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Alessan 1 - Schatten über Laurinamardi

Magirian Wonder TaleAlessan
Kapitel 1
Schatten über Laurinamardi

Harantor

„Rabääh!“ kam es rauh von oben, und die Krähe stiess auf mich herab.
„Verfluchter Vogel!“ entfuhr es mir, als ich mich zur Seite warf, um dem Vogel zum wiederholten Male auszuweichen, der auf mich zuflog und knapp vor mir ab-drehte. Er hielt mich mit Erfolg davon ab, mich am Brunnen zu waschen.
„Rabääh!“ ertönte es, und der Vogel stiess wieder zu mir herunter. Ich kam nicht umhin die Flugkünste des Krähenvogels zu bewundern.


Schatten über LaurinarmardiAllerdings war ich keineswegs in der Stimmung, mich mit dem Rabenvieh weiter abzuplagen. Ich hatte in aller Frühe auf meinen Pfeifenkrautplantagen Unkraut gejä-tet, auf dass diese, meine erste richtige Ernte, mir an langen Winterabenden sowohl in der Pfeife als auch als Yulepse dienen konnte. Yulepse, so nannte ich fein geschnitte-nes, in Papier oder in grobe Pfeifenkrautblätter gehülltes Pfeifenkraut, das ich in der Eile und in kurzen Pausen entzündete und dessen Rauch ich inhalierte. Ich hoffte, diese Erfindung auf den Märkten feilbieten zu können.
„Rabääh“, ertönte es erneut. Nur mit Mühe konnte ich dem schwarzen Huhn aus-weichen, das sich immer wieder auf mich stürzte. Ich riss meinen Dolch aus dem Gurt und verfehlte die Krähe.
„Rabääh!“ kam es triumphierend zurück. Voller Zorn ballte ich meine Faust. Schliesslich folgte dem Jäten, mit dem meine beiden Knechte Hinner und Karaval immer noch beschäftigt waren, das Ausmisten der Stallungen meiner Hühner und Gänse. Ich war über und über mit dem Mist der gefiederten Eierlieferanten überzogen und stank bestialisch nach diesem Zeug. Mein blauer Arbeitskittel aus derbem Lei-nen, den feine weisse Streifen durchzogen, war kaum noch als solcher auszumachen. Ich wollte mich waschen, ein wenig mit Met verbesserten kalten Früchtetee trinken, ein Brot mit Honig essen und einen jungen Hahn für das morgige Mittagessen schlachten.
Aber zuerst wollte ich mich waschen, um den beissenden Gestank des im gebrate-nen Zustand doch so wohl riechenden Federviehs loszuwerden. Diese Krähe war je-doch anderer Meinung.
Der Dornendom, der mein Haus umgab, war zwanzig Schritt hoch, und umfing ein Oval, das an der breitesten Stelle vierzig Schritt breit und an die achtzig Schritt lang war. Dieser Dom, dessen Mauerwerk eine Brombeerhecke bildete, war nicht ganz der Natur entsprungen, da Caranmir mir geholfen hatte, aus einer riesigen Dornenhecke eine Dornenhalle zu schaffen. Sie bot dem Federvieh genügend Raum und mir genü-gend Schutz vor Angreifern.
Einen Pfeil wollte ich nicht an das Vieh verschwenden, und so flüchtete ich in mein Haus, das im Zentrum der Halle aus stacheligen Ranken stand. Ich schlug die Tür hinter mir zu, aber zugleich hörte ich Geflatter vom Fenster zur Küche. Das Ra-benaas war mir ins Haus gefolgt.
Ich riss Stich von der Wand, das Kurzschwert, das mir bereits gute Dienste auf en-gem Raum geleistet hatte. So langsam geriet ich in Wut. Der Cormatur lehrte mich zwar Geduld und Demut, aber es kam die Zeit, da heisser Zorn die Demut wie eine gewaltige Woge fortschwemmte.
Ich war bereit, der Krähe den schwarzen Schädel abzuschlagen und die Reste des Vogels meinen Katzen zum Frass vorzuwerfen, so sie den zähen Vogel sich denn einverleiben wollten.
Ich riss die Türen auf und gelangte durch den Korridor zur Küche, wo sich mein Zorn nur noch steigerte. Das schwarze Huhn sass in aller Gemütsruhe auf dem Kü-chentisch, setzte die Reste seines letzten Mahls auf mein Brot und verköstigte sich gleichzeitig mit meinen Waffeln und trank von dem klaren Brunnenwasser auf dem Küchentisch.
„Rabääh!“ rief mir das Vieh triumphierend zu.
„Kopf ab!“ schleuderte ich ihm entgegen. Meine Zornesader musste zur Trossen-stärke angeschwollen sein und mein Gesicht vor Zorn glühen. Ich schlug mit dem Schwert zu, aber verfehlte das Rabenaas und hieb eine tiefe Kerbe in die Tischplatte.
„Rabääh!“ kam es wenig angstvoll vom Kräuterregal. Das Vieh stolzierte darauf entlang und fegte dabei einige Töpfe mit getrockneten Kräutern aus dem Regal. Ich sah dem verfluchten Vogel zu und wünschte ihm die Pest und andere Nettigkeiten an den Hals.
Ich überlegte, was zu tun sei. Wollte ich meine Einrichtung zerlegen?
Da endlich fiel mein Blick auf das Bein des schwarzen Huhns und erspähte ein Pergament. Endlich begann es mir zu dämmern, aber meine Laune wurde dadurch nicht besser.
„Komm schon!“ forderte ich den Vogel auf, legte das Schwert weg und streckte den Arm aus.
Das Federtier zögerte nicht lange, und flatterte auf den ausgestreckten Arm. Er lie sich das Pergament problemlos abnehmen, aber noch bevor ich reagieren konnte, hatte ich den spitzen Schnabel in meinem Arm, und selbst der derbe Stoff meines Kittels schützte mich nicht vor dem Schmerz.
„Rabääh!“ dröhnte es mir noch mal in den Ohren, und dann verschwand das Vieh durch das Fenster. Ich warf ihm noch einen Zinkbecher hinterher, wobei ich das schwarze Huhn natürlich verfehlte. Die Flüche, die ich dem gefiederten Ungeheuer nachschleuderte, hätten manchen Seemann oder Fuhrknecht erröten lassen, aber nie-mand hörte mein grausames Geschimpfe.
Schäumend vor Wut setzte ich mich auf die Ofenbank, um die Nachricht zu lesen, die nur von Laurealka kommen konnte, weil nur sie die Macht hatte, wilde Tiere als Boten zu schicken.
Ich entrollte die Schriftrolle und erkannte in schönsten Tengwarzeichen geschrie-benes Quenya, die allerdings diesmal etwas zittrig wirkten. Zudem schienen einige Buchstaben verwaschen zu sein, als hätte Wasser die Tinte benetzt.

