ich glaube an den Heiligen Geist,
die heilige christliche Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden,
Auferstehung der Toten
und das ewige Leben.
Amen.“

Bettina fragte sich noch, woher das Glaubensbekenntnis kam, da hörte sie:

„Vater unser im Himmel
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich
und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen.“

Bettina durchfuhr es wie ein Stromschlag. Die Drachin sprach! „Sie sprechen ja“, rief sie und hielt sich an den Gürteln fest. „Yep“, gab die Drachin zurück, „ich habe endlich einen Sprechapparat ausgebildet und dachte, Glaubensbekenntnis und Vaterunser wären passend, schließlich trage ich eine Pastorin auf dem Rücken.“

Irgendwo sprach jemand aufgeregt ins Handy. „Hoheit, ich habe den Drachen gefunden. Er scheint allerdings bereits eine Vertraute zu haben. Eine Frau mit dunkelblondem Pferdeschwanz.“ „Findet den Drachen und die Frau. Irgendwo müssen sie eine Basis haben.“

Drei Tage später genoss Bettina erneut einen Ritt auf der Drachin. „Ich stelle einige Veränderungen bei mir fest, die mir Sorgen machen“, erklärte die Drachin leise. “Inwiefern?“ „Ich entwickele eine Vorliebe für glänzende Metalle und funkelnde Juwelen.“ „Oh“, Bettina wusste nicht, was sie erwidern sollte. „Zum Glück habe ich Modeschmuck und Deko-Kristalle – die anzusehen, beruhigt. Aber was mache ich, wenn ich anfange, Dinge … zu stehlen? Oder schlimmer, zu rauben?“ Bettina überlegte und wählte ihre Worte sorgfältig: „Ich kenne Sie zwar noch nicht so lange, aber ich schätze, Sie sind eine ehrliche aufrichtige Person. Dass Sie sich Sorgen machen, zeigt ja sehr deutlich, dass Sie das ablehnen. Selbst als Drachin haben Sie Ihren menschlichen Verstand behalten.“ „Stimmt.“ „Dann meine ich, dass Sie auch soviel Selbstkontrolle haben, eben NICHT zu stehlen oder rauben. Sie haben ja auch neulich die Kelche geschützt.“ „Stimmt. - Ich spüre, wie bei mir eine Rückverwandlung einsetzt. Was halten Sie von einem Tee oder Kaffee?“ „Eine Menge“, lachte Bettina. „Gut, Kurs: Heimat!“ Die Drachin flog eine elegante Kurve und steuerte auf eine Häuserreihe zu. Bremste ab. Schrumpfte. Bettina spürte, wie der große Drachenkörper unter ihr langsam verschwand. Kleiner wurde. Die Drachin wurde zu einem Mischwesen, halb Mensch halb Drache und steuerte auf einen Balkon zu. Bettina spürte, dass die Drachin sich nun konzentrieren musste und sagte nichts mehr. Die Drachin schrumpfte weiter, hatte schließlich die Ausmaße eines hochgewachsenen Menschen, glitt über die Balkonbrüstung und dann standen sie vor der Balkontür.  Als Bettina gerade fragen wollte, wie sie denn nun hineinkommen sollten, drückte die Drachenfrau die Tür einfach auf und ging hinein. Währenddessen wurde sie mehr und mehr Mensch, verlor die letzten Drachenattribute und warf sich einen schwarzen Bademantel über. „Machen Sie es sich bequem“, sie deutete aufs Sofa, „Tee oder Kaffee? Ich kann auch heiße Schokolade machen.“ „Ein Tee wäre nett“, Bettina staunte über den Vitrinenschrank. Goldene Ketten mit Strass besetzt, geschliffene Glasprismen und künstliche Perlenketten. „Mein Hort, wenn man so will“, erklärte die Gastgeberin und machte Tee, „wenn ich das alles ansehe, ist der Drache in mir zufrieden.“ Der Wasserkocher tat seine Pflicht, Schwarztee wurde in den Filterbeutel gefüllt und Milch aus dem Kühlschrank geholt. „Nehmen Sie Zucker? Ich habe auch Süßstoff, Kandis oder Honig da.“

Während die beiden Frauen Tee tranken und Kekse knabberten, geriet der Mann, der „Hoheit“ genannt wurde, in Aufregung. „So nahe, wir sind dem Ziel so nahe!“ Zwei schlanke Arme schlangen sich um seine Taille. „Geduld. Der Drache wird lokalisiert.“ Doch es dauerte noch eine Woche, bis die Vertraute des Drachens gefunden wurde.

Bettina dachte über ihre neue Freundin nach. Eine Frau, die sich in einen Drachen verwandeln konnte. Noch vor wenigen Monaten hätte sie das für verrückt gehalten. Aber dann erinnerte sie sich an den Zwischenfall mit Murat. Der mittlerweile für einige Monate im Knast saß.