Laurealka
Über dem Tal schien tiefer Frieden zu liegen. Sanft blinkte das Sonnenlicht durch das Blätterdach meines Heimes, malte Muster auf den handgewebten Teppich, auf dem ich sass. Ein Vogel sang auf einem Ast wenige Meter von mir entfernt sein Lied. Doch so süss es auch klingen mochte, es konnte den Schmerz in meinem Herzen nicht mildern.
Nacht war über unsere Herzen gefallen an jenem so friedvollen Morgen. Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Ich musste Angaimaite und Lómelinde in ihrer Trauer beistehen, die erforderlichen Zeremonien vorbereiten und vieles mehr. Doch hier sass ich auf meinem Flett, der Schmerz lähmte mich. Der Zweifel wühlte in mir mit bohrenden, spitzen Fingern. Er riss an meinem Selbst, blätterte nach und nach die schützenden Hüllen ab und legte ein zitterndes Etwas bloss.
Hatte ich versagt? War ich trügerischen Illusionen nachgerannt, als ich versucht hatte, hier auf dieser fremden Welt einen Teil von Mittelerde nachzubilden? War es vermessen gewesen, zu glauben, ich könne Lórien auferstehen lassen?
Lothlórien, das ich so sehr geliebt habe.
Goldenes Blätterdach auf Stämmen aus Silber, leuchtend in der Nachmittagssonne. Der Boden bedeckt mit zartem Grün, dazwischen duftig zart gesprenkelt wie hohe Wolken die Blüten der bleichen Niphredil. Der Springquell wispernd in der Mitte der Lichtung. Das Licht der Sonne immer hell und klar, kein Schatten verdeckte es. Und die Sterne des nachts glichen schimmernden Juwelen. Das war Lórien.
Aber auch der stille Frieden, der dort herrschte, auch das war Lórien. Selbst Sau-rons Schatten vermochte ihn nicht zu stören. Kein Feind war dort jemals eingedrun-gen. Kein Streit herrschte dort. Den Tod kannten wir nur als natürliches Ereignis. Lange Zeit war dort kein Uneingeweihter zu sehen gewesen. Sprachen viele Men-schen und Zwerge deshalb auch schlecht über Lothlórien, weil sie es nicht kannten, so änderte doch jeder die Meinung, sobald er es einmal gesehen hatte. Verehrte es im stillen vielleicht sogar.
Jetzt liegt es hinter uns, ist zu einem Schatten einer Erinnerung aus einem anderen Leben geworden. Existiert es jetzt vielleicht auch nicht mehr, so ist es doch nicht un-tergegangen wie die Orte der Menschen oder auch wie einige Städte von uns Elben. Nein, es verblasste einfach. So wie das Andenken an uns in Mittelerde langsam ver-blassen wird.
Fast hatte ich geglaubt, einen gleichartigen Ort hier auf Tol Uinor gefunden zu ha-ben, nachdem ich lange Jahre alleine auf Magira auf der Suche nach meiner Identität herumgeirrt war. Wie eine Heimkehr nach einer langen Reise hatte ich meine An-kunft in diesem Tal des Tauredíns empfunden.
Sicher, es gibt keine Mallornbäume hier. Nur Caranmir im Westen von Tol Uinor kann sich ihrer rühmen. Vielleicht würde sie mir ja eines Tages ein Samenkorn schenken. Doch solange gibt es nur die riesigen belaubten Norsaldar, die mit Hilfe von etwas Magie fast die Höhe der Mallorns erreichen. Hier leben wir auf grossen Plattformen, Fletts, die in die Wipfel der Bäume eingepasst sind.
Man mag sich fragen, warum unser Tal, trotzdem es hier keine Mallorns gibt, Laurínamardi, die goldgekrönten Hallen, heisst. Es ereignete sich, kurz nachdem ich den Weg hierher gefunden hatte, dass es diesen Namen erhielt. Ich bewunderte die hohen Norsaldar und Kanyahón stand neben mir und sprach mit leisem Bedauern: „Wie schade, dass es keine Mallornbäume sind wie bei Caranmir.“
Wir standen inmitten der Lichtung und die Abendsonne blendete unsere Augen, so dass wir sie halb schliessen mussten. Das Plätschern des Lussalanens klang wie ein Lied. Tränen hingen in meinen Augenwinkeln und auf einmal schien es im Gegen-licht, als wären die Blätter der Bäume mit goldenen Rändern versehen.
„Schau nur“, sagte ich zu Kanyahón, „du musst genauer hinsehen. Siehst du nicht die goldenen Blätter, die diese Baumhallen krönen?“
Kanyahón sah mich bewegt an und wenige Tage später hiess das Tal Laurínamardi und ich war die von allen gewählte Herrin des Ortes. Wenn auch Elrod später meinte, ich sei der wahre Grund, warum das Tal so heisse.
Früher nannte man das Tal nur das Verborgene Tal, da kein Mensch auf Tol Uinor von seiner Existenz etwas wusste. Nur Geschichten wurden in ihren Dörfern erzählt von mächtigen Wesen, die in den Wäldern lebten und niemand erlaubten, den Wald zu betreten oder einem seiner Lebewesen einen Schaden zuzufügen. Und jeder, der es wage, ihn unerlaubt zu betreten, werde ihn nie wieder verlassen, so hiess es. Jetzt hatte es doch einer von ihnen gewagt. Und das Unheil war über Laurínamardi herein-gebrochen.
Nun quälte mich der Zweifel, ob ich vielleicht die falsche Wahl gewesen war. Ich war nicht Galadriel und kein Celeborn stand an meiner Seite. Ich hatte mich nie nach einem Gefährten gesehnt, nur nach Mittelerde und Lórien. Es war schön gewesen, als die Erinnernungen an sie wiederkamen, schön aber auch schmerzhaft. Sie nahmen mir die Illusion, ich gehöre hierher nach Magira. Doch meine alte Heimat war mir nun verloren, sie gehörte einem anderen Leben an. Ich hatte nur noch Magira und Aldamar.
Elrod hatte meine Sehnsucht erkannt und mich gewarnt vor der Flucht in alte Erin-nerungen. Es sei an mir, aus diesem Leben das Beste zu machen, hatte er gesagt. Oh, wie sehr ich danach strebte, das Richtige und Beste für alle zu tun. Doch schien es nun, als hätte ich versagt.

Harantor
Innerlich kochte ich vor Zorn. Ich bewunderte das herrliche Tengwar, eine Schrift, die an Schönheit nicht zu überbieten war, die ich aber kaum lesen konnte. Wenn sie mir etwas mitteilen wollte, warum kam sie dann nicht selbst oder nutzte die gemein-same Sprache?
Zornig erhob ich mich und legte das Pergament beiseite, um mich zu waschen, aber ein unbestimmtes Gefühl verlangte, dass ich mich dem Pergament Laurealkas zuwandte, egal wie sehr es mich danach drängte, endlich den Geruch des Hühner-stalls loszuwerden. Nun verdanke ich diesen unbestimmten Gefühlen, dass ich noch lebe und nicht irgendeine Klinge meinem Leben ein Ende setzte, bevor ich dem Ruf des Cormaturs folgte und mich hier auf Magira als Geflügelzüchter und Gärtner nie-derliess.
Aus meiner bewegten Wanderzeit, als ich meine neue Heimat zu finden hoffte, oh-ne zu wissen, was oder wen ich wirklich suchte, sind mir fünf Schwerter, ein Bogen, Pfeifenkrautsamen und einige wenige Narben geblieben. In den letzten achtzehn Monden hatte ich ein friedliches Leben geführt und mich insbesondere Hühnern, Gänsen und meiner Pfeifenkrautplantage gewidmet.
Vor mich hin fluchend suchte ich in einer Truhe in meinem Schlafzimmer nach dem Buch über die Schrift und die Sprache der Eldar, das mir Elrod gegeben hatte. Er selbst hatte es verfasst.
In den langen Jahren meiner Wanderung durch viele Welten hatte ich soviel ver-gessen, dass ich erst wieder lernen musste, das zu sein, was ich einst war, obwohl ich wohl nie wieder der werden würde, der ich auf Mittelerde war, so wenig ich auch da-von wusste. Zuviel hatte ich erlebt. Zu sehr hatte ich mich einem anderen Leben ge-widmet und war darin mit Haut und Haaren aufgegangen.
Bevor mich die Erinnerungen an Mittelerde gefangen nehmen konnten, hatte ich endlich das Buch gefunden. Die Neugier trieb mich an den Küchentisch. Aber bevor ich das Buch aufschlug, um zu versuchen, die Botschaft Laurealkas zu lesen, griff ich zur Karaffe mit dem Früchtetee und nahm einen tiefen Zug, ohne ihn allerdings mit Met aufzubessern, denn zum Lesen der Tengwarschrift musste ich einen klaren Kopf behalten. Das, was ich erkennen konnte, war das Signum. Laurealka hatte unter-schrieben.
Aber dann begannen die Schwierigkeiten. Oh, wie verfluchte ich sie.
Den ersten Satz hatte ich relativ schnell entziffert. Es hiess: Eile schnell zu mir!
„Wenn ich eilen soll, hättest du dich der gemeinsamen Sprache befleissigen sollen, dummes Huhn!“ entfuhr es mir grollend, denn das nächste Wort war eine echte Nuss.
Was hatte das zu bedeuten? Ich suchte und suchte im Wörterbuch herum und kam nicht dahinter. Bei den dreibusigen Huren von Tira! Was sollte das? Die Lösung war so schwer zu finden!
Endlich, nach drei Yulepses, die Lösung:  Schreckliches Schicksal.
‘Schreckliches Schicksal hat verwundet unsere Herzen’, lautete es.
Mit dem letzten Satz hatte ich weniger Schwierigkeiten, denn er war eindeutig und bewies, dass es richtig war, dass ich mich mit Laurealkas Botschaft befasst hatte.
'Ein Mensch hat getötet Kalwe und Singollo.'

Laurealka
Die Sonne ging bald unter. Noch immer sass ich alleine auf meinem Flett. Ich wartete. Harantor, wann würde er endlich kommen? Er musste mir helfen. Ich wusste nicht, wie ich diese Situation bewältigen sollte. Ein Mord in Laurínamardi. Die Erin-nerung überwältigte mich.
Noch einmal sah ich Angaimaites von Trauer und hilfloser Wut verzerrtes Gesicht. Auf seinen Armen trug er den leblosen Körper Kalwes. Neben ihm stand Lómelinde, die Augen leer, als sehe sie nichts von dem, was um sie herum vorging.
„Ich will den Mörder tot sehen!“
Er starrte mich an mit wildem Blick. Seine Lippen zitterten.
„Ich will ihn tot sehen. Du wirst dafür sorgen.“ Er sprach ganz ruhig, doch das ‘du’ klang bösartig und fordernd in meinen Ohren. Es ähnelte dem Zischen einer kleinen Giftschlange.
„Und sollte das nicht der Fall sein, werde ich dafür sorgen, dass jemand anders da-für büsst.“
Er hielt inne. Die Elben, die uns umstanden, schienen den Atem anzuhalten. Keiner wagte sich zu bewegen. Nur Kanyahón trat einen Schritt vor, wollte die Hand auf Angaimaites Arm legen, doch der schüttelte sie ab.
„Lass mich!“ fauchte er.
Dann wandte er sich mir noch einmal zu. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Es klang, als leiste er einen Schwur.
„Höre! Der Mord meines Sohnes wird nicht ungesühnt bleiben. Dafür sorge ich!“
Damit drehte er sich um und ging mit festen Schritten zu dem Baum, auf dem sich das Flett seiner Familie befand.
Die Bilder waren so lebendig, dass sie mich noch immer lähmten. Ich hatte die Zerteilung des toten Mendils geregelt, damit es unseren Gesetzen entsprechend ver-zehrt werden konnte. Kein Tier sollte ohne unseren Dank als unsere Speise dienen. Ihr Andenken musste gewahrt werden in unseren Taten und Worten. Zumindestens das waren wir ihnen als ihre Brüder schuldig.
Danach ging ich auf Aldamar zu. Kanyahón und Earel wollten mir folgen, aber ich schüttelte den Kopf. Ich wollte allein sein, alleine entscheiden, was zu tun war, allei-ne mit meiner Trauer und meinen Schuldgefühlen fertig werden. Jetzt wusste ich nicht mehr, ob die Entscheidung, die ich in meinem aufgewühlten Gemütszustand heute morgen getroffen hatte, richtig gewesen war.
Ich hatte bei Harantor um Hilfe gesucht, doch welche Hilfe erwartete ich von ihm? Sicher keinen seelischen Beistand. Ich sah Kalwes blutüberströmten Körper, seine im Todeskampf zuckenden Finger. Angaimaites verzerrtes Gesicht, Lómelindes leeres Starren. Und ich sah noch einmal den gehetzten Blick des davonjagenden Mörders.
Hass!
Hass und Wut brachen sich in mir Bahn. Ich stöhnte voller Qual über die Heftig-keit, mit der sie mich überfielen, und schlug die Hände vor das Gesicht.
Tot! Tot!
Ich wollte ihn tot sehen, den Mörder. Wollte Angaimaite die Trophäe seines leblo-sen Körpers präsentieren. Lómelindes starrende Augen damit wieder sehen lassen. Wollte, dass diese Bestie den gleichen Schmerz erfuhr, wie der kleine Kalwe, den ich so geliebt habe. Allein das konnte den wühlenden Schmerz in meinem Innern wieder tilgen. Nur ein anderer Tod hatte mir ähnlich tiefen Schmerz zugefügt - in einem an-deren Leben.
Gleichzeitig empfand ich Schuld. Schuld darüber, dass ich, die ich das Leben so achtete, so empfinden konnte und darüber, dass es hatte geschehen können. Ich hatte versagt, hatte die meiner Obhut Anvertrauten nicht schützen können. Einer von ihnen war tot, und es war an mir, für die Ahndung dieser Tat zu sorgen.
Deshalb hatte ich nach Harantor geschickt. Er sollte den Mörder jagen und uns sei-ne Leiche bringen. So wie Angaimaite es gefordert hatte. Tränen liefen über meine Wangen. Ich wusste nicht warum. Sie schüttelten mich, meinen ganzen Körper. Ich würgte vor Schmerz und warf mich zu Boden, vergrub den Kopf unter meinen Ar-men, presste meinen Körper an das Holz des Fletts, als könne es mich trösten. Den ganzen Tag hatte ich versucht die Trauer zu ersticken, nun brach sie sich mit aller Macht Bahn.
Ich wusste nicht, wie lange ich so lag und weinte. Irgendwann hörte ich lärmende Schritte auf der Treppe zu meinem Flett. Ich sah auf und gewahrte, dass die Nacht hereingebrochen war. Dann erkannte ich das wütende Schnauben und Geschimpfe Harantors. Ich schreckte hoch.
‘Nicht jetzt’, flehte ich, während mir unaufhörlich die Tränen über die Wangen lie-fen. ‘Bitte, nicht jetzt, Harantor!’
Hatte ich auch die ganze Zeit sehnsüchtig auf ihn gewartet, so konnte ich jetzt un-möglich mit ihm sprechen. Ich konnte sein Poltern und seine Wut jetzt nicht ertragen. Er war und blieb ein Barbar.
Ich wollte allein sein mit meinem Schmerz. Dies war nicht der erste Mensch, den er erledigte. Er würde schon wissen, was zu tun war, und wie er vorgehen musste.
Das Poltern klang jetzt schon gefährlich nah. Schnell sprang ich auf, lief in den durch Stoffbahnen abgetrennten, benachbarten Raum und entledigte mich meiner Kleider. Ich griff nach den Formen des Adlers in meinem Wissen, und schon hüllte das vertraute Flimmern mich ein.
„Laurealka“, hörte ich Harantors fordernde Stimme, da warf ich mich in die Leere und überliess meinen Körper dem Wind.

Harantor
Mochte ich den Satz auch nicht richtig übersetzt haben, er erschütterte mich bis ins Innerste. War ich bisher nur schlecht gelaunt gewesen, so überkam mich jetzt der hei-sse Zorn. Kalwe, ein Elbenkind, das ich geliebt habe - tot. Ich erinnerte mich, wie ich ihm meine Geschichten erzählt habe. Er sass auf meinen Knien und sah mich aus gro-ssen Augen an, wenn ich von seltsamen und für ihn fremden Orten erzählte. Tausend Erinnerungen brachen sich Bahn. Tränen der Wut, der Trauer und der heissen Rache stiegen in mir auf.
Man hatte Kalwe getötet. Egal ob Mensch, Tier, Elb oder Dämon, er würde dafür mit seinem Blut zahlen müssen. Ich würde den Mörder ausweiden und ihn spüren las-sen, dass er einen unverzeihlichen Fehler gemacht hatte. Sein Ende würde über alle Massen grausam sein.
Kalwe, der Elb und Singollo, das Mendil, ein unzertrennliches Paar, beide tot ...
Ich, Harantor, würde ihren Tod rächen und einige Innereien im Wald verteilen, damit die Raben etwas zu fressen bekamen. Der heisse Zorn tobte in mir, und ich griff vier Schwerter von der Wand, verstaute zwei, den Knochenspalter und den Bluthauch, in einem Lederbeutel und gürtete sie an eine spezielle Vorrichtung am Sattel. Den Benngur -Manntod- und das kurze Stich gürtete ich. Dann sattelte ich mein Pferd. So wie ich war, ritt ich aus Nassetussa aus, um Tod und Verderben dem oder den Mördern Kalwes zu bringen.
Die Pfeifenkrautplantage lag in Richtung auf Laurealkas Heim, und so trieb ich das Pferd an. Als meine Knechte in Sichtweite kamen, rief ich ihnen einige Anweisungen zu. Die beiden sahen mich fast ein bisschen angstvoll an.
„...und denkt dran“, schloss ich. „Ich kann zählen. Daher wäre es besser, es würde kein Tier fehlen, wenn ich wiederkomme!“
Damit ritt ich davon. Ich trieb mein Pferd, einen brauen Wallach, der nicht der schönste, aber einer der zähesten und ausdauernsten war, gnadenlos an.
Es muss weit nach Mittag gewesen sein, als ich Nassetussa verliess. Die Nacht war hereingebrochen, bis ich endlich den Wald Laurealkas erreicht hatte. Trotz der Dun-kelheit ritt ich, so schnell es eben ging.
Endlich tauchten die Lichter von Laurínamardi vor mir auf. Wie ein Dämon ritt ich auf die Lichtung, die Laurealkas Baumheim umgibt.
Verstört und angstvoll kamen mir vier Elben entgegen, deren Namen mir entfallen waren. Ich sprang vom Pferd.
„Wo ist sie?“ entfuhr es mir.
Einer der vier blickte nach oben auf ihren Baum. Ich stürmte los. „Versorgt den Braunen!“ rief ich noch. Nur kurz sah ich zurück und bedauerte fast das Tier, das am Rande der Erschöpfung war. Es war schaumbedeckt. Nun gut.
Ich erklomm geschickt die Strickleiter und stürmte von der ersten Ebene an die Treppen hinauf. In nahezu hundert Schritt Höhe befand sich die Wohnplattform Lau-realkas. Während ich hinauf kletterte nahm ich niemanden wahr. Es mochte sein, dass man mich für einen Todesbringer hielt, denn niemand kreuzte meinen Weg, aber all das interessierte mich nicht. Während des langen Rittes hatte ich mich derart in mei-nen Zorn hineingesteigert, dass mich das alles nicht interessierte.
Oben angekommen, musste ich feststellen, dass Laurealka nicht dort war.
„Laurealka! Komm her!“ donnerte ich, aber sie zeigte sich nicht. Mir war klar, dass sie sich nicht zeigen wollte, denn sie mochte die Art nicht, wie ich die Dinge anging. Sie war zurückhaltend und zögerlich. Mochte die Finsternis wissen, wie sie den Entschluss gefasst hatte, mich zu rufen.
„Laurealka!“ rief ich nochmals in die Nacht. „Komm her! Zeig dich!“
Die Lampen brannten noch. Ich begann den Baum abzusuchen. Nichts. Das einzi-ge, was ich sah, war ein abgelegtes Gewand.
„Warte nur!“ rief ich in die Nacht und sandte noch einige Flüche hinterher. Ich wandte mich um, wollte wieder nach unten. Ich übersah jedoch ihren niedrigen Tisch, vor dem man hockte, und stampfte auf die nicht sehr tragfähige Platte, wobei ich die-se zerstörte.
Ärgerlich schüttelte ich das Möbel ab und rannte die Treppen hinab.
Als ich unten angelangt war, musste ich so zornig ausgesehen haben, dass die El-ben unter Laurealkas Obhut vor mir zurückwichen. Ich gab mir nicht die Mühe etwas zu erklären. Ich wollte Laurealka selbst sehen. Ich ging auf einen der Elben zu, ent-wand diesem seinen Bogen und nahm ein paar Pfeile. Tief holte ich Luft.
„Zeige dich! Oder ich werde jeden Vogel mit einem Pfeil spicken. Doch besonders gern werde ich einem Seeadler, der in der Nacht fliegt, mit einem Fuss Holz Vernunft beibringen. Komm her!“
Meine Stimme hallte weit. Sie musste mich hören.
Hoch oben in den Bäumen nahm ich eine Bewegung war. Ich spannte den Bogen und zielte, aber der Schrei des Seeadlers liess mich den Bogen sofort zu Boden rich-ten.
Laurealka kam. Der Adler landete, und dann schien die Luft zu verschwimmen, und aus dem Seeadler formte sich die Gestalt der Elbin auf Armeslänge vor mir. Sie blickte mich mit einer Mischung aus Furcht und Zorn an.
Sie war nackt. Ihre langen blonden Haare fielen ihr über die Schultern. Ich be-trachtete ihren makellosen Körper, und dieser Anblick liess für einen Moment jeden Hass verstummen. Ich schnalzte unbewusst, aber nicht wider Willen, mit der Zunge. Ich griff nach ihren Haaren und legte diese über ihre Schulter nach hinten.
Ich pfiff anerkennend und blickte sie für einen weiteren Moment gedankenverloren an...