Ein Auto hielt neben ihr. Will da jemand nach dem Weg fragen? dachte sie und trat näher. Ein Mann mit asiatischen Zügen stieg aus. „Einen schönen guten Tag“, er sah sie lächelnd an. Bettina erwiderte das Lächeln. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte sie freundlich. „Ja, bitte kommen Sie mit.“ „Aber -“, Bettina sah plötzlich das Argument von Kaliber .45 – sehr überzeugend. Die Pastorin überlegte kurz, dann nickte sie und stieg ein. Und spürte, wie ihre Freundin sich telepathisch meldete. Bist du in Schwierigkeiten? Bettina vertraute auf Gott und sandte zurück: Ja, aber bislang unverletzt. Bettina erinnerte sich an viele Gelegenheiten, bei denen sie Gott gespürt hatte. Und jetzt spürte sie, wie der Drache sich verwandelte und auf den Weg machte. Die Fahrt führte zu einer Villa mit Park. Dort wurde ausgestiegen und in das Gebäude gegangen. Bettina spürte ihren Herzschlag, aber sie fühlte keine Angst. Sie wusste sich geschützt. Gott war auf ihrer Seite – und Er schickte gerade einen Drachen, Sinnbild des Teufels, bzw. der Kraft der Natur. Bettina wurde in einen großen Speisesaal geführt. Dort saß ein Mann in einer roten Robe. Er erhob sich sofort, trat auf sie zu und verneigte sich. „Seien Sie gegrüßt“, seine Stimme klang sehr angenehm und kultiviert, „als erstes bitte ich, die zugegebenermaßen etwas rüde Art zu entschuldigen, für gewöhnlich gehen wir NICHT so mit Gästen um.“ „Gut und als zweites?“ „Als zweites bitte ich Sie, den Drachen zu rufen.“ Bettina runzelte die Stirn. Sie spürte, dass sich zumindest DAS von selbst regelte, der Drache kam. „Und was bitte wollen Sie von – dem Drachen?“ Fast hätte sie gesagt „ihr“, aber sie hielt sich zurück. Sie wollte ihrem .. Gegner? Widersacher? Feind? ihrem Gegenüber nur wenig Informationen geben. Dazu gehörte, dass der Drache weiblich war. Sie betrachtete den Herren in Rot genauer. Dann fiel ihr etwas auf, was sie bisher übersehen hatte. Ihr Gegenüber war Asiate. Und weißblond und blauäugig. Sein Haar war an den Seiten und am Hinterkopf kurz geschnitten, aber das Deckhaar fiel weich und etwas länger als Schopf. Die asiatischen Züge, die goldenbraune Haut kontrastierten mit dem weißblonden Haar und den tiefblauen Augen. Er lächelte sie etwas traurig an. „Wenn ich nun sage Sie haben etwas, das mir gehört, wäre das nur ein Teil der Wahrheit. Würde ich ausdrücken Sie haben etwas bekommen, auf das ich Anspruch habe, klänge ich wie ein verzogenes Gör. Außerdem weiß ich nicht, ob IHR Anspruch den meinen überwiegt. Ich würde gern den Drachen fragen, warum Sie seine Vertraute wurden.“ „Das können Sie gleich selbst fragen“, erklärte Bettina, „der Drache ist in unmittelbarer Nähe. Und wenn er meint, dass ich in Gefahr bin, wird er das hier in Schutt  und Asche legen.“ Der Mann nickte. „Ich habe nichts anderes erwartet. Wie soll ich nun vorgehen?“ Er deutete auf ein Terrassenfenster. Der Drache stand im Garten. „Lassen Sie mich  mit dem Drachen reden“, Bettina stand auf. Ihr Gastgeber trat widerspruchslos zur Seite. Bettina öffnete die Tür und trat hinaus in den Garten zum Drachen. In wortloser Übereinkunft unterhielten sie sich telepathisch. Hat er dich angerührt? wollte die Drachin wissen. Nein, ich bin Ordnung, gab Bettina zurück, aber er erwähnte einen Anspruch. Was es damit auf sich hat, kann er uns ja gleich mal erklären. Die Drachin runzelte die Stirn. Soll ich mich zurückverwandeln? Bettina nickte. Dann bräuchte ich aber Kleidung – und ein Haarband, die Drachin konzentrierte sich bereits auf die Rückverwandlung. Bettina ging hastig zurück und bat um Kleidung und ein Haargummi. Sie bekam beides und ihr Gastgeber zog sich diskret zurück. Eine Kreatur, halb Mensch, halb Drache schlüpfte ins Haus und verlor jede Ähnlichkeit mit einem Drachen. Bettina hielt ihr einen Teil der Kleidung hin. „Komisch, so einen Bademantel hat du doch auch.“ „Das ist kein Bademantel“, kicherte ihre Freundin, „das ist ein Kimono. Diese großen weiten Ärmel sind die Taschen.“ Sie demonstrierte es Bettina. Dann schloss sie den  Gürtel und band ihr Haar zusammen. „Bin gespannt, was er sagt“, sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer und trat vor ihren Gastgeber. Dem entgleisten kurz die Gesichtszüge, er fing sich aber rasch. „Schönen guten Tag, meine Dame, ich wusste nicht, dass der Drache weiblich ist“, er verneigte sich, „vielleicht sollte ich mich vorstellen: Norbur Wong. König von Guankor.