Laurealka
Was bildete er sich ein! Zornbebend schlug ich seine Hand beiseite und starrte ihn an.
Ich hasste ihn, nicht etwa aufgrund seiner schlechten Manieren. Nein, das war es nicht. Ich hasste ihn dafür, dass er so kraftstrotzend und voller Leben vor mir stand. Es erschien mir ungerecht. Er - der Barbar, der das Leben in keinster Weise respek-tierte, sein Wesen nicht einmal im Ansatz verstand - stand atmend vor mir. Und Kal-we, der vielversprechende, tiefsinnige, kleine Kalwe, war tot, weil er versucht hatte, seinem Spielgefährten zu helfen.
Ich verstand es nicht. Den ganzen Tag hatte ich darüber nachgegrübelt. Wie hatte das passieren können? Wir lebten versteckt, verbargen uns vor den Menschen, wohl wissend, dass ein friedliches Nebeneinander mit ihnen unmöglich war. Und doch war einer von ihnen gekommen und hatte unseren Frieden gestört. Und zu allem Über-fluss kam nun dieser ungeschlachte Tölpel daher und störte mich in meiner Trauer. Schnalzte mit der Zunge wie ein Fuhrknecht, ohne Rücksicht auf meine Gefühle.
Barbar!
Meine einzige Antwort war und blieb ein kalter Blick.
„Was soll das, du eingebildete Gans!“ polterte er ohne Umschweife los. „Erst schickst du diese dämliche Krähe zu mir, die mir mein Frühstück stiehlt und meinen Arm fast zerfleischt. Dann reite ich mein Pferd fast zu Tode, um ja schnell bei dir zu sein. Und was tut die gnädige Frau? Sie ist nicht zu sprechen! Was zum Henker bil-dest du dir eigentlich ein? Glaubst du ich bin dein Hanswurst?“
Ich liess ihn reden, vielleicht nur weil meine vor Trauer schmerzende Kehle mich darin hinderte. Seine hellen Augen funkelten im Zorn. Der Schweiss stand in kleinen Perlen auf seiner Stirn und hatte dunkle Flecken auf seinem blau-weiss-gestreiftem Hemd gebildet. Mit der Feuchte und seinen ungestümen Bewegungen verbreitete er eine Ausdünstung nach Hühnerkot und Dreck. Der Gestank war so durchdringend, dass ich husten musste und im Fluss dieser Bewegung meine Haare zurückwarf.
Das Funkeln in seinen Augen nahm erneut einen lüsternen Ausdruck an, und schlagartig wurde ich mir meiner Nacktheit bewusst. Oh, wie ich ihn dafür hasste, dass er mich in diese Situation gebracht hatte! Es geschah erst in diesem Moment, dass ich mir meiner Umgebung bewusst wurde. Einige der anderen Elben standen um uns herum. Ich sah Earel, Kanyahón und neben ihnen Aldamir und Taurion, der eine feuerrote Wange zur Schau trug und ein schweissnasses, zitterndes Pferd am Zügel hielt - Harantors Pferd.
Es war Aldamir, die auf mich zutrat und mir schweigend ihr langes Tuch um die Schultern legte.
„Würdest du mir jetzt endlich sagen, was passiert ist, zum Donner!“ Harantor schrie es mir ins Gesicht.
Es war schwer ihn zu ignorieren, doch ich schaffte es und ging an ihm vorbei auf das Pferd zu.
„Es wäre an dir gewesen, mir deinen Mantel zu geben“, bemerkte ich nur, und ver-suchte soviel Kühle in meine Stimme zu legen, wie meine zusammengeschnürte Kehle es erlaubte. Voller Mitleid wandte ich mich dann dem Pferd zu und strich ihm über die Nüstern.
Harantor grinste ein unverschämtes, breites Zähnefletschen. „Warum sollte ich mir den netten Anblick verderben?“
Diese Bemerkung schien mir keiner Antwort würdig, so lehnte ich den Kopf gegen den des Pferdes und sammelte mich. In meinem Innern flüsterte ich die Worte der Lebens, bis ich das leichte Kribbeln in meinen Fingerspitzen verspürte. Ich fühlte die Kraft durch meine Hände fliessen, und im gleichen Moment schien ein Ruck durch das Pferd zu gehen. Es straffte sich und begann herumzutänzeln, als käme es frisch von der Weide.
Es bedurfte nur eines Blickes, um Taurion klarzumachen, dass er sich um das Tier kümmern sollte. Er nickte, und ich schritt langsam weiter in Richtung Aldamar. Ich wollte alleine sein, der Schmerz war noch zu frisch. Ich konnte und wollte mich jetzt nicht mit diesem Barbaren abgeben. Weshalb hatte ich nur nach ihm geschickt?
Eine schweissige Hand hielt mich grob an der Schulter fest. „Würdest du mir jetzt endlich erklären, was passiert ist? Du verstocktes Sumpfhuhn!“ Er riss mich herum und zog mich zu sich heran.
Der Gestank, den er verströmte, biss so heftig in meine Nase, dass ich angeekelt den Kopf abwandte. Tränen stiegen in meine Augen. Er schüttelte mich.
„Rede endlich! Glaubst du, ich lasse mich so abspeisen? Du hast mich gerufen, al-so rede gefälligst mit mir!“ Er schrie jetzt.
Etwas in seiner Stimme liess mich aufhorchen. Fast war mir, als könne ich den gleichen Schmerz darin wiederfinden, der auch in mir wohnte. Ich fühlte, wie die Tränen nach oben drängten, und ich wusste, dass ich mich nicht mehr lange beherr-schen konnte.
„Lass mich los“, flüsterte ich atemlos. „Bitte.“ Zu meinem Erstaunen kam er mei-ner Bitte tatsächlich nach.
Er suchte nach meinem Blick, doch ich wandte mich ab, darum bemüht ihm aus-zuweichen. „Oben“, erklärte ich. „Lass uns in Aldamar darüber sprechen.“
„Bin ich vielleicht ein Affe! Glaubst du, ich klettere noch mal da ‘rauf?“ brüllte er mir ins Ohr.
Unfähig zu antworten, sah ich ihn nur an. In seinem Gesicht arbeitete es. Er zog das Schwert halb aus der Scheide und stiess es wieder hinein. „Verfluchte Weibsbil-der, verdammte“, knurrte er vor sich hin, aber er widersprach nicht.
Ich trat einen Schritt beiseite und kreuzte die Arme vor der Brust, um mich besser konzentrieren zu können. Ich suchte nach der richtigen Form und dann fühlte ich schon, wie das vertraute, warme Flimmern meinen Körper umschmeichelte. Das Tuch fiel von meinen Schultern. Federn hüllten mich ein. Und der Wind strich sanft durch meine Schwingen, als ich mich in die Lüfte erhob. Unter mir hörte ich Haran-tors Fluchen leiser werden.