“ Eine indische Dame trat ein. „Lakshmi, Königin meines Reiches und Herzens.“ Norbur lächelte warm. Dann hüpfte ein etwa fünfjähriges Mädchen mit dicken schwarzen Zöpfen heran. „Lal, Sonne unseres Daseins“, Norbur sah zu seinen Gästen, die sich nun ebenfalls vorstellten. „Norbur bedeutet „Juwel“, Lakshmi ist die Hindugöttin des Wohlstands, Lal bedeutet im Sanskrit “geliebt“. Ein passender Name“, stellte die Drachin fest. „Was uns hier nun umtreibt, ist ein Fluch“, eröffnete Norbur bei einer Tasse Tee das Gespräch. „Was für ein Fluch?“ fragte die Drachin. „Kein einfacher, ich habe schon mehrere Magier darauf angesetzt. Es gibt magische Anschläge auf meine Familie – bislang führte keiner zum Erfolg. Aber das wird wohl nicht immer so bleiben. Deshalb setzte ich alle Hoffnung auf den Drachen. Ich habe die richtigen Eigenschaften.“ „Eigenschaften?“ fragte die Drachin. „Mein Urgroßvater war der Letzte in der Familie, der einen Drachen an seiner Seite hatte. Er hatte in beiden Augen eine pupula duplex – eine doppelte Pupille. Auch ich habe ein auffälliges Merkmal: Meine Färbung.“ Bettina warf ihm einen fragenden Blick zu und er erklärte: „Weder sind meine Haare gefärbt noch trage ich farbige Kontaktlinsen. Also, verehrte Drachin, warum hast du SIE zur Vertrauten erwählt?“ Die Drachin lächelte. „Jetzt wird mir einiges klar. Ich sollte vielleicht mal vorweg schicken, dass Bettina meine Vertraute ist. Sie ist weder meine Herrin noch meine Dienerin. Und wenn Sie meinen Schutz wollen – dann benutzen Sie doch ganz einfach das kleine Zauberwort.“ „Was für ein Zauberwort?“ fragte Norbur verdutzt. „Kleiner Tipp: Es reimt sich auf Mitte“, die Drachin schlug die Augen nieder. Norbur begriff und schmunzelte. „Drachin, ich bitte dich um deinen Schutz.“ „Bittet, so wird euch gegeben“, erwiderte die Drachin, „wobei ich gestehen muss, ich weiß nicht, WO genau in der Bibel das steht.“ „Matthäus, Kapitel 7, Vers 7“, erwiderte Bettina. „Danke“, flüsterte die Drachin. „Das zu wissen, gehört zu meinem Beruf“, lachte Bettina. „Was sind Sie denn von Beruf?“ erkundigte sich Lakshmi. „Pastorin“, antwortete Bettina. „Eine Frau Gottes“, murmelte Norbur, „na, da kann königliches Blut natürlich nicht mithalten. Ich habe Sie im ersten Moment für eine Lehrerin oder Sozialarbeiterin gehalten.“ „Kommt ja in etwa auch hin“, Bettina sah ihren Gastgeber an. „Kommen wir zum Grund Ihres Hierseins“, Norbur lächelte die Drachin, dann Bettina an, „ich habe vor einiger Zeit Gegenstände erhalten, ohne Absender, von denen ich überzeugt bin, dass da ein Fluch draufliegt. Unserer Tochter wurde anonym eine Stoffpuppe geschickt, wo der sich die Kleine graust. Vielleicht sollten Sie sich diese Gegenstände mal ansehen.“ Die Drachin war einverstanden und so besah sie sich mit Bettina bald besagte Gegenstände. „Das ist eine Holzmaske der Maori, wirkt ungünstig auf Frauen. Besonders, wenn sie schwanger sind. Und dieser Diamant – der Kohinoor. Bringt Männern Unglück bis Tod. Und diese Stoffpuppe, das ist Annabelle! In ihr soll ein Dämon stecken.“ „Lal ist vor der Puppe zurückgezuckt und hat geweint“, Lakshmi hielt sich wohlweislich von der Holzmaske fern, stattdessen nahm sie den Diamanten und verpackte ihn. „Uh-oh“, die Drachin starrte auf ihre Hände, die zu Klauen geworden waren. „Ich verwandle mich, aber warum??“ Sie streifte hastig den Kimono ab und die Verwandlung setzte sich fort. Bettina wandte sich der Drachin zu und spürte plötzlich, wie sie etwas von hinten ansprang. Stoffpuppenarme schlangen sich um ihren Hals und da war dieses fröhlich lächelnde aufgemalte Gesicht. Bettina erkannte, dass die Puppe Annabelle sie angriff. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, hebe dich hinweg von mir!“ Die Arme wurden kraftlos, Bettina konnte das verfluchte Spielzeug in die Ecke schleudern und als Annabelle sich wieder aufrichtete, traf sie ein Strahl Drachenfeuer. Sie hörten alle ein schrilles zorniges Kreischen, dann schoss eine kleine Gestalt aus Rauch aus der verkohlten Puppe und floh aus dem Fenster, das sie zu diesem Zweck gar nicht aufmachen brauchte. „Na, das war ja …“, Bettina holte tief Luft. „Schätze, das war es mit Annabelle.“ Norbur seufzte erleichtert auf. Dann sah er besorgt Bettina an. „Ich hoffe, Sie können noch gut atmen?“ „Ja, kann ich“, Bettina lächelte erleichtert. Die Drachin nahm ihre teilweise menschliche Gestalt an. Dann hob sie den Kopf und grollte. „Es ist noch nicht vorbei“, knurrte sie, „ich spüre eine Annäherung.“ Norburs Handy klingelte. Er hörte eine Weile zu, dann runzelte er die Stirn. „Wie sieht das Wesen aus?“ Da er sein Handy auf Lautsprecher stellte, hörten sie alle: „Über zwei Meter groß, schwarzer Anzug, leeres weißes Gesicht. Auf dem Rücken scheinen Tentakel zu sein.“ „Das ist Slenderman“, die Drachin grollte, verwandelte sich weiter und stürmte nach draußen. „Alle Abwehrflüche schienen ihn noch stärker zu machen“, hörte Bettina noch aus dem Handy. Bettina lief auf die Terrasse zur Drachin, die aufmerksam lauschte. „Es wird dämmerig, Nebel kommt auf – da kann er sich im Wald gut tarnen.“ „Kann man ihn bannen?“ fragte Bettina und dachte an Annabelle. „Wenn er aufkreuzt, gibt es acht Blätter mit Kritzeleien drauf. Die muss man sammeln und ihm immer den Rücken zudrehen.“ Die Drachin seufzte. „Aber was man dann mit den acht Blättern tun soll, weiß ich nicht, Slenderman ist noch relativ neu. Er ist ähnlich wie eine Tulpa aus menschlichen Gedanken erschaffen worden.“ „Eine Tulpa? Du meinst aber nicht die Blume, oder?“ „Nein, eine Tulpa ist eine Art Geist und kann gefährlich werden, wenn niemand sie kontrolliert.“ Die Drachin lauschte. Dann sah Bettina an. „Bettina, ich kann weder für deine Sicherheit garantieren, noch für mein eigenes Überleben. Ich werde versuchen, Slenderman zu bekämpfen. Wenn du mir hilfst, geht es wahrscheinlich schneller.“ „Ich bin dabei“, Bettina stieg auf den Drachen und sie flogen über den Park, der in völlig unpassenden Nebel gehüllt war. „Am besten suchst du als erstes in dem Pavillon nach den Blättern. Sobald du sechs zusammen hast, ist Slenderman IMMER hinter dir und in dem kleinen Gebäude kann ich dich nicht beschützen.“ Bettina nickte und machte sich bereit. Im Pavillon hing an der Wand tatsächlich eine Art Kritzelzeichnung, die einen rudimentären Slenderman zeigte. „Gut“, die Drachin erhob sich mit Bettina wieder in die Luft, sah sich um und fand „Eine Zeichnung!“ die Drachin landete und Bettina pflückte das Blatt rasch von Baumstamm. Die Drachin startete wieder mit ihr durch und wieder landete sie. Und schließlich hatten sie schon sechs zusammen. „Zwei fehlen noch und denke bitte dran: Von jetzt an ist er IMMER hinter dir, also: Was auch passiert, was du auch hörst, dreh dich NICHT um.“ Bettina nickte und konzentrierte sich auf die Blätter Papier mit den Kritzeleien. Die Drachin knurrte immer wieder wütend und Bettina ahnte, dass das dem Slenderman galt. Dann sammelte sie das letzte Blatt ein und wieder spürte sie, dass Slenderman immer näher kam. „Das ist das Letzte Blatt“, sie reichte dem Drachen die Blätter, „und jetzt?“ „Kam man auf eine andere Ebene“, grollte die Drachin. „Vielleicht solltest du sie verbrennen“, schlug Bettina vor. Die Drachin nickte und spuckte eine Flamme auf die Blätter. Doch die verbrannten nicht. Die Drachin hob alarmiert den Kopf. „Slenderman kommt“, warnte sie. Bettina wandte sich hastig ab. Vergrub ihr Gesicht am Hals der Drachin. „Verdammt, er kommt immer näher“, grollte die Geflügelte. Das brachte Bettina auf eine Idee. Flüche machten den Slenderman nur noch stärker, aber was wäre wenn..? Bettina drehte sich um und trat dem Geschöpf entgegen. Slenderman hob die Arme und seine Rückententakel bewegten sich hastig. Bettina hob ebenfalls die Arme und konzentrierte sich. „Der Herr segne dich und behüte dich“, fing sie an, „der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ Slenderman flackerte, seine Rückententakel verschwanden. „Amen“, Bettina schlug das Kreuz und Slenderman – wurde durchsichtig und verschwand. „Glückwunsch“, die Drachin klang erstaunt, „du hast ihn plattgemacht – wie es aussieht.“ „Flüche machten ihn noch stärker“, Bettina ließ sich erschöpft auf einem Baumstamm nieder, „also kam ich auf die Idee, einen Segen über ihn auszusprechen.“ „Fantastisch“, die Drachin sah Bettina an und fügte hinzu: „Aber du weißt, dass du gerade auf meinem Schwanz sitzt?“ Hastig sprang Bettina auf.