Harantor
Ich sandte Laurealka einige Flüche nach, doch sie verschwand im Nachthimmel. Also blieb mir nur noch der beschwerliche Aufstieg in ihr Wolkenkuckucksheim, hoch über der Realität und allem, was damit zusammenhing..
Fluchend begann ich, die Treppen zum zweiten Mal zu erklimmen. Ich fühlte mich in grossen Höhen eigentlich nicht wohl, doch beim ersten Aufstieg hatte mich der heisse Zorn erfüllt. Diesmal aber, wie das Schicksal es wollte, schien der Zorn mehr und mehr abzunehmen, je höher ich kam.
Die Höhenangst drohte mich zu übermannen und so suchte ich verzweifelt nach Ablenkung, um nicht in die Tiefe sehen zu müssen.
Ich begann darüber nachzudenken, was ich mit dem Schurken zu tun gedachte, der Kalwe und Singollo getötet hatte. Wer war es überhaupt gewesen? Wie war es ge-schehen? Welches Ungeheuer hatte einen kleinen Jungen und ein Mendil getötet?
Ich dachte daran, was ich alles erlebt hatte. Ich war durch Welten gewandert, hatte Menschen förmlich in Seen von Blut ertrinken sehen. Die Schrecken des Krieges, die Brutalität der Schlacht, die Ungeheuerlichkeiten nach der Schlacht, da Frauen zer-stückelt und vergewaltigt, Kinder aufs grausamste gequält wurden. All das hatten meine Augen erschaut. Oft genug war ich selbst nur mit dem nackten Leben davon-gekommen. Oft war mir regelrecht übel gewesen, und ich hatte mir die Eingeweide aus dem Leib gekotzt.
Elrod, unser Ringmeister, hat kurz nach meiner Ankunft in seinem Turm, als ich ihm von meinen Erlebnissen berichtet hatte, zu mir gesagt, dass wohl die Gewalt, die Schrecken und die Gefahren verhinderten, dass ich mich an Mittelerde und die Elben und mein eigenes Leben als Elb erinnern konnte.
Wieder einmal unterbrach ich meine Gedankengänge durch einen befreienden Fluch, da ich feststellte, dass ich das Flett Laurealkas immer noch nicht erreicht hatte.
Meine Gedanken kehrten jedoch schnell wieder zu Mord, Totschlag und Gewalt zurück. Und während ich über all das Leid nachdachte, wandelte sich mein heisser Zorn mehr und mehr in eine kalte, berechnende Wut, die nur ein Ziel kannte. Rache zu nehmen, an dem, der Gewalt und Mord in diesen Wald gebracht hatte, der diesen Hort des beinahe unwirklichen Friedens zerstört hatte.
Aber noch fehlte ein Tropfen, um den heissen Hass zu tilgen und dem kalten be-rechnenden Rachedurst Bahn zu brechen.
Meine Gedanken wandten sich Laurealka zu. Sie war weit von der Realität ent-fernt, hatte nie den Schrecken des Schlachtfeldes kennengelernt. Für sie war der Tod ein langsames Hinüberdämmern in eine andere Welt. Sie hatte nie gesehen, wie kalter Stahl in lebendes Fleisch eindrang, das Entsetzen, die Todesangst in den Augen des Getroffenen erlebt, dessen Leben verlöschte. Sie hatte nie erlebt, wie Verwundete mit Verstümmelungen um den Tod baten oder die Fledderer des Schlachtfeldes mit spit-zen, oft vergifteten Dolchen den Tod jenen brachten, die verletzt und unfähig sich zu regen auf dem Schlachtfeld lagen.
Laurealka hatte nie in düsteren Vierteln einer Stadt gelebt, wo für einen Kanten Brot und ein paar Kupfermünzen ein Mensch vom Leben zum Tod gebracht wurde. Sie hatte nie in der Wüste gelebt, wo ein Schluck Wasser ausreichte, um Männer zu ihren Ahnen oder Göttern zu schicken.
Laurealkas Leben war behütet gewesen. Ihr Idealismus war grenzenlos. Sie war nie von Priestern in einen sinnlosen Glaubenskrieg geschickt worden, um einen Gott zu erhöhen und den vermeintlich niederen Gott zu verdammen.
Leben war das höchste Gut, aber es gab Zeiten, da wurde Leben zerstört, um ande-res zu retten. Gefressen und gefressen werden, das war das Prinzip des Lebens. Oft genug hatten mich drei Fuss guter Stahl davor bewahrt, mein Leben auf schmutzigen Strassen oder einem Schlachtfeld auszuhauchen.
Ich hatte einst geglaubt, alles ertragen zu können, da ich glaubte, alles gesehen zu haben, doch eines Tages auf einem Schlachtfeld hatte ich erkannt, dass ich Trauer, Wut, Schmerz und Hass fühlen konnte. Ich konnte noch fühlen. Im Gegensatz zu fünf Soldaten, die ein Mädchen, mochte es ein Dutzend Sommer zählen, auf das brutalste geschändet hatten. Sie gehörten zu der Armee, der ich diente, aber das war zuviel. Das ging über meinen Verstand. Es war dasselbe Mädchen, das mir am Abend vor dem Kampf Wein und Fleisch gebracht hatte, und nun lag es vor mir. Es würde ster-ben. Ihr Körper war eine einzige Wunde, ihre Augen blicklos, aber die Soldaten ver-gnügten sich weiter. Hinter ihnen lag das Schlachtfeld, und sie waren nichts weiter als seelenlose Bastarde. Um mein Entsetzen perfekt zu machen, musste ich erkennen, dass die fünf die ganze Familie aus Spass an ihrer Qual getötet hatten. Am Abend vor der Schlacht hatten wir dort Quartier bezogen, und im Blutrausch der Schlacht hatten diese Kerle alles verloren, was die Weisen Menschlichkeit nennen.
Die Bauersfrau hatte ähnlich wie ihre Tochter leiden müssen. Und um das Mass voll zu machen, hatten sie den Mann an einen Pfosten gefesselt, an den sonst nur Schweine vor dem Schlachten gebunden wurden. Er hatte alles mit ansehen müssen. Er lallte und brabbelte, schimpfte und schrie. Seine Augen glühten im Feuer des Wahnsinns.
Über meine Augen legte sich ein roter Schleier, als ich das Schwert aus der Schei-de riss. Ich musste schrecklich unter ihnen gewütet haben, aber ich konnte mich an nichts mehr erinnern, als die fünf entseelt vor mir lagen. Ich beugte mich zu dem Mädchen hinab, aber es erkannte niemanden mehr. Das Leben in ihren Augen er-losch. Ich setzte mich neben den toten Körper und weinte.
Als die Tränen versiegten, erhob ich mich und ging zu dem Bauern hinüber. Ich blickte ihn lange an, versuchte mit ihm zu sprechen, doch der Mann war in einer an-deren Welt. Ich hob das Schwert, und mit einem Stoss erlöste ich ihn von dieser Welt und öffnete ihm den Weg zu seinen Göttern und seiner Familie.
Derartiges hatte Laurealka nie erlebt, und ich würde dafür sorgen, dass sie es sehen würde und danach nie wieder, denn ich würde ihren Wald schützen. Aber einmal sollte sie dabei sein, wie kalter Stahl heisses Leben nahm. Sie sollte erleben, wie der Mörder von Kalwe und Singollo starb. Sie musste es sehen, um zu lernen, wie das Leben ist.
„Pah!“ entfuhr es mir laut, als ich an die sanfte Laurealka dachte, der Gewalt ein Greuel war. Sie musste lernen, dass auch ihr Wald geschützt werden musste, und Gewalt hatte sich stets als guter Schutz vor Gewalt erwiesen.
Ausser Atem erreichte ich letztlich Laurealkas Flett. Ich zog mich hinauf.
„Wein!“ war mein erstes Wort und sah auf Laurealka, sie musste sich gerade erst das Kleid übergestreift haben, denn sie ordnete es noch, als ich sie ansah. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Ich griff nach meinem Beutel mit Pfeifenkraut und begann, eine Yulepse zu dre-hen. Ich entzündete Zunder mit einem Feuerstein, brannte damit die Pfeifenkrautrolle an und sog den Rauch ein...