Kobold, Drachin und Trolle
Pastorin Julia Schäfer war aufgeregt, sie bekam eine neue Gemeinde. Da diese genau neben der ihrer Kollegin und Freundin Bettina lag, setzte sie sich mit ihr in Verbindung und vereinbarte ein Treffen. Und dort traf sie auf eine Freundin von Bettina, die ihr unheimlich war. „Ich möchte dir meine Kollegin Julia Schäfer vorstellen, sie übernimmt bald die Nachbargemeinde“, Bettina fragte sich, wie die Drachin (in Menschengestalt) auf Julia reagieren mochte. „Eine Pastorin, die Schäfer heißt – das passt“, die Drachin lächelte freundlich, dann spürte sie etwas.

Die Drachin begrüßte Julia freundlich, aber dann .. Bettina hatte plötzlich den Eindruck, die Drachin in ihrer menschlichen Gestalt würde drohen. Julia wurde unbehaglich. Obwohl sie nicht wusste wieso. Die Frau vor ihr stand ruhig und entspannt – dennoch wirkte sie .. bedrohlich! Bettina fand das nicht prickelnd und nutzte ihre Gabe. Wieso drohst du ihr? Die Drachin entspannte sich kaum merklich, wirkte nicht mehr drohend. Julia atmete auf. Die Drachin blickte zu Bettina. Ich schätze, sie ist wie ich – nicht 100%ig menschlich. Aber WAS sie ist, muss ich noch rausfinden. Bettina warf ihr einen strengen Blick zu. Ich hoffe, das geht OHNE ihr Angst zu machen. Die Drachin nickte. Keine Sorge, das geht.