Laurealka
Ich sah ihn die vielen Treppen hinaufpoltern, zum zweiten Mal an diesem Tag. Ich wusste genau, wie sehr er die Höhe hasste und wieviel Überwindung ihn diese Klette-rei kostete. Jedesmal fluchte er dabei wie ein Kutscher, wohl um sich Mut zuzuspre-chen, wie ich bald erkannt hatte. Die Erinnerung erzeugte ein Lächeln in mir.
Ich zog einen weiteren Kreis um den Baum, diesmal etwas enger. Noch einmal liess ich den Wind durch meine Federn dringen, gab mich seinem Streicheln hin, dann landete ich auf meinem Flett. Noch während das Flimmern der Verwandlung um meinen Körper erlosch, sah ich die Spuren der Verwüstung, die er hinterlassen hatte. Mein Teppich war verschmutzt, meine Sachen durchwühlt und mein Tischchen aus blankpoliertem Erlenholz war zerbrochen.
Ich bückte mich und strich mit leisem Bedauern über die Bruchkanten. Sie waren scharf und rissen an meinen Fingerspitzen. Wusste er eigentlich, was er da zerstört hatte? Wusste dieser dumme Trottel eigentlich, dass ein Baum, ein lebendes Wesen, einen Teil von sich oder gar sich ganz geopfert hatte, damit dieses Möbelstück ent-stehen konnte? So wenig verstand er dies, wie er begriff, dass auch Tiere nicht nur Fleisch waren, das zum Verzehr bestimmt war, sondern fühlende Wesen.
Singollo erstand vor meinen Augen, und Kalwes Lachen klang in meinen Ohren. Ich hatte nie geglaubt, dass hier in Laurínamardi so etwas passieren könnte. War ich schuld? Hatte ich versagt? Was hatte ich falsch gemacht? Ich umfasste das zerbro-chene Tischteil so fest, dass die Kanten sich in meine Handflächen gruben. Der Schmerz konnte mich jedoch nicht beruhigen.
Da hörte ich Harantor auf der Leiter zu meinem Flett. Ich schreckte hoch aus mei-nen Gedanken. Noch immer war ich nackt! Er sollte mich nicht noch einmal so erwi-schen! So schnell ich konnte, sprang ich zu meinem Kleid und warf es mir über den Kopf. Gerade rechtzeitig, denn schon ertönte Harantors Schnaufen auf der Stiege und sein hochroter Kopf schob sich über den Rand des Fletts.
Pustend und prustend erschien auch der Rest von ihm über der Brüstung. Achtlos kickte er ein Trümmerstück des Tischchens beiseite und liess sich auf den Teppich fallen.
„Wein!“ verlangte er nur, schien aber schon etwas ruhiger, als noch einige Minuten zuvor. Gleichzeitig griff er in einen seiner vielen Beutel, die an seinem Gürtel hingen, und liess eine dieser Pfeifenkrautrollen zwischen seinen Fingern entstehen.
Er wusste, wie sehr ich den Gestank verabscheute, den er damit verbreitete, aber dies war nicht der rechte Augenblick, um auf meiner Meinung zu beharren. So ver-suchte ich nur, ihn weiter, so gut es ging, zu besänftigen, und öffnete ohne ein Wort die Truhe im Ankleidezimmer. Ich entnahm ihr zwei Flaschen Kräuterwein und stellte sie vor ihm auf den Boden. Dann suchte ich noch nach zwei Bechern. Inzwi-schen hatte Harantor schon eine Pfeifenkrautrolle verbraucht und eine der beiden Fla-schen entkorkt. Er nahm einen tiefen Zug.
„Aah, das tut gut“, stellte er fest.
Den einen Becher füllte er auf und reichte ihn mir, den anderen legte er achtlos ne-ben sich. Während er zu einem weiteren langen Schluck aus der Flasche ansetzte, setzte ich mich ihm gegenüber. Ich nippte etwas an dem Wein. Ganz unvermittelt setzte er die Flasche ab, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und sah mich erwartungsvoll an.
„Wird die gnädige Frau jetzt endlich geruhen, mir zu erzählen, was vorgefallen ist?“
Der Sarkasmus, der in seiner Stimme mitschwang, war beissend. Die Röte schoss in mein Gesicht. Ich stellte den Becher ab und begann umständlich meinen Rock zu ordnen, als könne ich so das Unvermeidliche noch etwas hinauszögern. Er räusperte sich. Erschreckt verschränkte ich die Hände in meinem Schoss und suchte - suchte nach einem Anfang. Es war Harantor, der laut und ungeduldig erneut das Schweigen brach.
„Jetzt red’ endlich!“
Ich sah auf, und die Worte sprudelten aus mir heraus.
„Er hat ihn erschossen. Ein Pfeil... durch... durch den Hals.“
Das Blut, ich erinnerte mich an das viele Blut. Dass ein solch kleiner Körper soviel Blut in sich haben konnte!
Harantor hatte die Flasche abgestellt. Seine mächtige Brust hob und senkte sich in tiefen Zügen, und seine hellgrauen Augen schimmerten in einem gefährlichen Glanz.
„Ich... ich versuchte ihm zu helfen...“ Kalwes Finger, wie sie gezuckt hatten. „Doch es war zu spät. Das Blut... Er war schon tot.“
Jetzt, da das Schlimmste gesagt war, fühlte ich mich leichter. Harantor griff nach seinem Schwert und zog es heraus, langsam und behutsam, als fürchte er, es zu wek-ken. Er beugte sich vor, die funkelnde Klinge auf mich gerichtet, und bannte mich mit einem glitzerndem Blick.
„Wer war es?“ knurrte er nur. Und als ich ihm über den blitzenden Rand der Klin-ge hinweg in die Augen sah, schauderte mir.
Ich schluckte, nur mühsam konnte ich den Blick von ihm lösen, fast körperlich fühlte ich sein Drängen. Ich erinnerte mich. Ich hörte Kalwes entsetzten Ruf: ‘Sin-gollo, nicht!’ Sah das Mendil fallen und Kalwe, als er darauf zurannte. Den Pfeil, der wie durch Zauberhand in seinem Hals steckte. Blut. Ein Rascheln im Gebüsch, als ich auf das Kind zu hastete. Die Angst, die in mir hämmerte. Und dann der Blick, ge-hetzt, aus dem Dunkel der Bäume, bevor die schlanke Gestalt im Wald verschwand.
Das Geräusch von Stahl auf Stahl schreckte mich hoch. Es war Harantor, der mit langen Bewegungen einen Schleifstein über seine Klinge zog. In seinem Mundwinkel hing eine glimmende Pfeifenkrautrolle, von der feine, graue Asche auf seine Hosen stäubte. Ein leichter Schwindel benebelte mich, liess mich weiter reden. Meine Stimme zitterte leicht.
„Es war ein Mensch. Ein junger Mann. Dunkelhaarig. Sehr schlank. An mehr kann ich mich nicht erinnern.“
Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Immer wieder sang die Klinge, wenn der Schleifstein an ihr entlang fuhr. Gebannt folgte ich Harantors Bewegungen.
Das Mondlicht bahnte sich einen Weg durch das Blätterdach und überzog die Schwertklinge mit silbernen Flammen. Blut... Ich sah das Blut daran, das Blut von Harantors Gegnern. Nur wenige von ihnen lebten noch. Ja, war es nicht das, weshalb ich ihn gerufen hatte?
Neues Blut musste fliessen, um Kalwes und Singollos Tod zu sühnen. Um zu zei-gen, dass niemand ungestraft unseren Frieden stören durfte.
Ich griff nach dem Becher und nahm einen tiefen Schluck. „Töte ihn“, sagte ich und blickte Harantor dabei fest in die Augen.

Harantor
Ich hatte Laurealkas Erzählung gehört. Ein Mensch war es also, aber das war ei-gentlich nicht so wichtig. Ich hatte im Laufe meiner Wanderschaft viele Wesen ge-troffen, und fast alle hatten sie getötet, gemordet und geraubt. Wichtig war, dass sie ihn wiedererkennen würde.
Sie sah mich an und ich erwiderte den Blick. Fest sahen wir uns in die Augen, bis sie schliesslich den Blick abwandte.
Ich liess den Schleifstein ein letztes Mal über die Klinge gleiten und steckte ihn wieder ein.
Ich drückte die Yulepse aus und drehte mir sofort eine neue. Mit erzwungener Ge-lassenheit entzündete ich das Pfeifenkraut, inhalierte den Rauch und stiess ihn wieder aus.
Ich nahm noch einen tiefen Zug aus der Weinflasche und stellte sie mit Nachdruck auf den Boden. Bei dem unerwartet lauten Geräusch zuckte Laurealka merklich zu-sammen.
Laurealka beobachtete mich, ohne mir jedoch dabei in die Augen zu sehen. Sie wurde unruhig und verlagerte ihr Gewicht von einer Seite auf die anderen. Mein Schweigen schien sie zu belasten. Selbst der Wald schien zu schweigen. Ich suchte Laurealkas Blick, aber sie wich mir aus.
„Und?“ stiess sie hervor. „Tötest du ihn?“
Es kam ihr glatt von der Zunge, vielleicht ein wenig zu glatt. Sie wusste nicht, was sie verlangte. Sie konnte es nicht wissen, aber sie würde es lernen müssen, denn das würde nicht der einzige Zusammenstoss mit den Menschen bleiben, und sie musste wissen, was sie verlangte.
Um die Realität kennenzulernen, würde sie mich auf dieser Jagd begleiten. Was bis jetzt eigentlich nur ein vager Gedanken war, verfestigte sich nun, und daraus wurde Gewissheit. Laurealka musste mich begleiten.
Der heisse Zorn war vergangen. Der hervorragende Wein, der beruhigende Rauch des Pfeifenkrauts und Laurealkas Worte hatten ihn vertrieben. An seine Stelle war die kalte Wut, der Wunsch nach Rache getreten.
„Ich werde ihn töten“, kam es ruhig über meine Lippen. „Ich werde ihn spüren las-sen, was er getan hat.“
Sie sah mich an. Mein Gefluche und mein Schreien hatten sie wenig beeindruckt, aber diese Kälte in meiner Stimme liess sie aufhorchen.
Nun war sie es, die meinen Blick suchte. Doch kaum hatte sie mir in die Augen ge-sehen, wandte sie sich auch schon wieder ab.
Sie musste etwas gesehen haben, das ihr Angst machte. Und eben dieser Angst musste sie sich stellen, wollte sie nicht von dem, was kommen konnte, übermannt werden.
„Ich werde Kalwes und Singollos Tod rächen!“ schwor ich mit fester Stimme, und als ich die Namen aussprach, drohte mich die Trauer zu übermannen, doch ich zwang mich dazu, es nicht zu zeigen. Ich durfte es nicht zeigen, ich wollte es nicht zeigen!
Laurealka blickte in ihren Becher, nahm einen kleinen Schluck. Ihre Mundwinkel zuckten.
„Gut“, presste sie hervor.
„Aber du wirst dabei sein. Du wirst mich begleiten auf der Jagd“, sagte ich mit ei-nem Ton in der Stimme, der keinen Widerspruch duldete, obwohl mir klar war, dass sie damit überhaupt nicht einverstanden sein würde. Aber es musste sein. Laurealka konnte nicht erwarten, dass nie wieder ein solches Unglück geschah. Die Realität war nicht das ruhige Leben im Wald.
Einer der wenigen Erinnerungen an Mittelerde, die ich hatte, waren einige ver-schwommene Eindrücke von Lórien. Nur Laurínamardi war nicht Lórien. Die hier versammelte Macht reichte nicht aus, um alles Böse fernzuhalten.
Sie musste ganz einfach mitkommen...
„Nein, das werde ich nicht. Ich... ich kann nicht dabei sein. Ich will es nicht...!“
„Aber du wirst!“ knurrte ich. „Du wirst mitkommen. Du und ich, wir werden den Menschen jagen, ihn bestrafen und einige andere, weniger angenehme Dinge mit ihm anstellen. Und du wirst dir das alles ansehen. Meinst du denn“, fuhr ich fort und ge-nehmigte mir noch einen Schluck Wein, „dass das der letzte Mensch war, der in dei-nen Wald einbricht. Glaubst du das?“
„Nein..., nein, aber ich will mit dem Töten nichts zu tun haben. All das Blut...!“
Sie zitterte am ganzen Körper, als sie die Worte hervorstiess.
Ich ahnte mehr, als ich wusste, dass sie sich in einen Vogel verwandeln wollte, um davonzufliegen und vor den Problemen zu fliehen.
Aber noch bevor sie das tun konnte, warf ich mich vorwärts und prallte gegen sie. Ich riss sie zu Boden, fiel auf sie und spürte ihren bebenden Körper unter mir, spürte mehr als das, aber das interessierte mich im Moment nicht.
„Du musst mitkommen! Du musst lernen damit zu leben, dass selbst in einen Hort des Friedens das Grauen eindringen kann! Du wirst nicht weglaufen!“
Sie lag unter mir und atmete stossweise. Ihrem Gesicht waren Zweifel und Angst, aber auch der Wunsch nach Rache anzusehen, doch sie sah mir nicht in die Augen, während ich ihren Körper auf den Boden des Fletts presste.
„Laurealka, begreif doch...!“