Julia wusste nicht, was sie von diesem Zwischenfall halten sollte.Diese Frau war ihr unheimlich und hatte sie mit Blicken regelrecht durchbohrt. Wie so oft, wenn sie sich ablenken und entspannen wollte, beschäftigte sie sich mit ihrem Hobby: Mineralogie.

Die Drachin war nun auf der Spur. Die neue Pastorin war mehr als sie schien, doch aus Rücksicht auf ihre menschliche Vertraute hielt die Drachin sich zurück. und folgte erstmal einer anderen Spur. Einer, die sie weitaus mehr beunruhigte.
Als Bettina von Julia wieder zum Tee eingeladen wurde, bat sie sie, die Einladung auch auf ihre Freundin ausdehnen zu dürfen. „Wenn sie mich nicht wieder so unheimlich anstarrt..“ Julia zögerte. „Glaube mir“, lachte Bettina, „dafür habe ich sie auch auf den Pott gesetzt.“

Die Drachin mit Bettina kam in ihrer menschlichen Gestalt und hatte eine kleine Schachtel dabei. „Eine kleine Überraschung, die ihr hoffentlich gefällt.“ Die kleine Überraschung entpuppte sich als kleiner Briefbeschwerer aus Bergkristall. „Wunderschön!“ fand Julia. „Sie wissen, welches Material das ist?“ „Als Hobby-Mineralogin würde ich sagen: Bergkristall. Er ist sehr schön.“ „Gut, dann möchte Sie noch um einen kleinen Test bitten: Können Sie mir sagen, welcher der Ringe echt ist?“ Julia blickte verwundert auf zwei goldene Ringe. „Was hast du vor?“ wollte Bettina wissen. Die Fremde lächelte verlegen. „Ich muss mir GANZ sicher sein.“ Julia betrachtete die Ringe. Nahm sie in die Hände. Beide in etwa gleich schwer. Julia lächelte kurz, dann plötzlich wusste sie es. „Der hier. Echtes Gold.“ „Richtig. Würden Sie noch einen kurzen Test machen? Nur, damit ich sicher sein kann?“ Julia nickte verwundert. „Schauen Sie bitte aus dem Fenster.“ Als Julia das tat, hörte sie hinter sich Geschirr klappern. „Gut, wo ist das Gold?“ Julia sah auf vier umgestülpte Becher. „Unter einem ist der Ring.“ Julia wollte gerade fragen, ob das hier so eine Art Hütchenspiel werden sollte, als sie plötzlich eine Eingebung hatte. Das Gold – war unter dem zweiten Becher von links. „Hier“, sie hob den Becher an und sah den Ring. Julia runzelte die Stirn. „Darf ich fragen, was das soll?“ Die Unheimliche sah sie an und lächelte sanft. „Ich musste mir nur sicher sein, jetzt bin ich es. Sie sind - zumindest zum Teil - ein Kobold.“ „Bitte?“ „Sie sind zum Teil ein Kobold, so wie ich ein Drache bin. Die Geschöpfe der Anderwelt sind uns näher, als viele glauben.“ „Was ist die Anderwelt?“ „Die Welt des Übernatürlichen. Zwerge, Elfen, Gnome, Trolle – oder eben Kobolde und Drachen, alle diese Geschöpfe existieren.“ Julia schluckte. „Und ich bin ein Kobold?“ „Zum größten Teil“, erwiderte die Drachin und sah sie plötzlich mit großen Augen mit senkrecht geschlitzter Pupille an. „Ich kann mich tatsächlich in einen Drachen verwandeln, meistens dann, wenn Personen oder Einrichtungen, die ich liebe, in Gefahr sind. Bettina wurde meine Vertraute, weil sie mich sehen konnte.“ „Wie sehen?“ „Wir Wesen aus der Anderwelt werden vom Unglauben der Menschen geschützt. Weil es offiziell keine Drachen, Feen oder Kobolde GIBT, sehen uns die Menschen nicht. Als ich mich zum ersten Mal verwandelte, bin ich zur Kirche geflogen und habe mich auf dem Dach niedergelassen. Dann kam Bettina aus ihrem Haus – und sah mich.“ Bettina erinnerte sich an den Schrecken, den sie bekommen hatte. Sie legte Julia eine Hand auf den Arm und begann: „Dann ging diese Sache los und seither – ist nichts mehr wie es war.“ Sie gab Julia einen kurzen Abriss der Erlebnisse mit dem König von Guankor. „Der Slenderman existiert tatsächlich?“ Julia konnte es nicht glauben. „Er existierte“, korrigierte die Drachin, „Bettina kam auf die geniale Idee, ihn zu segnen. Damit hat sie ihn platt gemacht.“ Julia sah ihre Kollegin bewundernd an, die wurde etwas rot. „Alle Abwehrflüche machten ihn stärker. Da kam ich auf die Idee, wie es mit einem Segen laufen würde.“ „Haben wir ja gemerkt“, grinste die Drachin, „er war weg und nie wieder gesehen!“ Bettina lächelte verlegen. „Und das bringt mich zu einer anderen Sache, die ich noch mit euch beiden besprechen muss: Es droht Gefahr.“ „Was für eine?“ Julia straffte sich. Die Drachin seufzte. „Es wurden vermehrt Trolle gesichtet. Unglücklicherweise eine Art Troll, die sich unter Menschen mischen kann. Der Schild der Unsichtbarkeit, der mich schützt, schützt auch die Trolle. Wer eine besondere Gabe hat, kann sie wahrnehmen, aber die meisten Leute sehen nur etwas hässliche Menschen. Ich habe mich schon via E-Mail mit einem Trolljäger in Verbindung gesetzt, der in Norddeutschland und Skandinavien Trolle beobachtet und ggf. jagt. Er ist auf etwas größere Trolle spezialisiert, die sich nicht so gut tarnen können. Er hat die Zeit, uns zu helfen, weil das Trollrudel, das er momentan kurzhält, von einer Tollwutepidemie reduziert wurde.“

„Aber das ist noch nicht alles, oder?“ fragte Bettina leise. „Die Trolle scheinen was zu planen. Sie ackern mit ihren Finanzen und jagen nach Bodenschätzen. Da stimmt was nicht“, die Drachin grollte kurz. „Bodenschätze?“ „Wertvolle Mineralien und Metalle. Deshalb sollten Kobolde in der nächsten Zeit sehr umsichtig sein.“ Julia runzelte fragend die Stirn. „Und das heißt für mich?“ „Seien Sie auf der Hut vor hässlichen großen Leuten“, riet die Drachin ihr.

Julia war in der nächsten Zeit vorsichtiger und beobachtete ihre Umgebung genauer. Nach zwei Tagen bemerkte sie eine Gruppe sehr großer und grobschlächtiger Personen in ihrer Umgebung. Besorgt telefonierte sie mit Bettina und erzählte ihr davon. Freundlicherweise bot ihr ein junger Mann aus der Gemeinde an, sie immer zu begleiten. Thomas Schulze, ein sehr schlanker hübscher Mann, war im Chor. Julia fühlte sich wohl in seiner Nähe und wusste sich ein wenig sicherer.

Das Handy klingelte, Bettina meldete sich und hörte die Stimme der Drachin. „Bettina, geht es dir gut?“ „Ja sicher, warum denn nicht?“ „Ich spüre die Annäherung von etwas Unheiligem, kann es aber nicht genau lokalisieren. Schau bitte aus dem Fenster, siehst du etwas Ungewöhnliches?“ Bettina sah aus dem Fenster, ging sogar vor die Tür. „Alles sauber“, teilte sie mit, spürte aber, dass bei der Drachin die Verwandlung einsetzte. Rasch warf sie sich in ihre Reiterkluft, denn das konnte jetzt nur eins bedeuten: Julia war in Gefahr! Vor Julias Dienstwohnung war alles ruhig, aber die Drachin schnaubte angewidert. „Trolle! Die riech ich bis hier.“ Dann verwandelte sie sich „zur Hälfte“, auf diese Weise konnte blitzschnell wieder zum Drachen werden, passte aber in jede menschliche Wohnung. Ein weiterer Vorteil war, dass sie so keine Kleidung brauchte. Die Tür war offen, was schon KEIN gutes Zeichen war, als sie das Wohnzimmer betraten, lag dort ein junger Mann auf dem Boden und hatte sichtbare Verletzungen. Die Drachin knurrte wütend. Bettina wandte ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse an, die Drachin schlitzte sich mit einer Kralle den Arm auf und verteilte das austretende Blut auf den Verletzungen des Mannes. Zu Bettinas Erstaunen schlossen sich die Wunden daraufhin sofort. „Jetzt wird er es überstehen, Elfen sind zäh.“ Die Drachin war zufrieden, Bettina warf einen erstaunten Blick auf den jungen Mann. Dann sah sie es. Schmales Gesicht, große, leicht schräge Augen, schlanke Statur. Ein Elf. Langsam kam er wieder zu sich, lächelte Bettina an und erschrak leicht, als er die Drachin sah. „Es stimmt also, eine Drachin ist hier in der Stadt.“ „Yep. Die Trolle werden sich nun warm anziehen müssen.“ Die Drachin wirkte ausgesprochen grimmig. „Ist der Trolljäger bereits hier in der Stadt?“ fragte der Elf nur. „Er ist bereits eingetroffen, spricht sogar unsere Sprache, mit leichtem Akzent und hat eine Menge Ahnung – von Trollen!“ Der Elf grinste. „Und vom Rest nicht?“ „Ich schätze, er würde die anderen Wesen der Anderwelt nicht erkennen, wenn sie vor ihm stehen“, kicherte die Drachin. Bettina hielt sich zurück. Sie hatte ja selbst den Elfen erst erkannt, als sie drauf hingewiesen worden war. Ihre Vertraute sah sie an. „Man kann es lernen“, tröstete sie, „man muss im Grunde nur die Augen öffnen.“