Laurealka
„Ich... ich kann nicht. Die Feierlichkeiten...“, presste ich mühsam hervor. Sein Ge-sicht war so nah, dass mir sein Atem in die Nase stach. Er roch nach Alkohol und Rauch, so dass ich versuchte, jeden unnötigen Atemzug zu vermeiden. Er unterbrach mich grob.
„Schluss mit den Vorwänden. Reden wir endlich vernünftig!“
Er schüttelte mich dabei. Wie hatte ich hoffen können, er könnte diese Ausrede ak-zeptieren. Wie hatte ich überhaupt hoffen können, er würde so handeln, wie ich mir das vorstellte? Ich schluckte mühsam.
„Du begreifst nicht. Du begreifst überhaupt nichts!“ stiess ich schluchzend hervor.
Der Hass, ich hatte den Hass in seinen Augen gesehen, diese kalte, berechnende Wut. Er würde ihn jagen und töten mit absoluter Perfektion und ohne Emotionen. Die hatte er hinter sich gelassen, die konnte er dabei nicht gebrauchen.
Dieser kalte Hass machte mir Angst. Er erinnerte mich an Momente in meinem Leben, die ich lieber vergessen wollte. Dieser Hass und dieser Zorn, auch wenn sie gerechtfertigt sein mochten, waren gefährlich. Sie hatten schon ganze Lande verwü-stet, und ich wusste, dass ich selbst nicht davor gefeit war. Das war es, wovor ich die meiste Angst hatte. Zu ähnlich waren sie dem, was ich heute empfunden hatte.
Tränen liefen über meine Wangen. Ich bemerkte es erst, als ich seinen forschenden Blick sah. Sein Griff lockerte sich.
„Nun. Dann erklär mir, was ich deiner Meinung nach nicht verstehe!“ forderte er mich auf, doch seine Miene war schon wieder entspannter.
„Versteh doch! Ich... ich kann nicht töten. Ich... Es wiederstrebt mir. Ich kann nicht!“ flehte ich.
Er presste mich wieder fester zu Boden und zwang mir seinen Blick auf. „Warum hast du dann nach mir geschickt? Rede!“
„Angaimaite... Der Mörder muss gefunden werden. Aber...“, verstand er denn nicht, dass ich hierbleiben musste? Doch er unterbrach mich aufs neue.
„Wenn du glaubst, dass ich alleine auf die Jagd gehen werde, dann irrst du. Entwe-der du gehst mit, oder ich werde wieder gehen. Aber denk nicht, dass ich danach noch einmal kommen werde, wenn du nach mir rufst. Wenn ich dann gehe, dann auf Nimmerwiedersehen.“
Er stiess mich von sich und liess mich los. Langsam erhob er sich, um sich zurück zu seinem Platz zu begeben. Er griff zur Weinflasche, setzte sie an und trank sie in einem Zug leer, dabei fixierte er mich, als wolle er die Antwort aus meinen Augen herausziehen.
Er meinte es ernst. Soviel war mir klar. Ich stand auf. Nach ein paar Schritten stand ich fast am Rande des Fletts. Vor meinen Augen breitete sich das Tal aus. In einigen der Baumwipfel konnte ich das sanfte Licht der Lampen ausmachen. Von weitem hörte ich das Rauschen des Míremistes. Und plötzlich wusste ich, wie sehr ich diesen Flecken Magiras schon liebte. Mit plötzlicher Klarheit wusste ich, ich gehörte hier-her.
Ebenso sehr, wie ich Laurínamardi nicht mehr missen konnte, liebte ich auch die Elben, die hier lebten. Ich war ihre Herrin; sie vertrauten mir. Selbst Angaimaite. Nur weil der Schmerz ihn daran hinderte, selbst zu handeln, hatte er so gesprochen. Ich musste tun, was er von mir erwartete. Und wenn dies hiess, dass ich Harantor bei der Jagd begleiten musste. Ich drehte mich um und sah ihn an.
„Du hast gewonnen. Ich komme mit.“
Jetzt fühlte ich mich wieder sicher, auch wenn meine Tränen noch nicht versiegt waren. Aber die Entscheidung war gefallen.
Er kniff die Augen zusammen und zog fest an dieser Pfeifenkrautrolle, die er sich schon wieder gedreht hatte. Ich glaubte etwas wie ein süffisantes Grinsen auf seinem Gesicht erkennen zu können, doch der Eindruck verwischte sich rasch wieder. Er raffte seine Sachen zusammen und stand auf.
„Worauf warten wir noch?“ fragte er in geschäftigem Tonfall.
„Dürfte ich mich vielleicht noch umziehen?“ fragte ich ihn, schon wieder leicht ge-reizt durch sein Benehmen.
Ich sah es ihm an, dass er eine unanständige Bemerkung auf den Lippen hatte, doch er verkniff sie sich aus unerfindlichen Gründen. Ich liess ihn einfach stehen und ging, ohne eine weiteres Wort zu verlieren, an ihm vorbei in den benachbarten Raum, wo sich meine Kleider befanden.
Ich zog mein Kleid aus und zog meine rehbraunen Lederhosen an, dazu ein wei-sses Hemd mit Schnürung und eine Weste aus Leder. Sie war mit Fransen, Stickerei-en und allerlei Tiergaben versehen wie Federn, Muscheln und Schneckenhäuser. Über meine bestrumpften Füsse zog ich die hohen Lederstiefel. Meine Haare flocht ich mit einigen Bändern zu einem Zopf, damit sie mich nicht behinderten. Als letztes gürtete ich Helkehwesta, mein Schwert, und suchte meine Ausrüstung für den Wald zusammen.
Erst als ich fast fertig war, bemerkte ich den Schatten, den ich auf das helle Tuch warf, das ich als Raumtrennung benutzte. Nun, es war mir egal. Er hatte sowieso schon mehr gesehen, als er sollte. Ich sah mich noch einmal um, dann löschte ich die Lampe, nahm das Tuch beiseite und trat zu Harantor. Ich wartete schon auf das lü-sterne Grinsen in seinem Gesicht, doch was ich sah, waren vor Staunen weit aufgeris-sene Augen.
Man konnte ihn also doch noch überraschen! Das wiederum freute mich diebisch.