Einen Tag später lernten sie den Trolljäger persönlich kennen. Nachdem sie sich erstmal mit Namen vorgestellt hatten, fragte er: „Entschuldigung, wenn es plump klingt: Sind Sie christlichen Glaubens?“ „Ich bin Pastorin“, gab Bettina zurück. „Ich bin Gemeindemitglied.“ Der Trolljäger ächzte auf. „Dann wird es noch schwieriger. Trolle wittern Christenblut.“ Bettina fühlte sich persönlich angegriffen, die Drachin trat vor. „Wie ich bereits erwähnt habe: Es sind intelligentere Trolle und wenn die versuchen, uns ein Haar zu krümmen, lernen sie das Fürchten.“ Der Trolljäger lachte. „Mädchen, Trolle fürchten nur drei Dinge: Gewitter, Erdbeben und Drachen. Und wie wahrscheinlich ist es, dass eins von diesen drei Dingen hier stattfindet?“ Bettina und die Drachin tauschten Blicke. „Gottes Wege sind unergründlich“, stellte Bettina fest. Der Trolljäger seufzte. „Na gut. Ich hoffe, keine von euch hat ihre Tage. Das Blut macht die Trolle verrückt.“ „Da machen Sie sich mal keine Sorgen“, grollte die Drachin, „wir sind hier, um ein Leben zu retten. Die Trolle haben jemanden entführt.“ „Einen Mann oder eine Frau?“ „Eine Frau“, erwiderte Bettina, „eine Kollegin von mir.“ „Na, ich fürchte, von der können Sie sich verabschieden“, der Trolljäger senkte den Blick, „entweder wollen sie sich mit ihr paaren oder sie als Mahlzeit verwenden.“ Bettina schauderte. Die Drachin knurrte leise. „Ich weiß sehr sicher, dass sie was ganz anderes von ihr wollen.“ „Und was bitteschön?“ Der Trolljäger starrte sie an. Sie grinste leise. „Dass sie wertvolle Metalle und Mineralien für sie findet.“ „Ist sie nun Mineralogin oder Pfaffin?“ „Sie ist Pastorin“, Bettina bemühte sich um einen leisen, aber warnenden Ton, „ihr Hobby ist Mineralogie und die Pfaffin habe ich jetzt mal überhört.“ Die Drachin erhob sich. „Ich muss mal weg, längere Sitzung.“ Sie zwinkerte Bettina zu und ging hinter ein Gebüsch. Bettina fragte sich, ob der Trolljäger, wenn er sich umdrehte, die großen Flügel und den Schwanz sehen würde.

Julia spürte seltsamerweise keine Angst. Nur Wut. Sie war angewidert von diesen Kreaturen, die sie immer deutlicher als das erkannte, was sie waren: Trolle. Dann spürte sie etwas wie eine Erschütterung. Ein lauter Schrei hallte durch die Luft, ein Schrei voller Zorn und Wut. Die Trolle hoben die Köpfe, grollten und knurrten und griffen zu ihren Keulen. Julia spürte, wie ihr Blut raste, sie spürte die Nähe von etwas Großen und Starken. Ein Drache landete vor den Trollen. „Los, Luk, mach das Monster platt“, schrie der Trollführer. Der Troll grollte und hob seine Keule, stutzte und ließ die Waffe sinken. „Das kann Luk nicht tun, Boss“, stellte er fest, „Drache ist Mädchen.“ Er lässt den Drachen in Ruhe, weil er weiblich ist? dachte Julia erstaunt. Dann bewegte sie sich behutsam auf den Drachen zu. „Blödmann“, grollte der Trollführer und sprang mit einem Schwert auf den Drachen zu, der auswich und einen Feuerstrahl spuckte. Der Troll sprang zurück, die übrigen Trolle schienen unschlüssig, ob sie den Drachen angreifen oder lieber das Weite suchen sollten. Der Drache trieb mit gut gezielten Feuerstößen die Trolle von Julia weg, die auf ihn zulief. „Haltet die Koboldfrau auf!“ brüllte der Trollführer verzweifelt. Doch Julia kletterte geschickt auf den Rücken des Drachens und die Trolle, die dem Befehl Folge leisten wollten, erlitten Brandwunden. Dann startete der Drache durch und die Trolle konnten nur hinterher sehen.

Julia wurde vom Drachen abgesetzt und in die Richtung gewiesen, wo sie den Trolljäger und Bettina fand. Die Drachin zog sich hinters Gebüsch zurück und verwandelte sich.

Bei den Trollen tobte nun eine heftige Meinungsverschiedenheit, ob man nun versuchen sollte, nochmal einen Kobold zu fangen, ob man versuchen sollte, diese eine Koboldfrau nochmal zu entführen oder ob das Unternehmen nicht doch zu gefährlich sein würde, da ein Drache mitmischte.

Bettina war sehr erleichtert, dass ihre Kollegin unverletzt zu ihnen kam. Der Trolljäger schüttelte ungläubig den Kopf. „Also wenn der Drache nicht aufgetaucht wäre, ich weiß nicht, wie es ausgegangen wäre..“ Die Drachin trat zu ihnen, in Menschengestalt. „Mensch Mädchen, warum braucht ihr Frauen bloß immer so lange? Jedenfalls hast du die ganze Action verpasst, ein Drache ist aufgekreuzt und hat den Trollen mächtig Feuer unterm .. naja gemacht.“ Warum die drei Frauen daraufhin in schallendes Gelächter ausbrachen, begriff er erst später.

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