Harantor
Ich begann mich in dem Moment zu ärgern, in dem ich Laurealkas amüsiertes Ge-sicht sah, und konnte gerade noch das erstaunte Grunzen unterdrücken, als sie in der Ledergewandung vor mir erschien.
Sie hätte nicht mitbekommen sollen, wie sehr mich ihre Aufmachung in Erstaunen versetzte. Welch Ärger!
Mein Ärger verflog allerdings, als ich das Schwert an ihrer Seite erblickte. Das war ein Rapier, wie ich es bisher nur bei Stutzern und Gecken an grossen Adelshöfen ge-sehen hatte. Ein solches Schwert war nicht unbedingt dafür geeignet, Leute umzu-bringen. Ich prustete los.
„Was ist denn das für ein Zahnstocher an deiner Seite?“ entfuhr es mir, und ich lachte dabei abschätzig.
„Das ist Helkehwesta, mein Schwert!“ behauptete sie im Brustton der Überzeu-gung. „Es ist alt und wertvoll...“
„...und ein lächerliches Stückchen Stahl, das dazu benutzt werden kann, das Schwarze unter den Fingernägeln hervorzukratzen. Das nennst du Schwert! Hier das ist ein Schwert.“
Dabei hob ich den Knochenspalter, ein gut dreieinhalb Fuss langes Schwert mit ei-ner imposanten Klinge.
Fast entsetzt sah sie mich an. Offensichtlich war Helkehwesta ihr ganzer Stolz und ihre einzige Waffe für den Nahkampf.
„Du solltest das Ding Haarnadel nennen, denn es hat die richtige Grösse, um eine widerspenstige Frisur zu bändigen, aber einen Menschen aufzuspiessen, ist mit dem Stück Draht kaum zu schaffen.“ Ich grinste über das ganze Gesicht und freute mich über die Retourkutsche und die Ablenkung von meiner Undiszipliniertheit.
„Barbar!“ fauchte sie mich an und löschte die letzte Lampe. „Ich habe mit Hel-kehwesta schon so manchen Strauss gefochten.“
Ich lachte nur und stieg die schmale Stiege hinab, wohl darauf achtend, nicht nach unten zu sehen.
„Komm schon!“ rief ich ihr zu.
Sie folgte mir dicht auf und in einem Tempo, das mich ins Schwitzen kommen liess. Ein paar Mal hätte sie mir fast auf die Hacken getreten. Der Abstieg war eher eine Jagd, und ich hatte Mühe, ihr zu entkommen. Es schien mir, als wollte sie sich für die Bemerkungen über ihr Käsemesser revanchieren.
Immerhin hatte die Hatz über die Treppen den Vorteil, dass ich mich meiner Hö-henangst nicht hinzugeben brauchte, und wir so schnell als möglich wieder festen Boden unter den Füssen hatten.
Wir wurden erwartet. Einige der in Laurínarmardi lebenden Elben erwarteten uns. Ernste Gesichter sahen uns an. Erwartung spiegelte sich darin ebenso wider wie Trauer, Zorn und Hass, aber auch die Unfähigkeit, die Rache selbst zu vollziehen. Zu friedlich waren sie geworden. Der Vergleich mit einer Herde Schafe drängte sich mir förmlich auf.
„Ich fordere den Kopf des Mörders!“ rief eine mir bekannte Stimme aus dem Hin-tergrund.
Innerlich gefror ich, vor dieser Begegnung hatte ich mich fast gefürchtet. Es war Angaimaite, der Vater Kalwes, ein Halbelb, der sich für den Weg der Eldar entschie-den hatte.
Seine Gestalt schob sich in den Lichtkreis. Er war fast so kräftig wie ich. Seine dunklen Augen glühten fast schon im Wahn, sein Sohn war sein ein und alles gewe-sen.
Er starrte mich an, sein Blick bohrte sich förmlich in meinen.
Ich hielt stand, und schliesslich gab er auf und sah zu Boden. Gemurmel der Um-stehenden wurde laut.
Meine Reaktion war nicht so ausgefallen, wie sie es sich erhofft hatten. Das halbe Dutzend Elben hatte wohl eine flammende Ansprache erwartet, aber ich sah sie nur an.
„Sorg dafür“, wandte ich mich an Laurealka, „dass wir Proviant haben, denn wir können uns nicht mit Beeren sammeln und derJagd aufhalten!“
Laurealka nickte, und eilig verschwand eine Elbin, die ich als Earel kannte, wohl um Proviant zu holen.
„Vegiss nicht den Wein!“ rief ich ihr nach.
Laurealka richtete ihr Augen resignierend himmelwärts. Ich kümmerte mich nicht weiter um sie. In ihren Augen war ich ein Barbar und würde es auch bleiben, egal was ich tat. Das war, was viele unseres Volkes in mir sahen - einen ungehobelten Klotz, der der Eldar nicht würdig war.
„Ich werde“, wandte ich mich den anderen zu, „den Mörder jagen, und eure Herrin wird mir helfen.“
Die Mitteilung hatte den gewünschten Erfolg. Alle Augen richteten sich auf die links von mir stehende Laurealka und ich spürte, wie sie sich innerlich verkrampfte...

Laurealka
Ich fühlte Kanyahóns Blick auf mir ruhen.
„Du willst mitgehen?“ Das Entsetzen stand in sein Gesicht geschrieben.
Ich sah mich um. Sah die Lampen in den Bäumen, die Elben, die ich liebte, das si-chere Heim, das ich nun verlassen wollte. Und ich sah Angaimaites glühende Augen, Lómelindes leeren Blick, die nie wieder lachen würde. Ich musste mitgehen, ich war es ihnen schuldig.
„Ich muss“, erwiderte ich einfach.
Kanyahón sah mich zweifelnd an.
„Ich dachte Harantor...“, hub er an.
„Du hast gehört, was sie gesagt hat. Sie geht mit. Und Schluss!“ Harantor unter-brach ihn rüde.
„Wer wird sich um die Feierlichkeiten kümmern?“ gab Aldamir zu bedenken.
Hilfesuchend sah ich Kanyahón an. Sonst begriff er alles. Warum diesmal nicht?
„Du wirst es tun, Aldamir“, wies ich sie an.
Es schien mir einen Augenblick, als wolle sie protestieren. Doch da schob sich Kanyahón dazwischen, drängte sie beiseite und redete auf sie ein. Er nickte mir zu. Endlich hatte ich die Unterstützung, die ich mir von ihm erwartet hatte.
Harantor neben mir wurde ungeduldig. Schon steckte er sich wieder eine dieser grässlichen Pfeifenkrautrollen mit einer der Fackeln an. Wie um sich die Zeit zu ver-treiben, zog er sein Schwert und wog es in der Hand. Prüfend liess er es durch die Luft sausen, um dann den Kopf zu schütteln. Er nahm die angebrannte Rolle aus dem Mund und warf sie zu Boden. Sie austretend ging er zu seinem Pferd, das Taurion inzwischen wieder herbeigeführt hatte, und nahm ein anderes Schwert herab.
Ich sah genauer hin. In der Tat, er hatte vier Schwerter mitgenommen. Als ob eines nicht genügen würde, um ein armseliges Menschenleben auszulöschen! Was war er doch für ein unmöglicher Elb!
Nachdem er alle vier einer genauen Prüfung unterworfen hatte, konnte er sich tat-sächlich für zwei entscheiden. Er befestigte die beiden Scheiden an seinem Gurt und schien mit seiner Wahl sichtlich zufrieden, da er sich sofort eine neue Pfeifenkrau-trolle drehte. Doch bevor er sie ansteckte, verabschiedete er sich noch von seinem Pferd. Das war wiederum mehr, als ich erwartet hatte.
„Und dass du dich gut darum kümmerst“, bemerkte er noch im Weggehen zu Tau-rion.
Der schluckte trocken. Anscheinend dachte er an seine brennende Wange. Das Warten wurde ungemütlich. Ich wollte weg von hier. Ich konnte die traurigen Ge-sichter nicht mehr ertragen. Fast war mir Harantors Toben und Poltern lieber als die-ser stille Schmerz.
Endlich - nach einer Ewigkeit, so schien es mir zumindestens - kam Earel mit dem Proviant zurück. Sie drückte mir den Packen in die Arme und umarmte mich. Tränen hingen in ihren Augen.
„Namárië“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich erwiderte ihre Umarmung heftig und lan-ge. Dann riss ich mich los. Der Schmerz wollte wieder hochsteigen.
„Können wir jetzt gehen?“ fragte Harantor lapidar. Manchmal war er auch hilf-reich.
Ich nickte und reichte ihm wortlos den Packen mit dem Proviant. Ohne ein weite-res Wort des Abschieds verliessen wir den Lichtkreis der Fackeln und wandten uns den tiefen Schatten der Bäume zu. Ich fühlte die Blicke der uns nachblickenden in meinem Rücken und wollte nur fort von hier. Fort von dem fordernden Glühen in Angaimaites Augen.
„Wir gehen dorthin, wo es geschah“, sagte Harantor. „Und nehmen die Spur auf. Menschen neigen dazu, eine Menge davon zu hinterlassen.“
Ein verstecktes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
Ich nickte müde. Im Moment war ich dankbar, dass er hier war. Und doch... Dieses kalte Glitzern in seinen hellen Augen machte mir Angst. Ich sah den Tod darin. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt. Erbarmungslose Jagd. Auf wen?



Fortsetzung folgt in Kapitel 2
"Menschenjagd!"

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